Die Gründung von Hirsau

Im Gründungsbericht von Hirsau, den uns der kurz nach 1200 abgeschlossene »Codex Hirsaugiensis« überliefert, begegnen uns die Gestalten jener Zeit, denen Hirsau ihren Ursprung verdanken soll.

»Zur Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen lebte Erlafrid, ein mächtiger und reicher Graf zu Calw, der bei dem Kaiser in großen Gnaden stand, und dessen Sohn Noting zu Karls des Großen Zeiten Bischof von Vercelli geworden war. Nachdem derselbe seiner Kirche mehrere Jahre mit allem Eifer vorgestanden, fühlte er ein großes Verlangen, sein Vaterland wieder einmal zu besuchen. Er wollte aber dieses nicht tun, ohne seiner Heimat ein ansehnliches Geschenk mitzubringen, wodurch dieselbe berühmt werden könnte. Nicht lange zuvor hatte er auf anhaltendes Bitten von dem Erzbischof zu Mailand den Körper des heiligen Aurelius, eines ehemaligen Bischofs zu Reditia in Armenien, der zu Mailand im Jahre 383 gestorben war, erhalten. Diesen brachte er von Mailand nach Vercelli und ließ ihn in einem kostbaren Mausoleum beisetzen. Diesen Schatz nun gedachte er statt eines Ge­schenks in sein Vaterland mitzunehmen, doch wollte er solches nicht ohne Ein­willigung des Heiligen tun.«

Und nun umkleidet die Legende die weitere Erzählung: »Noting rief deshalb den heiligen Aurelius selbst um Rat an und schlief hierüber bei seinem Grabe ein. Da erschien ihm der Heilige im Traum und sprach: ,Noting, Du Diener Gottes, ich bin bereit, mit meiner sterblichen Hülle in Deine Heimat zu reisen. Aber ich stelle eine Bedingung: Du und die Deinen müssen an der Stelle, wo mich ein Blinder anruft und ich diesen Blinden sehend mache, ein Kloster bauen, das auf meinen Namen geweiht sein soll 1 .«

In derselben Nacht, so nimmt der Bericht den historischen Faden wieder auf, öffnete Noting den Sarg des Heiligen, trug dessen Gebeine, ohne daß es jemand wußte, in seine Kammer, schloß das Mausoleum wieder zu und verübte einen frommen Betrug: er ließ die Bewohner von Vercelli lange Zeit bei der Meinung, der Heilige sei im Mausoleum noch vorhanden. »Sodann machte er die nötigen Anstalten zu seiner Reise, legte die Reliquien auf sein Saumroß und brachte sie

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