Karl J. Mayer ·„Zu neuer Blüte empor“„Drei-Kaiser-Jahr“. Im Frühjahr 1888 starb der91-jährige Kaiser Wilhelm I, nach nur 99 Tagenals Regent verschied sein Sohn, Kaiser FriedrichIII. Nachfolger auf dem Kaiserthron wurde dessenSohn, der nunmehrige Kaiser Wilhelm II. Im Jahr1888 war es noch nicht absehbar, aber mit diesemjungen, ungestümen, charakterlich schwierigenKaiser machte sich Deutschland auf, sich weltpolitisch einen„Platz an der Sonne“ zu erkämpfen.In Württemberg blieb auch im kraftstrotzenden,oft überheblichen Reich12alles etwas behäbiger,wie der Biograph von Emil Molt, dem Begründerder Zigarettenfirma Waldorf-Astoria und derWaldorf-Schulen, jüngst feststellte.13Emil Moltist für Calw insofern eine interessante Figur, als erzwischen 1891 und 1894 bei Kaufmann, Stadtrat,Turner und Feuerwehrkommandant Emil Georgiieine Lehre absolvierte und darüber ausführlicheErinnerungen verfasste, die zu lesen jedem zuempfehlen ist, der sich für das lokale Geschehenin Calw im späten 19. Jahrhundert interessiert.14Calw war damals nicht Deutschland. Alles, wasso glänzend, hektisch, überdimensioniert imDeutschen Reich sich entwickelte, das betrafauch das Königreich Württemberg als Teil diesesReichs. Aber, wie erwähnt, hier war alles etwasgedämpfter, weniger aufgeregt, sozusagen eineNummer kleiner, ohne die Radikalität der politischen Fronten und die Spannungen zwischenKlassen oder Konfessionen, die in den nord- undwestdeutschen Ländern spürbar waren. In Württemberg blieb man – so die wohlwollendeAnsicht vieler Landeshistoriker – politisch undkonfessionell liberaler, toleranter. Dass es imEinzelfall aber keineswegs so tolerant zuging unddie negativen Auswirkungen dieser allgemeinhektischen Zeit für die Menschen durchausspürbar waren, wird dabei gerne verschwiegenoder gar nicht erst wahrgenommen. Wir werdeneinige Beispiele dafür aus Calw aufgreifen.Evangelische KircheTurner, Revolutionär, Feuerwehrkommandant, Gemeinderat und erster Spezereihändler am Ort: Emil Georgii, eineder markantesten Calwer Persönlichkeiten der zweitenHälfte des 19. Jahrhunderts.Nehmen wir nun das erste der ausgewähltenThemen etwas näher in Augenschein: Die städtische Führungsschicht, genauer gesagt einenwichtigen Teil von ihr: die evangelische Kirche.Im Jahr 1880 hielt Theodor Haering, der –neben dem Dekan – zweite Stadtpfarrer, eineRede zur zehnten Wiederkehr des deutschenSieges in der Schlacht von Sedan.15Haering hatteoffenbar bemerkt, dass die Calwer nicht besonders engagiert waren, wenn es darum ging, diesenTag, der symbolhaft für die Einigung der Deutschen im neuen Reich stand, zu feiern. Haeringforderte seine Zuhörer auf, allen Zwist hinter deneinen Gedanken zurückzustellen: Das Vaterland.Württembergs Farben seien, so Haering, ambesten gehütet unter dem Adler des Reiches.Auch Stadtschultheiß Hermann Haffner(imAmt seit 1884) stellte sich, nachdem er im Jahr121