Karl J. Mayer ·Zu neuer Blüte empor Ebenfalls im Jahr 1888 erschien das Bändchen Geschichte der Stadt Calw von Paul Friedrich Stälin. 4 Stälin stammte aus Calw und war ange­sehener Archivar und Landeshistoriker. 5 Das Büchlein war eine Auftragsarbeit, der sich Stälin rasch und routiniert entledigte. 6 Immerhin war Stälin das nicht zu Übersehende nicht entgangen: Dass nämlich Calw seit Beginn des 19. Jahrhun­derts einen steten wirtschaftlichen Niedergang erlebt hatte. 7 Und so schrieb Stälin zu Beginn seiner Stadtgeschichte, Calw einst das Kleinod Württembergs, das man mitunter auchKlein­Venedig genannt habe beginne gerade jetzt, nach Überwindung mancher ungünstiger Ver­hältnisse,wieder kräftiger emporzublühen. 8 Im Rückblick kann man sagen, dass es die Stadt seit den späten 1880er Jahren tatsächlich schaffte, die schwersten wirtschaftlichen Pro­bleme zu überwinden, begünstigt durch einen reichsweiten Aufschwung. Im Pfarrbericht von 1888 jedenfalls wurde festgestellt, dass die wirt­schaftliche Situation sich im Vergleich zu dem Tiefpunkt der 1870er Jahre langsam wieder stabilisiere. 9 Man höre, so der Calwer Dekan Paul Braun als Verfasser des Pfarrberichts, zwar Klagen über die Schwierigkeit des Erwerbs, also Arbeitsmangel. Aber die Zahl der Bankrotte von Geschäften(womit wohl nicht nur der Einzelhandel gemeint war, sondern auch Hand­werksbetriebe) nehme ab. Wer gerne und gut arbeite, finde in Calw sein Brot. Die wirtschaftliche Situation scheint sich auch danach weiter gebessert zu haben. Denn 1891 sprach der Pfarrbericht davon, dieErwerbsver­hältnisse seiennicht ungünstig, da die Fabriken denen, die arbeiten wollen reiche Gelegenheit darbieten. 10 Besonders die Heim­arbeit sei stark ausgeprägt. Andererseits würden aus vielen selbstständigen Gewerbetreibenden nach und nach Verkäufer von Fabrikerzeugnis­sen oder gleich Fabrikarbeiter. Der Aufschwung hatte also auch durchaus seine Schattenseiten, nämlich die Deklassierung vieler Mittelständler, was diesoziale Frage, auf die noch einzugehen sein wird, verschärfte. Aber Wohl und Wehe einer Stadt werden nicht durch die wirtschaftlichen Fakten allein bestimmt. Was spielte, neben dem reinen Brot­erwerb, neben Gewinn und Verlust, sonst noch eine Rolle in Calw am Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert? Dieser Frage soll an drei Themen­bereichen nachgegangen werden: Zunächst wird die am Ort eindeutig dominierende evangelische Kirche, die die Mentalität und politische Hal­tung des größten Teils der Bevölkerung stark beeinflusste, in den Blick genommen. Sodann wird auf die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark an Bedeutung gewinnende soziale Frage, das Aufkommen einerneuen Klasse von politisch aktiven Arbeitern in einer sich ändernden Erwerbs- und Berufswelt einge­gangen. Und drittens wird danach gefragt, wie sich der Alltag in jenen Jahren des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zu verän­dern, zu beschleunigen begann und welche Folgen dies für die Menschen hatte. Andere wichtige Bereiche, wie etwa Politik, Kul­tur, Demographie, Bildung, Verwaltung usw. bleiben hier weitgehend unberücksichtigt. 11 Womöglich geben die folgenden Ausführungen dennoch einen Eindruck der Stadt in jenen bedeutsamen Jahren zwischen den Jahrhunderten. Deutsches Reich und Königreich Württemberg Zunächst ein kurzer Blick auf die Rahmenbedin­gungen, in denen sich Calw in jenen Jahren entwickelte. Im Jahr 1871 wurde in Versailles das Zweite Deutsche Reich aus der Taufe gehoben. Die Reichsgründung hatte zunächst eine Art von Euphorie hervorgerufen, auch in Württemberg. Doch diese Euphorie wurde kurz danach stark gemindert, als die sogenannteGründerkrise zu einem starken und langwierigen wirtschaftlichen Einbruch in Deutschland führte. Ein Einbruch, der besonders auch den Textilbereich traf und damit einen der Hauptgewerbezweige der Stadt Calw. Das Jahr 1888 war für das Deutsche Reich bedeutend. Es ging in die Geschichte ein als das 120