Karl J. Mayer ·Zu neuer Blüte empor Calwer Oberklasse: Kaf­feekränzchen der Fami­lien Schütz und Zahn im Reichertschen Haus, dabei der Fabrikant Karl Schmid(3. von links). 1888 in den Landtag gewählt worden war, vorbehaltlos hinter das Reich. 16 Die Spitzen von Kirche und Stadtverwaltung waren sich in der Reichstreue einig. Dennoch: Überschäumende nationale Begeiste­rung war zehn Jahre nach der Reichsgründung im urwürttembergischen Calw wohl eher die Ausnahme und musste immer wieder neu ange­facht werden. Aber, wie Haerings Rede zeigte, die württembergische evangelische Geistlichkeit stand hinter dem jungen Reich und machte regelrecht Propaganda dafür. 17 Das ist weiter kein Wunder, denn sowohl das Deutsche Reich insgesamt als auch das Königreich Württemberg ruhten auf dem Bündnis von Thron und(evan­gelischem) Altar. Katholiken, deren oberste Instanz, der Papst, jenseits der Berge saß(ultra­montan), wirkten hier eher störend, fortschritts­verhindernd, fast sektiererisch und sie wurden von Reichskanzler Bismarck im sogenannten Kulturkampf regelrecht zu Staatsfeinden abge­stempelt, die die Eigenständigkeit der katho­lischen Kirche im neuen Reich wahren wollten und so zur Gefahr für die Einigkeit dieses Reiches wurden. 18 Wie stand es konkret um das kirchliche Leben in Calw zum Zeitpunkt der Einweihung des Kirchen­neubaus? Die Teilnahme an den sonntäglichen Vormittagspredigten war, so der Pfarrbericht für die Jahre 1885–1887, befriedigend. 19 Der Besuch der nachmittäglichen Gottesdienste bzw. der Bibelstunden war bei den männlichen Gemeinde­gliedern hingegen eher schwach. Eine Gleichgül­tigkeit gegenüber dem Wort Gottes mache sich jedochnicht gerade breit. Sie, die Gleichgültig­keit, sei aber in Arbeiterkreisen durchaus vorhan­den. Dem Geistlichen stünden die Calwer ach­tungsvoll gegenüber. Das Familienleben sei im Allgemeinen friedlich; dem Pfarrer waren nur wenige gänzlich zerrüttete Ehen bekannt. Nur ein Fall vonAsotie, also Genuss- und Verschwen­dungssucht, war akut; darum kümmerte sich die Kirche gerade im direkten Gespräch. Im Pfarrbe­richt aus dem Jahr 1891 konnte Dekan Braun stolz feststellen, bezüglich des kirchlichen Lebens wie auch bezüglich des sittlich-religiösen Standes könne die Kirchengemeinde Calw zu den besten des Landes gezählt werden. 20 Das positive Verhältnis der Calwer zur evangeli­schen Kirche sei wohl, so Dekan Braun, ein Erbe 122