Klaus Pichler · Zwei Württemberger im Ersten Weltkrieg gestaffelt von der holländischen Grenze im Nor­den bis zur Schweizer Grenze im Süden, sollten die deutschen Streitkräfte nach Art einer Drehtür im Norden vorstoßen, während im Süden der Plan ein hinhaltendes Zurückweichen der 6. und 7. Armee bis zum Rhein vorsah. Taktischer Sinn war, die Verlagerung der gegnerischen Haupt­kräfte in einen aus französischer Sicht verlocken­den und Erfolg versprechenden Vorstoß im Bereich Elsass-Lothringen zu erreichen. Damit wäre dem rechten deutschen Flügel ein zügiger Vorstoß nach Mittelfrankreich ermöglicht, wonach durch einen Südschwenk des gesamten rechten Flügels die französischen Streitkräfte vom Hinterland abgeschnitten und zu einem raschen Frieden gezwungen werden sollten. Der Haken dieser Taktik lag darin, dass die erforderliche Massierung deutscher Truppen davon abhing, ob ein Zweifrontenkrieg vermieden und der Plan konsequent eingehalten werden konnte. Ein Angriff durch das neutrale Belgien und somit ein weiterer Kriegsgegner wurde dabei als unvermeidlich in Kauf genommen. Nachdem der Krieg bei allen Akteuren, insbesondere in den beiden Kaiserreichen, als unvermeidbar erschien, glaubte sich die deutsche Heeresleitung gezwun­gen, eine Entscheidung im Westen herbeiführen zu müssen, bevor die zur Entente gehörenden Russen zu einem entscheidenden Eingreifen in der Lage seien. Außerdem hatte man ja Österreich­Ungarn auf seiner Seite, das im Osten den Rücken freihalten sollte. Doch die österreichisch-unga­rischen Kräfte gerieten nach Anfangserfolgen rasch in Schwierigkeiten. Eigentlich fehlte es den Öster­reichern an allem: der Militärführung an strate­gischem Weitblick, dem Offizierskorps an Fähig­keit zu entschlossenem taktischen Handeln, der Truppe an Transportkapazität und Ausrüstung. Zwar ließen sich die schon Mitte August 1914 und somit rascher als erwartet in Ostpreußen anrückenden beiden russischen Armeen durch die 8. Deutsche Armee unter dem Gespann Hinden­burg-Ludendorff aufhalten: Die Samsonow-Ar­mee konnte durch einen zurSchlacht von Tan­nenberg(somit einer Art Revanche für die schwere Niederlage des Deutschen Ordens gegen die vereinigten Heere Polens und Litauens in der Schlacht bei Tannenberg von 1410) benannten und später hochstilisierten Zangenangriff vernich­tend geschlagen werden. Die zweite angreifende russische Armee unter Rennenkampff musste sich nach einer massiven Niederlage in der Herbst­schlacht an den masurischen Seen zurückziehen. Doch auch die zweite Voraussetzung für einen Erfolg des Schlieffen-Plans trat nicht ein: Zwar ließ der französische Oberbefehlshaber Joffre seine Hauptkräfte zunächst wie von deutscher Seite richtig eingeschätzt am französischen rechten Flügel, also im südlichen Elsass-Lothrin­gen zum Angriff vorstoßen. Aber die Gegenwehr der deutschen 6. und 7. Armee war so effektiv, dass diese anstelle wie vorgesehen hinhaltend zurückzuweichen, um dadurch die Franzosen in die Falle zu locken, ihrerseits zum Gegenstoß antraten. Dieser schwere taktische Fehler ist aus der Situation heraus zwar nachvollziehbar und stärkte das Überlegenheitsgefühl vor allem der noch recht selbständig agierenden Führungen der beiden Armeen; im Resultat wurde damit jedoch das genaue Gegenteil erreicht: Der französische Rückzug im Süden stärkte die Mitte der franzö­sischen Frontlinie und deren linken Flügel. Die schwerwiegendste Schwäche des Schlieffen­Plans scheint jedoch vor allem darin gelegen zu haben, dass er Kriegsziele offen ließ. Münkler hat diese Facette sehr detailliert beleuchtet. Zwar standen auf deutscher Seite Annexionsgelüste nicht im Vordergrund. Zu Kriegsbeginn ver­sprach man sich vor allem die Stabilisierung des Wiederanschlusses von Elsass-Lothringen, dem Hauptergebnis des deutsch-französischen Kriegs von 1870/71. Doch mit den Anfangserfolgen in Ost und West gewannen im Kaiserreich Kreise die Oberhand, die einen Sieg-Frieden mit ausge­dehnten Annexionen vor allem im Osten als einzig akzeptables Ergebnis der bald drückenden Kriegslasten sahen. Vor allem Hindenburg und Ludendorff waren ihre Fürsprecher, aber auch akademische(besonders theologische) und bür­gerliche Kreise. Zwar gab es auch andere, zu Zurückhaltung mahnende Stimmen, zum Bei­64