Karl J. Mayer · Des Herzogs Hirsauer Untertanenarchiv typischen Quellen aufweist: Gemeinderatsprotokolle(für Hirsau erst ab 1830), Kaufbücher, Kirchenpflegrechnungen und die unvergleichlichen Inventuren und Teilungen.Erst der zweite Blick in diesen Bestand offenbarte Besonderheiten. Da auf der Klostermarkung bis 1830 keine bürgerliche Gemeindebestand, sondern – von 1556 bis 1806 – hier einherzogliches Klosteramt seinen Sitz hatte, warenmanche Quellen nicht zu finden, etwa Bürgermeisterrechnungen oder Dorfgerichtsprotokolle.Allein diese Lücken unterstreichen die Tatsache,dass in Hirsau bis weit ins 19. JahrhundertMenschen minderen Rechts lebten, nämlichHintersassen, die unmittelbar einer Art von –wenn man das heutige Äquivalent nehmen will– Landkreisverwaltung direkt unterstanden,eben dem Klosteramt.Die typische soziale, wirtschaftliche und politische Struktur eines schwäbischen Dorfes des18. Jahrhunderts gab es hier also nicht. Dienämlich sah etwas anders aus, als das, was manhier am Schweinbach vorfand: Die Gesellschafteines„normalen“ schwäbischen Dorfes bildetequasi eine Pyramide, die von den Knechten,Mägden, Hirten über die Taglöhner, Handwerker und Bauern bis zum Schultheißen samt Ratund Gericht und dem Dorfgeistlichen nach obenhin immer dünner, dafür aber wohlhabender,zumindest aber politisch bestimmender wird.Erst darüber dann war das angesiedelt, was inHirsau in Form des Klosteramts sofort nach demKuhhirten kam: Das Oberamt, das die typischwürttembergische Einheit von„Stadt und Amt“politisch, finanziell und wirtschaftlich verwaltete.Ein Klosteramt war eine Verwaltungseinheit, diedasselbe für den Bezirk tat, der vor der Reformation aus einem Kloster und seinen zugehörigenDörfern, Höfen und sonstigen Besitzungenbestanden hatte.4Dieser ehemals geistlicheVerwaltungsbezirk wurde nun, nach derReformation,5von einem herzoglichen Beamtengeleitet, nicht mehr vom Abt selbst. Kloster undterritorialer Klosterbesitz waren sozusagen verweltlicht worden. Der„Abt“ oder Prälat standnicht mehr dem Kloster vor, zumindest nicht inweltlichen Dingen. Er hatte lediglich nochgeistliche Aufgaben, wie etwa die Führung derKlosterschule. Er saß zudem kraft Amtes auf derPrälatenbank der Landschaft, dem politischenPartizipations- und Kontrollgremium, mit demdie Landesherren in Württemberg immer wiederin Fehde lagen.Die Bewohner des Klosteramts – also nicht nurdie Hirsauer Hintersassen, sondern auch dieBürger der Klosteramtsorte – durften nicht, wiein weltlichen Ämtern, darauf Einfluss nehmen,wer sie in Stuttgart auf Landtagen und in denAusschüssen vertrat. Die Bewohner der HirsauerAmtsorte durften wenigstens die Zusammensetzung ihrer lokalen Obrigkeit mitbestimmen, alsoSchultheiß, Rat und Gericht. Die Hintersassenrund um das Kloster in Hirsau selbst durftennicht einmal dies; da sie keine bürgerlicheGemeinde bildeten, hatten sie eine solcheDorfobrigkeit auch gar nicht. Die HirsauerHintersassen hatten also doppelt eingeschränktepolitische Rechte: Sie durften weder ihre Vertreter in Stuttgart mit bestimmen, noch sich einelokale Selbstverwaltung geben.In den folgenden Ausführungen soll es darumgehen, diese Untertanen, vor allem die Hintersassen rund ums Klosterareal, etwas genauer zubetrachten. Dabei soll nicht um – relativ leichtzu gewinnende – statistische oder genealogischeErgebnisse handeln, sondern primär darum,diese Untertanen zum Sprechen zu bringen,ihnen Kontur zu geben, einen kurzen, neugierigen Blick auf ihre Lebensumstände zu werfen,sofern dies die Quellenlage erlaubt.Wie der amerikanische Historiker und Kennerdes frühneuzeitlichen Württembergs, DavidWarren Sabean, schrieb, haben wir bis weit ins19. Jahrhundert hinein kaum Quellen zur Hand,in denen sich das„einfache Volk“ äußerte.6Das,so Sabean, erwecke den falschen Eindruck, alshabe dieses Volk die Geschehnisse schweigend10