Karl J. Mayer ·Zu neuer Blüte empor pathie und Naturheilkunde den Schweizer Naturheilarzt Simoni zu einem Vortrag über Ursachen und Bekämpfung der Nervosität ein. 57 Simoni führte die um sich greifende Nervosität vor allem darauf zurück, dass zwar die Vorfahren noch einen gesunden Magen gehabt hätten, die modernen Menschen hinge­gen unter Verdauungsstörungen undUnregel­mäßigkeiten litten. Die Folgen hiervon nenne man anders als früher heutzutage Nervosität. Diese von Verdauungsstörungen ausgehende Nervosität befalle alle Stände und Geschlechter. Die einzige Heilung sei die Rückkehr zur Natur und zu Atemgymnastik, vor allem müsse man wieder durch die Nase atmen. Dadurch werde die Blutbildung gefördert und die Nervosität in Schach gehalten. Schlimm seien zudem die Federbetten, die man verbrennen solle, zusam­men mit denTeufelspanzern, den Korsetts. Simoni riet zu Kamelhaardecken und frühem Schlaf am Abend. Auch zu Bädern, nach denen man jedoch nicht wieder einschlafen dürfe, da dies die Nervosität nur befördere. Auch empfahl er vormittägliche Sonnenbäder, ohne daran zu denken, dass dies im eher pietistisch ange­hauchten Calw vielleicht nicht wie von Simoni prophezeit die Volkskraft wieder stärken würde, sondern als gottverlassene Faulheit aus­gelegt werden könnte. Aber offenbar gefiel den Calwern die Aussicht auf frühes Schlafengehen unter Kamelhaardecken und morgendliches Sonnenbaden, denn sie bedachten die Ausfüh­rungen Simonis mit stürmischem Applaus. Der Begriff Neurasthenie ist heutzutage im Übrigen kaum mehr in Verwendung. Die Symp­tome, die man damals beschrieb: Ermüdung, Reizbarkeit, Angstzustände und Konzentrations­störungen, werden heute ebenfalls als Mode­krankheit gerne alsBurnout diagnostiziert. Beide, die historische Neurasthenie wie auch das aktuelle Burnout-Syndrom, haben sehr viel zu tun mit dem beruflichen Alltag, der die Menschen belastet. Es scheint fast so, als habe sich in über hundert Jahren wenig geändert. Die Leiden der Menschen aufgrund des hektischen Arbeitsalltags sind heute zwar erkannt; eine durchgreifende Linderung jedoch nach wie vor in weiter Ferne. Schlussbetrachtung Zu neuer Blüte empor? lautet der Titel der hier vorgestellten Gedanken über Calw am Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der Blick auf die Das Sanatorium Römer in Hirsau, im Jahr 1900 u. a. alsHeilstätte für Nervenkranke ge­gründet. 131