Denis Drumm · Das Hirsauer Geschichtsbild im 12. Jahrhundert zu Beginn des 12. Jahrhunderts die Vergangen­heit zu Pergament brachten, dann basierten ihre Ausführungen auf dem, was sich als mündliche Tradition erhalten hatte, auf dem, was sie tagtäglich erlebten und vor allem auf dem, an was sie ehrlich und unvoreingenommen glaubten. Aus diesem eigenartigen Gemisch an Erzähltem, Erlebtem und Geglaubtem mussten die Mönche Kraft schöpfen, ihr Gottvertrauen stärken und ihrem eigenen Dasein Sinn verlei­hen. Daher finden wir in den überlieferten Texten eine selektive Auswahl an Schilde­rungen, Beschreibungen und Identifikationsfi­guren, die diesem Zweck dienen sollten. Doch was diesen Zweck erfüllen konnte, war keines­wegs in Stein gemeißelt, es wandelte sich, genauso wie Ansichten über gottgefälliges Leben und die Bewertungen von Personen und Ereig­nissen sich im Laufe der Zeit wandelten. Und dies nicht, weil sich etwa die Vergangenheit, über die berichtet wurde, verändert hätte, son­dern weil die Gegenwart des Schreibenden und somit seine Vorstellungswelt eine andere war. Wenn es also kein einheitliches Hirsauer Ge­schichtsbild gab, sondern eher verschiedene Formen von Geschichtsdeutung zu unterschied­lichen Zeiten, dann haben wir es eben nicht mit Unwissenheit oder Fälschung zu tun, sondern wir beobachten quasi die Mönche unterschied­licher Zeiten bei ihrer ganz individuellen Suche nach ihrem Sitz im Leben. Der heutige Histo­riker kann dies nur im Ansatz erkennen und nur dort, wo ihm die Mönche etwas hinterlassen haben. Quellen und Literatur Bloch, Raissa: Die Klosterpolitik Leos IX. in Deutschland, Burgund und Italien, in: Archiv für Urkundenforschung 11(1930), S. 176-257. Brändle, Stefan: Marine Le Pens entlarvendes Ge­schichtsbild, in: Der Standard, 11.04.2017 (http://derstandard.at/2000055789854/Marine-Le­Pens-entlarvendes-Geschichtsbild). Clauss, Martin: Die Untervogtei: Studien zur Stell­vertretung in der Kirchenvogtei im Rahmen der deutschen Verfassungsgeschichte des 11. und 12. Jahrhunderts, Siegburg 2002. Dahlhaus, Joachim: Urkunde, Itinerar und Festka­lender. Bemerkungen zum Pontifikat Leos IX., in: Bernard Barbiche/Rolf Große(Hgg.): Aspects dip­lomatiques des voyages pontificaux, Paris 2009, S. 7-30. Drumm, Denis: Das Hirsauer Geschichtsbild im 12. Jahrhundert: Studien zum Umgang mit der klöster­lichen Vergangenheit in einer Zeit des Umbruchs, Ostfildern 2016. Egon Krenz fordert differenzierteres DDR-Ge­schichtsbild, in: Die Welt, 13.03.2017 (https://www.welt.de/regionales/berlin/article1627 87437/Egon-Krenz-fordert-differenzierteres-DDR­Geschichtsbild.html). Fried, Johannes: Canossa: Entlarvung einer Legende; eine Streitschrift, Berlin 2012. Gawlik, Alfred: Analekten zu den Urkunden Hein­richs IV., in: DA 31(1975), S. 370-419. Goetz, Hans-Werner: Die Gegenwart der Vergan­genheit im früh- und hochmittelalterlichen Ge­schichtsbewußtsein, in: HZ 255(1992), S. 61-98. Jakobs, Hermann: Die Hirsauer. Ihre Ausbreitung und Rechtsstellung im Zeitalter des Investiturstrei­tes, Köln 1961. Jakobs, Hermann: Eine Urkunde und ein Jahrhun­dert. Zur Bedeutung des Hirsauer Formulars, in: ZGO 140(1992), S. 39-60. Marshall, Christoph: Geschichtsbild von Regie­rungsgnaden, in: Der Tagesspiegel, 04.01.2017 (http://www.tagesspiegel.de/kultur/streit-um­polnisches-kriegsmuseum-geschichtsbild-von­regierungsgnaden/19205344.html). Mayer, Theodor: Fürsten und Staat. Studien zur Verfassungsgeschichte des deutschen Mittelalters, Weimar 1950. Melville, Gert: Wozu Geschichte schreiben? Stellung und Funktion der Historie im Mittelalter, in: Reinhardt Koselleck/Heinrich Lutz/Jörn Rüsen (Hgg.): Formen der Geschichtsschreibung, Mün­chen 1982, S. 86-146. Naß, Klaus: Die Reichschronik des Annalista Saxo und die sächsische Geschichtsschreibung im 12. Jahrhundert, Hannover 1996. Paravicini, Werner: Die Wahrheit der Historiker, München 2010. 87