Denis Drumm · Das Hirsauer Geschichtsbild im 12. Jahrhundert den dunkelsten Farben vor Augen führt. Nun stellt sich die berechtigte Frage, warum für eine so wichtige Schenkung nicht darauf verwiesen wurde. Die recht einfache Antwort mag lauten: Man konnte es nicht, denn das Hirsauer Formu­lar in der heutigen Form mit eben dieser Poen­formel lag damals noch gar nicht vor. Und um ein letztes Argument einzuführen: Das Hirsauer Formular verbietet die Einsetzung eines Untervogtes. Diese Formulierung ist aufschluss­reich, denn der Begriff des Untervogtes, des subadvocatus, ist zwar im 11. Jahrhundert durchaus belegt, doch nur in Privaturkunden und vor allem nur westlich des Rheins. 32 Im Reich kennt man ihn in dieser Form nicht. Alle Urkunden aus der Salierzeit, die diesen Begriff benutzt hatten, wurden später als Fälschung entlarvt. 33 Die Verwendung in größerem Stil beginnt im ersten Drittel des 12. Jahrhunderts. In der königlichen Kanzlei finden wir Belege erst aus den 1130er Jahren unter Kaiser Lothar III. Ein Nachdenken über die Rechte oder die blanke Existenz eines Untervogtes führt direkt in die Gedankenwelt und den Kanzleigebrauch des 12. Jahrhunderts, aber nicht in die 1070er Jahre. Es handelt sich um einen weiteren Hin­weis darauf, in welcher Zeit wir das Hirsauer Formular in der heutigen Form verorten sollten. Was sind nun die Auswirkungen dieser Ergeb­nisse auf unser Bild des Klosters Hirsau? Oder etwas zugespitzt formuliert: Haben wir auf einer ereignisgeschichtlichen Ebene noch etwas Hand­festes, was man auf eine Informationstafel am Kultort schreiben oder was man in der Schule behandeln kann? Trotz zahlreicher Umdeu­tungen kann festgehalten werden, dass keine der bekannten Episoden der Hirsauer Geschichte gänzlich gestrichen werden muss. Wir müssen allerdings bei einzelnen Details, die uns als gesichert galten, vielleicht nun wieder ein Frage­zeichen setzen. Gleichzeitig müssen wir bei einzelnen Aussagen, die uns als handfest galten, vielleicht nun besser den Konjunktiv benutzen. Kurz gesagt: Das, was wir über das Kloster Hirsau im Hochmittelalter gesichert aussagen können, hat abgenommen. Dafür haben wir an Stellen, an denen wir etwas eingebüßt haben, auch etwas dazugewonnen. Auch wenn wir vielleicht nicht mehr mit Bestimmtheit behaup­ten können, dass Papst Leo IX. einmal physisch in Hirsau war, können wir nun durch mentali­tätsgeschichtliche Ansätze einen Blick in eine Zeit werfen, über die die Quellen sich fast gänzlich ausschweigen. Wir können versuchen, zwischen den Zeilen die Ideale, Wünsche und Nöte einer Generation von Mönchen zu erken­nen, die für uns fast gänzlich namenlos überlie­fert wurde. Auf einer anderen Ebene hat sich einmal mehr gezeigt, wie Forschung im Allgemeinen und Forschung zu Klöstern im Speziellen in den letzten Jahrzehnten funktioniert hat. Einerseits wurden Betrachtungen aus angrenzenden For­schungsbereichen wie der Rechts- und Verfas­sungsgeschichte als maßgebliche Urteile akzep­tiert, obwohl diese Forschungen sich gar nicht für Klöster interessiert hatten. Andererseits wur­den solche Urteile über Generationen hinweg übernommen und, was noch viel folgenreicher war, oft kritiklos akzeptiert. Was die Folgen dieser Verflechtungen und Übernahmen sind, das konnten die gezeigten Beispiele anschaulich demonstrieren. Vor allem offenbaren die Bei­spiele, wie wichtig es ist, die zentralen Quellen ganzheitlich und vor allem kontextualisiert zu betrachten. Es hat die Forschung auf ziemlich absurde Bahnen geführt, Dokumente wie die Vita Wilhelms oder das Hirsauer Formular in Einzelteile zu zerlegen oder Auszüge daraus für Thesen in anderen Forschungsbereichen zu benutzen. Bei aller Skepsis gegenüber den überlieferten Quellen ist es dennoch wichtig zu betonen, dass wir es hier nicht mit Fälschungen zu tun haben. Die Gründe, warum ein mittelalterlicher Text Unwahrheiten, Widersprüche oder Erfin­dungen enthalten kann, sind vielschichtig, aber alle haben sie gemeinsam, dass sie nicht mit einer modernen Definition einer bewussten Fälschung einhergehen. Wenn also die Mönche 86