Denis Drumm · Das Hirsauer Geschichtsbild im 12. Jahrhundert Hirsauer Archiv lag. Nun schaut Gawlik noch genauer auf die weitere Beschreibung dieser beiden Abschriften und liest:sigillo et mono­grammate similter(in Siegel und Monogramm gleichartig). Wenn man also in der Folge in der Forschung davon lesen konnte, dass die Hirsauer Urkunde in zwei besiegelten Varianten vorlag und dies ein klarer Beleg für deren Besonderheit sei, dann basiert diese Aussage nur auf Gawliks Deutung und im Besonderen nur auf seiner speziellen Lesart der letzten Zeile des rücksei­tigen Vermerks. Diese Deutung ist aber aus paläographischer Sicht fraglich. 31 Hierzu muss nochmals der Vermerk auf der Rückseite der Urkunde betrach­tet werden. Das erste Wort ist relativ klar erkennbar, man erkennt die Buchstaben S-I-O. Es spräche nichts dagegen dies mitsigillo zu übertragen. Es folgt einet, ein drittes Wort, das in erster Linie aus Schäften besteht und etwas schwieriger zu lesen ist und schließlich ein gekürztessimiliter. Gawlik hat nun dieses dritte Wort als M-N-O gelesen und mit dem Wortmonogrammate, also Monogramm, übersetzt. Seiner Deutung nach möchte der Archivar sagen: Das Hirsauer Formular war in zwei Ausfertigungen vorhanden, und beide waren mit demselben Siegel und Monogramm versehen. Das, da müsste man ihm rechtgeben, wäre wirklich singulär für die Mitte des 11. Jahr­hunderts. Doch bei genauerem Hinsehen er­kennt man bei dem angesprochenen dritten Wort vier Schäfte, für M-N bräuchte man aber fünf. Ebenso sieht man, dass Schaft eins und zwei oben geschlossen sind und unten offen, während Schaft drei und vier oben offen und unten geschlossen sind. Daher ergeben sich die Buchstaben N-U-O. Außerdem ist das Wort mit einem sogenannten R-Haken, der für ausgefal­lenes R+ Vokal steht, überschrieben. Daher löst sich das Wort alsnumero auf. Und in diesem Kontext läge es auch näher, das erste Wort nicht alssigillo, sondern alssigno zu lesen. Im Ganzen also:signo et numero similiter. Der Archivar möchte uns damit lediglich sagen, dass er beide Exemplare unter derselben Signatur und Nummer abgelegt habe. Er sorgt für eine Syste­matik, er schafft Ordnung, die nachvollziehbar und verfolgbar sein soll- dies ist schließlich seine Aufgabe. Nichts anderes teilt er uns an dieser Stelle mit. Auf dieser Notiz alleine eine verfas­sungsgeschichtliche These über die Bedeutung der Urkunde für das 11. Jahrhundert und die Rechtsgebräuche der Kanzlei aufbauen zu wol­len, geht völlig an der Aussage des Vermerks vorbei. Des Weiteren lesen wir häufig, dass das Zweit­exemplar als verschwunden gilt, was weitere Untersuchungen erschwert, da wir weiterhin nur auf das Hirsauer Formular in der überlieferten Form angewiesen sind. Aber auch diese Aussage ist inhaltlich falsch. Die Urkunde ist weder verschwunden, noch zerstört, sondern liegt im Hauptstaatsarchiv Stuttgart unter der Signatur A491 U1. Es handelt sich hierbei um ein Vidi­mus des 15. Jahrhunderts, also in etwa der Zeit, aus der der eben vorgestellte Dorsalvermerk stammt. Darin wurde der Text der uns be­kannten Urkunde wörtlich und ohne Verände­rungen inseriert. Ebenso ist diese Urkunde nicht besiegelt, und sie trägt keinerlei Spuren davon, dass es einmal anders gewesen sein könnte. Damit können wir auch die These endgültig streichen, dass es jemals zwei besiegelte Ferti­gungen des Hirsauer Formulars gegeben hätte und auch alle daraus abgeleiteten Thesen. Neben diesen Argumenten existieren noch zwei eher inhaltlich-textkritische Argumente, die vor allem die spätere Entstehung der Urkunde plausibel erscheinen lassen. Als die größte Schen­kung einer Einzelperson an das Kloster im Jahre 1103 getätigt wurde, verwies man in dieser Schenkungsurkunde recht lapidar bei Verstößen auf die Poenformel eines apostolischen Privilegs, also entweder auf die Urkunde Papst Gregors VII. oder die Urbans II. Beides sind recht unspektakuläre Schriftstücke, deren Poenfor­meln exakt dem Kanzleigebrauch der Zeit ent­sprechen. Dagegen enthält das Hirsauer Formu­lar eine extrem radikale, überdimensionierte Poenformel, die einem quasi die Apokalypse in 85