Denis Drumm · Das Hirsauer Geschichtsbild im 12. JahrhundertVita die Erstellung dieser Urkunde rechtfertigeund ihr obendrein noch mehr Autorität undGlaubwürdigkeit verleihe. Es besteht somit aufargumentativer Ebene durchaus ein Zusammenhang zwischen Vita und Hirsauer Formular, dersich leicht damit erklären lässt, dass wir es hiermit zwei Produkten derselben Zeit zu tunhaben. Zwei Quellen, die zu Beginn des12. Jahrhunderts unter denselben Vorzeichenentstanden sind.Um die Verbindung zwischen den beidenSchlüsselquellen aufzuzeigen, sei zunächst dasWichtigste zum Hirsauer Formular zusammengefasst. Beim Hirsauer Formular handelt es sichum einen Kunsttitel der Forschung, denn an sichhaben wir es hier mit einer Urkunde KaiserHeinrichs IV. für das Kloster Hirsau zu tun, diewegen ihrer Adaption durch andere Klöster inder Forschung so benannt wurde.24Die Urkunde ist auf den Oktober des Jahres 1075 datiert,im Anschluss an die gräfliche traditio. Reininhaltlich besticht die Urkunde vor allem durchihre ungewöhnliche Länge sowie durch einigeDispositionen, die in den 1070er Jahren ihresgleichen suchen. Für die Forschung war schnellklar, dass dieses Dokument quasi den Zeitgeistdes Investiturstreites widerspiegle, und sie führtedies auf das Wirken Abt Wilhelms zurück. DasProblem hieran ist nur, dass das Dokumentgenau das gar nicht aussagt.Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass es GrafAdalbert war, der diese Urkunde veranlasst hatte.Dies ist auch kein Wunder, stand er doch zudiesem Zeitpunkt sowohl mit dem König als auchmit dem Papst in Kontakt, Abt Wilhelm dagegenerst später. Daher ist es nur natürlich, dass auchdie Urkunde bezeugt, sie sei„predicti comitisrogatu“ niedergeschrieben worden.25Auch dieDispositionen offenbaren, dass die Urkunde garkein neues Recht schafft, sie bestätigt lediglichnarrativ die zuvor getroffenen Verfügungen desGrafen, eben das, was er im Zuge der erwähntentraditio zu geben gewillt war. Man erkennt diesdeutlich daran, dass alle Verben in diesem Bereichder Urkunde im Perfekt stehen.26Bei kritischer Betrachtung scheint es eher so alsimitiere die Urkunde nur eine ältere des 11.Jahrhunderts, dies aber mit großem Geschickund vermutlich großem Aufwand, immerhinträgt sie ein Siegel aus der Zeit Heinrichs IV.und zeichnet die Schrift eines bekannten Kanzlers nach. Die häufig zitierten direkten Übernahmen des Textes beginnen darüber hinaus erstmit dem ersten Drittel des 12. Jahrhunderts. Esist doch mehr als verwunderlich, dass eineUrkunde, die geradezu als Muster des klösterlichen Freiheitsstrebens angesehen wird, 30 Jahrelang ignoriert wird, um dann in auffällig großerAnzahl rezipiert zu werden. Schuld an demGlauben, es handle sich um ein Produkt der1070er Jahre und vor allem des Abtes Wilhelm,sind die erzählenden Quellen, die genau diesbehaupten, allen voran die Vita Wilhelms vonHirsau. Die Vita klärt sehr wortreich, warum dieErstellung einer Urkunde durch Abt Wilhelmgeradezu eine Notwendigkeit darstellte und vorallem, dass nur diese überdauern konnte.27Auchdie häufig zitierte Stelle bei Berthold von Reichenau, die ein Vorhandensein der Urkunde imJahre 1075 zu belegen scheint, ist kritisch zubetrachten.28Im Grunde sagt diese Stelle nichtsanderes aus, als dass Graf Adalbert das Klosterden Titularheiligen übergeben habe. Und dieseÜbergabe sei nun rechtlich mit einem„testamentarium regiae maiestatis“ bestätigt worden. DieseFormulierung ist ziemlich unspezifisch undbeinhaltet ohnehin nur den Teil der Erzählung,der stets außer Frage stand. Was diese Stelle abereben wieder nicht belegen kann, ist, dass es sichbei diesem Schriftstück um das Hirsauer Formular in der heute überlieferten Form handelt.Wenn man dies dennoch glaubt, dann schenktman den erzählenden Quellen, wie Bertholdoder der Vita Wilhelms, mehr Glauben als dem,was das Schriftstück selbst aussagen kann.Doch alleine die Zeitgenossen sollte man fürdiese Deutung nicht tadeln. Fast noch folgenreicher war die Behandlung des Themas durchdie moderne Forschung, insbesondere in Hinblick auf die Echtheitskritik der Urkunde. Alsim Jahre 1941 die Urkunden Heinrichs IV. in83