Denis Drumm · Das Hirsauer Geschichtsbild im 12. Jahrhundert wirkt, dass wir es heute noch glauben können. Aber im Grunde ist es nichts anders als das, was die Mönche dieser Zeit zu ihrer eigenen Vergan­genheit erklärt hatten. Eine Vergangenheit, die nicht gänzlich negiert werden muss, doch sind zentrale Elemente dieser Gründungsgeschichte fraglicher geworden. Wir wissen nicht, ob der junge Graf von Anfang an Pläne hatte, nach Calw umzusiedeln und das Kloster wieder zu errichten oder ob er erst durch den Papst oder gar das Kloster Reichenau darauf aufmerksam wurde. Ob der Papst tatsächlich aktiv Anteil an der Gründung hatte oder ob er eher als Mittels­mann und Vermittler unterwegs war, bleibt nach der gezeigten Rechnung und der alternativen Deutung fraglich. Und noch unwahrscheinlicher ist seine tatsächliche, physische Anwesenheit in Hirsau. Wie sehr unser heutiges Bild vom Kloster Hirsau von den Deutungen der klosterinternen Ge­schichtswerke geprägt ist, soll im Folgenden am Beispiel der Vita Abt Wilhelms und deren Verhältnis zum Hirsauer Formular nochmals aus einer anderen Perspektive gezeigt werden. Die Vita gilt als eine der wichtigsten Darstellungen zur Lebenszeit Wilhelms und somit zur Hoch­phase des Hirsauer Konvents. Bei der Datierung ging die Forschung stets davon aus, dass sie kurz nach seinem Tod niedergeschrieben wurde und lediglich die letzten Kapitel später ergänzt wurden. 22 Diese Kapitel enthalten einige nega­tive Darstellungen von Wilhelms Nachfolger Abt Gebhard, der im Jahre 1107 verstarb. Somit schlussfolgerte man, dass diese Ergänzungen über den, in den Augen der Zeitgenossen, schlechten Abt erst nach 1107 niedergeschrieben wurden. Nach neueren Untersuchungen spricht aber vieles dafür, dass die Vita in ihrer Gesamt­heit ein Produkt der Zeit nach 1107 ist, deren Widersprüchlichkeiten sich nur mit dem damals herrschenden Zeitgeist im Kloster erklären lassen. 23 Sie ist eben kein akkurates, sondern ein stark selektives Lebensbild des charismatischen Abtes, das massiv von der bereits angespro­chenen Suche nach Identität lebt. Man stilisierte Wilhelm in einer bestimmten Form und stellte ihn als leuchtendes Beispiel dem gerade geschei­terten Gebhard gegenüber. Auch weitere Ele­mente und Erzählungen der Vita sind stark von Ressentiments gegen äußere Einflüsse auf das Kloster sowie gegen den Bruch mit Wilhelms Traditionen geprägt. In einem solchen Doku­ment nur eine erbauliche Heiligenvita zu sehen, verfehlt den Kern. Stattdessen sehen wir deut­lich, wie die Hirsauer Mönche der zweiten und dritten Generation nach Wilhelm ihre eigenen Ideale auf ihr Vorbild Wilhelm projizierten. Dies ist aber nur verständlich, wenn man die Situati­on in Hirsau nach 1107 kennt. Das wohl zentralste Charakteristikum der Vita besteht im gedanklichen Umgang mit den materiellen und ideellen Vermächtnissen Abt Wilhelms, ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Vita zieht. Jeder, der versucht, dem Kloster Schaden zuzufügen, wird bestraft. Jeder, der versucht eine Regelung zu umgehen, die Wilhelm eingeführt hatte, wird dafür ge­maßregelt. Dieser Strafprozess macht auch vor dem eigenen Abt Gebhard nicht halt. So wird er gerade in den letzten Kapiteln genau dann kritisiert, wenn er mit Wilhelms geistigem Erbe bricht. Somit ist die Argumentation der Vita klar: Abt Wilhelms setzt auch nach seinem Tod sein Wirken fort, nun als Seliger bei Gott. Alles, was Wilhelm begonnen hat, muss fortgesetzt werden und steht nun auch unter speziellem göttlichem Schutz. Und da fällt es natürlich besonders ins Gewicht, dass die Vita gleich zu Beginn äußerst ausführlich berichtet hatte, es sei Abt Wilhelm gewesen, der eine Urkunde für das Kloster Hirsau erwirkt hatte. Ja, die Vita lässt aufgrund ihrer Erzählweise gar keinen Zweifel daran aufkommen, dass Wilhelms Handlungen eine Notwendigkeit darstellten, denn die vorherigen Urkunden, die der Graf von Calw aufgesetzt hatten, beinhalteten aus dieser Perspektive nur betrügerische Absichten. Daher, so impliziert die Vita, sei es selbstver­ständlich, dass es der herausragende Abt war, der dieses Schriftstück mit all seinen unkonven­tionellen Inhalten erstellt habe. Wir erhalten auf diese Weise fast den Eindruck, als ob die 82