Denis Drumm · Das Hirsauer Geschichtsbild im 12. JahrhundertKolorierte Federzeichnung von 1627 inHeinrich Murers Kopieder Chronik des KlostersReichenau von GallusOeheim(ThurgauerKantonsbibliothekFrauenfeld)Grafen den dortigen Standort nahezulegen.Wenn wir dieses Szenario weiterdenken, so gingeder Impuls letztlich vom Kloster Reichenau aus,und der Papst wäre eher eine Art Mittelsmannin diesem Konflikt. Der Papst selbst weilte janachweislich in diesem Winter vier Tage auf derBodenseeinsel; Zeit genug für ausgiebige Verhandlungen über Hirsau und Althengstett waralso gegeben. Eines wird es in diesem Szenarioaber eben nicht gegeben haben, nämlich einTreffen in Hirsau selbst. Hierin zeigt sich nundie Verbindung zwischen dieser Deutung undder gerade vorgestellten Chronologie.physisch bei diesem Treffen zugegen war, denndas Kloster bestand zu dieser Zeit noch nicht.Das Resultat, das uns heute in schriftlicher Formvorliegt, ist somit eine Mischung aus mündlicherTradition und dem Wissen darum, wie dieGeschichte ausging. Man wusste, welche RollePapst Leo IX. in der Geschichte des 11. Jahrhunderts gespielt hatte und welche Meriten man ihmzusprach. So dürfte es für die Mönche des frühen12. Jahrhunderts außer Frage gestanden haben,dass ein so bedeutender Papst wie Leo IX. einbedeutendes Kloster wie Hirsau mitgegründethatte.Wir wissen nicht, was in der Folge geschehen istund ob es dieses Abkommen jemals gegeben hat,aber wir kennen das Ergebnis, welches lautet:Graf Adalbert ließ das Kloster auf Wunsch desPapstes neu errichten. Aber auch dieses Ergebnismüssen wir einschränken, denn letztendlichkennen wir ja, strenggenommen, nur das Ergebnis, wie es uns die Hirsauer Mönche um 1100und danach überliefert haben. Die genauenUmstände der Schilderung spiegeln sicher dieArt und Weise wieder, wie man im Kloster überdie Gründung gesprochen hatte. Eine erlebteErinnerung war es für die schreibenden Möncheselbstverständlich nicht, schließlich entstand derBericht mit rund 50 Jahren Abstand. Ebensobleibt festzuhalten, dass auch keiner der MöncheTrotzdem müssen wir uns nun fragen, warumForscher diese Aussagen vorbehaltlos geglaubthaben. Der Papst war auf seiner Reise stets nacheinem bestimmten Schema vorgegangen: Erbesuchte Orte, die für die Familiengeschichtewichtig waren, er führte sakrale Handlungendurch oder förderte Heiligenkulte und ließ einSchriftstück zurück. Abgesehen vom Schriftstück sind dies alles Elemente, die auch für denHirsau-Aufenthalt berichtet wurden. Genaudeshalb, weil dieser Ablauf so unverfänglich undüberzeugend ins Schema passt, wirkt er auf denmodernen Historiker unverdächtig. Das Ergebnis ist ein gelungenes Nebeneinander von Fiktivem und einem belegbarem Kern; ein Nebeneinander, das in seiner Gesamtheit so unverdächtig81