Uwe Gast · Das Kloster Hirsau und seine mittelalterlichen Glasmalereiendenen hervorgeht, dass der Bildzyklus in derSüdostecke des Kreuzgangs mit Fenster I begannund von dort aus über Ost-, Nord-, West- undSüdflügel bis Fenster XXXIX verlief(Abb. 3).Es gibt weitere Beschreibungen der Kreuzgangverglasung aus dem 16. und 17. Jahrhundert,die hier übergangen werden können. Was esseltsamerweise nicht gibt, ist eine Erwähnungoder eine Beschreibung der Farbverglasung derAllerheiligenkapelle.Gemäß der Schilderung im Evangelium desMatthäus(Mt 27,1f. und Mt 27,11–26) ist diezweite Vorführung Christi vor Pontius Pilatusdargestellt: Der römische Statthalter sitzt linksauf seinem Thron und wäscht, von einem nahedem Bildzentrum platzierten Diener assistiert,seine Hände in Unschuld. Rechts haben zweiSoldaten Christus vorgeführt, an den Händengefesselt; unbewegt, mit fast freundlicher Mienevernimmt Christus das Urteil, das über ihngesprochen ist.Die mittelalterlichen Glasmalereien des Klosters in Kreuzgang und AllerheiligenkapelleNachdem Gotthold Ephraim Lessing im Jahr1773 die Beschreibung der Kreuzgangverglasungdurch Parsimonius erstmals publiziert hatte,wurde das verlorene Werk –„so schön bemalte,nun längst zerbrochne Fensterscheiben“25– dergelehrten Welt bekannt. In der Folge gingenzahlreiche Autoren, die über Hirsau schrieben, aufsie ein. Schon Justinus Kerner bemerkte, dasszumindest ein Fragment erhalten geblieben war.In seiner 1813 in erster Auflage erschienenenSchrift„Das Wildbad im Königreich Würtemberg“ gab er in einer Anmerkung folgendenwichtigen Hinweis:„In einem Fenster des Wirthshauses zum Lamm in Hirschau ist noch einschönes Glasgemälde aus dieser Rotunde[gemeintist die Brunnenkapelle] zu sehen; wohl das einzigeGemälde das noch aus diesem so herrlich gewesenen Kloster vorhanden ist.“26Obgleich Kernerden Bildgegenstand dieses Glasgemäldes nichtidentifiziert, lässt sich aus späteren Erwähnungen– so in dem Verzeichnis„Denkmale des Alterthums und der alten Kunst im Königreich Württemberg“ oder bei Franz X. Steck, KlosterHirsau27– erschließen, dass er im Gasthof zumLamm die Darstellung„Christus vor Pilatus“gesehen hat. Das kleine, gerade einmal 39,5 x35,5 cm messende Scheibenfragment wurde 1907aus Familienbesitz eines früheren Lamm-Wirts fürdie Königliche Altertümersammlung in Stuttgarterworben, das heutige Württembergische Landesmuseum(Abb. 4).28Aus der oben erwähnten Überlieferung desParsimonius geht klar hervor, dass das Glasgemälde nicht in der Brunnenkapelle gesessen hat,wie Kerner vermutet hat, sondern dass es zurtypologischen Verglasung des Kreuzgangs gehörthat. Dort saß es im – von Norden gezählt –dritten Fenster des Westflügels, das heißt im22. Fenster des gesamten Zyklus. Parsimoniusbeschreibt es folgendermaßen: links„Pilatus inTribunali sedens,(et) manus lavans“, danebender„Puer Pilati manibus aqua(m) infundens“,wiederum daneben„Chr(istu)s ligatus stanscora(m) Pilato, condemnatur ad mortem“, rechtsdie„Cohors militu(m), captivu(m)(et) ligatu(m)tenens Christu(m)“. Unterhalb des Bildes befandsich eine einzeilige Unterschrift:„Est fera plebsausa, damnare Iesum sine causa.“(Es begehrtedas grausame Volk, Jesus ohne Schuld zu verurteilen.) Darüber und darunter gab es Prophetenmit Spruchbändern, deren Texte auf das neutestamentliche Geschehen bezogen waren.Die Darstellung von Christus vor Pilatus mitsamtder Bildunterschrift und den vier Propheten warinnerhalb eines rechteckigen, etwa 67 x 40 cmmessenden Fensterfeldes dargestellt. Dieses Feldsaß nachweislich in der Mittelbahn des Fensters,und dort vermutlich wiederum in der Mitte, etwaauf Augenhöhe der Betrachter. Links und rechtsvon ihm befanden sich, ebenfalls innerhalb rechteckiger Felder, die alttestamentlichen Vorbilder:links eine Szene aus der Geschichte des ProphetenElias, rechts eine Szene aus der Geschichte desPropheten Daniel, darüber jeweils erläuterndeTexte und darunter Bildunterschriften(Abb. 5, 7).108