Uwe Gast · Das Kloster Hirsau und seine mittelalterlichen Glasmalereien Anders als von Rüdiger Becksmann rekonstruiert und in der Folge in seinem Sinne fort­geschrieben 29 , waren Bilder und beigefügte Texte mit Sicherheit nicht auf mehrere Zeilen der Fenster verteilt. Nein, die nach dem Vorbild der Biblia pauperum gestalteten Scheiben waren als Dreiergruppe bandartig in der 2. Fensterzeile eingebaut; die je drei Felder darunter und darüber waren, wie vermutlich auch das Maßwerk, mit einfachen farblosen Butzenscheiben verglast. Dafür gibt es zwei wichtige Indizien: zum einen die Maße der erhaltenen Bild­und Inschriften­reste und zum anderen mit gewissen Einschrän­kungen den Preis, der gemäß den Annales Hirsaugienses für die Fensterverglasung dreier Kreuzgangflügel gezahlt wurde. Die einzelnen Fensterfelder maßen, wie erwähnt, im Ganzen etwa 67 x 40 cm. Das zentrale Bildfeld des Fensters XXII des Kreuzgangs ist 39,5 x 35,5 cm groß. Während es seitlich nur leicht beschnitten ist, fehlen oben und unten fast 30 cm des ursprünglichen Glasbestandes. Die Bildunter­schrift eine Zeile Text auf weißem Glas nahm keine 3 cm in der Höhe ein, sodass für die Darstellungen der in ihre Spruchbänder ver­schlungenen Propheten oben und unten, wie Parsimonius sie exemplarisch in einer Skizze festgehalten hat 30 , je ein Streifen von circa 12–13 cm blieb. Kaum zufällig ist der annähernd vollständig erhaltene Text einer Inschrift aus Fenster XXVI, die links oberhalb einer alttesta­mentlichen Szene unmittelbar neben zwei Pro­pheten in der Mittelbahn saß, etwa ebenso hoch. 31 Die Überlieferung des Parsimonius gibt folglich die genaue Verteilung der gemalten Scheiben in den Fenstern wider: je drei nebenein­anderstehende hochrechteckige Felder, deren Binnengliederung nach dem Modell des erstmals um 1460 in den Niederlanden erschienenen Blockbuchs der Biblia pauperum entworfen worden war (Abb. 6f.). Bekräftigen wenn auch nicht beweisen lässt sich diese neue Rekonstruk­tion mit einem monetären Argument. Trithemius zufolge hatte Abt Blasius für die Verglasung dreier Kreuzgangflügel etwas mehr als 300 Gulden ausgegeben, pro Fenster in Ost-, Süd­und West­flügel rund 10 Gulden, wobei die jeweils zu verglasende Fläche circa 2,5 m 2 betrug. Der Preis für eine gemalte Scheibe dürfte in Analogie zu Scheiben ähnlicher Größe bei 1,5 bis 2 Gulden gelegen haben, für drei Scheiben von zusammen 0,8 m 2 bei circa 5 Gulden. Für die restliche mit Butzen zu verglasende Fläche war bei einem Kostenverhältnis von 2,5 : 1 nochmals etwa die gleiche Summe aufzubringen, sodass sich ein Preis von rund 10 Gulden für drei gemalte und meh­rere Butzen-Scheiben errechnen lässt. 32 Der Glasmalereizyklus im Kreuzgang umfasste ursprünglich einmal 118 Scheiben. Davon ist, wie erwähnt, lediglich eine Scheibe mit der Darstellung Christus vor Pilatus erhalten; hinzu kommen kleine, bei Grabungen gefun­dene Fragmente weiterer Darstellungen, die sich jedoch nicht mehr zuordnen lassen, und diverser Inschriften aus den Fenstern X, XI, XVI, XVII, XXIV, XXVI, XXX und XXXII. 33 Gemäß der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion zogen sich die Darstellungen aus Altem und Neuem Testa­ment mit ihren erklärenden Inschriften im Kreuzgang wie ein endloses Band dahin, eine im Spätmittelalter durchaus übliche, oft rekonstru­ierte Form einer partiellen Farbverglasung. 34 Der Zyklus war hinsichtlich seiner Verteilung in den Fenstern der Kreuzgangflügel (10, 9, 11 und 9 Fenster) aber nicht, wie man vermuten könnte, an der auch schon im Mittelalter geläufigen Einteilung der Vita Christi in die Abschnitte Kindheit, öffentliches Leben, Passion und Ver­herrlichung orientiert. Im Ostflügel waren Sze­nen von der Verkündigung an Maria (Fenster I) bis zu den drei Versuchungen Christi durch Satan zu sehen (Fenster X); es folgten im Nord­flügel Szenen von der Auferweckung des Lazarus (Fenster XI) bis zum Abschied Christi von den Jüngern (Fenster XIX); danach, im Westflügel, Szenen von der Gefangennahme Christi (Fen­ster XX) bis zu den Frauen am Grab Christi (Fenster XXX); schließlich im Südflügel Szenen von den Erscheinungen Christi (Fenster XXXI) bis zum Jüngsten Gericht, Hölle und Himmel, nämlich Gottvater mit den Seligen in seinem Schoß (Fenster XXXVII–XXXIX). Die 40. Bildgruppe der Biblia pauperum mit der zentra­109