„Ach was, Faseleien!" brummte der Bürgermeister ärgerlich, „das macht Kindern und alten Weibern weis. Mich verschont mit solchen Ammenmärchen."
Der Thürmer zuckte die Achseln und schwieg.
„Ich weiß wohl," fuhr der Bürgermeister immer ärgerlich fort, „Ihr war't von jeher ein Wettermacher und Geheimnißkrämer, aber bei mir kommt Ihr damit nicht durch. Es wird Zeit, daß man Euch einmal wieder auf die Finger sieht."
Der Thürmer wollte auffahren, aber er bezwang sich:
„Wer kann mich unehrlicher Dinge beschuldigen?" fragte er ruhig.
„Was treibt Ihr denn, wenn man Euch tagelang nicht zu Gesichte bekommt?"
„Nichts, das Andern zu Schaden oder Unheil gereicht," entgegnete der Thürmer gleichmüthig.
„Wo wart Ihr, nachdem Ihr Euch das letzte Mal Urlaub verschafftet? Warum geht Ihr und kommt, ohne daß Jemand weiß, woher und wohin? Und wer trägt Euch die Nachrichten zu?" fragte der Bürgermeister immer erregter.
„Euer Gestrengen hatten mir den Urlaub bewilligt."
„Ihr sollt sagen, wo Ihr war't? schrie der Gestrenge hastig.
„Gehört das auch zu den Pflichten meines Amtes ? ' fragte der alte Mann spöttisch.
„Ihr habt es die längste Zeit verwaltet," herrschte der Bürgermeister ihm zu, „Ihr soll! schon sehen, wohin Ihr mit Eurem Trotz kommt, Ihr undankbarer Geselle!"
„Undankbar?" fragte der Thürmer und trat einen Schritt näher. „Soll ich Euch etwa dankbar sein, daß Euer ehrenwerther Vater, der damalige Bürgermeister, mir ein Amt gab, das kein Anderer wollte? Ihr war't damals noch jung, aber Ihr müßt Euch erinnern, daß der letzte Thürmer von St. Annen droben beim Leuten vom Blitz erschlagen ward. — Seitdem mochte keiner Thürmer sein. Ich wünschte gern in diesem Städtchen zu bleiben, denn ich hat damals gerade mein braves Weib kennen gelernt..."
„Ich weiß, die Näherliese . . .," sagte der Bürgermeister geringschätzend.
„Ja, die Näherliese . . . Sie und ihre Mutter waren die Einzigen, die sich meiner annahmen als ich heimatlos und krank hier ankam. Um sie zu meinem Weibe machen zu können und ihr so ihre Liebe und Treue zu vergelten, bewarb ich mich um die Stelle. Sie trägt nur kärgliches Brod, aber sie schützte doch vor, äußersten Mangel . . . Dann starb mein Weib und ich blieb mit meinem verwaisten Buben allein dort oben . .
Der Thürmer schwieg, weil seine Stimme zu beben begann.
„Mit dem Wendelin —'s siel der Bürgernieister «in. „Gut, daß Ihr mich auf den Buben bringt. Er ist hübsch herangewachsen, was habt Ihr mit ihm vor?"
„Ich dächte, daß sei meine Sache," antwortete der Thürmer ausweichend.
„Er ist alt genug, um endlich ein Handwerk oder etwas Aehnliches zu lernen," fuhr der Bürgermeister fort. „Es wäre Zeit, daß er Euch von der Tasche kommt."
Das Gesicht des Thürmers färbte sich dunkel.
„Er ist mein Sohn," sagte er scharf.
„Und wer seid Ihr?" höhnte Leberecht. „Soll er etwa nichts als Läuten lernen, damit die Stadt dermaleinst ihn auf dem Halse hat?"
„Seid ruhig, er weiß jetzt schon mehr als mancher Herrensohn!"
„Aber er weiß nicht, was sich ziemt, ebensowenig wie sein Vater!" rief Leberecht erzürnt. „Ziemt cs sich, meine Tochter beständig in den Thurm steigen zu lassen?"
„Die Jungfer Hilda frägt nie um Erlaubniß", entgegnete der Thürmer spöttisch.
„Das hat meine Tochter auch nicht nöthig," belehrte der Bürgermeister hochmüthig.
„Nun also? Was kann ich oder mein Sohn dafür?"
„Schon gut, Ihr wißt mit Eurer Zunge umzugehen, aber daß ich's Euch kurz sage: der Bursche muß fort von hier und das so bald als möglich, versteht Ihr mich?"
Einen Augenblick lang maß der Thürmer seine Obrigkeit mit flammenden Blicken:
„So? Muß er das? Er ist Euch wohl sehr im Wege?"
„Nehmt Euch in Acht I" schrie Leberecht wüthend, noch bin ich Herr und Ihr sollt mich kennen lernen!"
Der Thürmer sann nach:
„Hört mich an Gestrenger! Daß Wendelin fort muß, weiß ich so gut wie Ihr; aber nicht, weil es Euch so gefällt, sondern zu seinem eigenen Besten. Deshalb ist es auch längst eine abgemachte Sache. Am Montag geht er."
Ein erfreutes Lächeln glättete das zornige Ge- icht des Bürgermeisters:
„Seht, das ist vernünftig, Thürmer. Ich wußte chon, daß Ihr mit Euch reden laßt. Man geht nicht gerne auf seine alten Tage von Amt und Brod. Also übermorgen! Schickt mir den Jungen morgen, es soll mir auf eine kleine Wegzehrung nicht ankommen!"
„Er bedarf dessen nicht," entgegnete der Thürmer kurz. „Habt Ihr sonst noch Befehle für mich?"
„Nein lieber Freund, Ihr könnt gehen —"
Ohne Gruß wandte sich der Thürmer um und verließ das Zimmer.
Der Bürgermeister rieb sich schmunzelnd die Hände:
„Wenn nur Wendelin nicht mehr im Wege stand, war eher auf Hilda zu wirken, denn es war hohe Zeit, daß sie auf ihre erhabene Bestimmung vorbereitet ward."
An dieser Bestimmung zweifelte der Bürgermeister jetzt noch weniger als je, hatte doch der Prinz mit bedeutungsvollem Blick gesagt: „Auf Wiedersehen!"
Und der Monarch selbst hatte das Mädchen sogar seine Base genannt. Was konnte das anders heißen, als daß sie ihnen wohlgefiel und er gegen eine Verwandtschaft mit ihr nichts einzuwenden hatte. Warum sollte nicht einmal ein Prinz eine Bürgermeisters Tochter zur Gattin wählen, es waren schon ganz andere Dinge vorgekommen.
Durchaus befriedigt legte der Bürgermeister diesen Abend das Haupt zur Ruhe und glänzende Zukunftsträume umschwebten sein Lager.
Langsam war der Thürmer zu seinem engen Stübchen emporgestiegen. Wendelin saß am Fenster und auf dem Tische stand das einfache Mahl, das er aus dem Städtchen heraufgebracht, denn es war dem Thürmer streng verboten, nach Abendläuten noch Feuer im Thurme zu unterhalten.
Schweigend genossen Vater und Sohn das Nachtessen, dann setzte sich der Thürmer in seinen lederbezogenen Stuhl und kreuzte die Arme über der Brust. Wendelin zerbrach das Brod für seinen Raben in immer kleinere Stücke. Aber zu sprechen wagte er nicht. Sein Vater liebte es nicht, wenn der Knabe unaufgefordert redete.
„Wendelin," sagte der Thürmer endlich mit seltsam feierlicher Stimme. „Ich habe mit Dir zu reden."
Das Herz des Jünglings begann laut zu pochen und gespannt blickte er auf den Vater.
„Du bist jetzt achtzehn Jahre alt," hob der Alte an, „und es ist Zeit, daß Du etwas Rechtschaffenes lernst. Hier kannst Du das nicht, darum Hab' ich beschlossen, Dich fortzuschicken in die Königsstadt ..."
Wendelin schrack zusammen:
„Fort von hier, Vater?" stammelte er mit bleichen Lippen.
„Ja, mein Sohn, ein Jugendfreund hat sich erbeten, Dich zu sich zu nehmen. Er ist des Gesetzes kundig und Du sollst sein Schreiber werden. Später, wenn Du Dich tüchtig zeigst, nimmt er Dich vielleicht in sein Geschäft auf, da er selbst keine Kinder hat. Du weißt, ich bin arm und kann nichts für Dich thun —"
Muß es sein, Vater? fragte Wendelin tonlos.
„Es muß sein; betrübe mich nicht durch Widerstand ; Du sollst nicht auch Dein Leben in diesem Eulennest vertrauern; es mag an mir genug sein."
Verwundert horchte Wendelin auf. Er kannte die Geschichte seines Vaters nicht, aber dunkle Reden desselben hatten ihn errathen lassen, daß er nicht von so geringer Herkunft war, wie seine jetzige Stellung schließen ließ.
Der Thürmer fuhr fort:
„Ehe wir uns trennen, sollst Du auch wissen, wie ich hiehergekommen bin in diesen Thurm. Du bist jetzt alt genug, um mich zu verstehen."
Er stüzte die Stirn in die Hand, und blickte schweigend in den Vollmond, der riesengroß und rosig über den fernen Hügel heraufschwebte.
„Es sind jetzt nahezu zwanzig Jahre," begann der Thürmer endlich, wie aus tiefem Traum heraus, „daß ich hier oben Hause, verschollen säst für Alle, die ich in meiner Jugend gekannt und geliebt. Als ich o jung war wie Du, dachte ich nicht, daß dies das Ende sein würde. Da schien mir eine Welt nicht groß genug für meinen stürmischen Lebensdrang. Eine Stunde genügte, um mich zu dem zu machen, was ich jetzt bin, eine einzige, tausendfach bereute Stunde..."
Er schwieg und wühlte mit der Hand in dem grauen Haar, während Wendelin ihn mit athemloser Unruhe betrachtete.
„Mein Vater war ein angesehener Mann von großer Gelehrtheit, und erzog mich und meine einzige Schwester so gut es ihm ohne Hülfe seiner frühverstorbenen Gattin möglich war. Ich war der ältere und frühe schon überließ mir der Vater, den seine Studien völlig in Anspruch nahmen, die Sorge für das jüngere Schwesterchen. Ich liebte die zarte blonde Sabine zärtlich und hütete sie, als sie heranwuchs, fast mit der Eifersucht eines Liebenden.
Ich bereitete mich für den Richterstand vor und hatte meine Studien fast beendet, als auch der Vater starb. Nun war Sabine ganz auf mich angewiesen, denn Verwandte besaßen wir nicht. Unser Leben gestaltete sich still und friedlich, denn unsere Verhältnisse waren nicht glänzend, und ich mußte Tag und Nacht arbeiten, um rascher zu Amt und Brod zu gelangen. Um für Sabinen besser sorgen zu können, beschloß ich, unverheirathet zu bleiben, bis ihre Zukunft gesichert sei. Bei ihrer Schönheit und Anmuth bezweifelte ich nicht, daß sie bald einen rechtschaffenen Gatten finden werde, der besser als ich im Stande wäre, ihr Leben zu verschönern. Es dauerte auch nicht lange, so stellte sich ein Bewerber ein, dem ich mit Freuden meine Schwester anvertraut hätte. Um sie indeß nicht zu einem unüberlegten Schritt zu verleiten, sagte ich ihr nichts von der Werbung Meinhardts, sondern beschloß, sie zu prüfen, ob sie ihm mehr als anderen zuge- than sei. Allein es war mir unmöglich, dies zu ergründen.
'Sie erröthete nicht bei Nennung seines Namens und war auch nicht traurig, wenn er ging, obschon sie ihn mit sichtlichem Wohlgefallen empfing. Dennoch hoffte ich, ihr Herz würde sich ihm zuwenden, denn er war ein schöner Mann und guter Leute einziges Kind. Aber Meinhardts Ungeduld wollte nicht länger warten. So theilte ich Sabinen eines Abends mit, ein junger schöner Mann habe um ihre Hand geworben .. . Ich sehe sie noch vor mir, wie ihre Augen aufleuchteten in unaussprechlich freudigem Schreck, ihre zarten Wangen wurden bald bleich, bald roth und endlich warf sie sich schluchzend an meine Brust und stammelte: „Ich bin so unendlich glücklich, Bruder!"
„Also liebst Du Meinhardt? fragte ich hocherfreut. Ihre Arme sanken von meinem Halse, und mit entsetzten Augen sah sie mich an: „Meinhardt? Du sprichst von ihm?" „Von wem sonst, Sabine," rief ich, von banger Ahnung erfaßt, und ergriff sie am Handgelenk; „Du dachtest an einen Andern! Wer ist es?" Aber sie riß sich los, und ihr Gesicht verhüllend wollte sie mir entfliehen. Ich hielt sie zurück, ich zerrte ihre Hände von den bleichen Wangen, und wild in ihre Augen schauend, die meinem Blicke auszuweichen suchten, schrie ich: „Du hast mich verrathen, Sabine; Du hast heimlich ein Verhältniß unterhalten, welches das Licht des Tages scheuen muß." ' Sie schwieg und starrte zu Boden. „So sprich, vertheidige Dich," flehte ich in Seelenangst. „Sag' mir, daß ich Dich ungerecht beschuldige." Aber sie gab keine Antwort, plötzlich lag sie vor mir und weinte wie eine Verzweifelte. Ich hob sie auf, ich bat, schmeichelte, drohte, bis ich endlich erfuhr, was vielleicht schon die halbe Stadt wußte, nur ich Verblendeter nicht, daß meine Schwester, meine holde, sanfte Sabine, die Geliebte eines Offiziers sei, der bei Jedermann als leichtfertig und charakterlos verrufen war."
Der alte Mann schwieg. Seine Brust hob und senkte sich hastig. Wendelin saß mit klopfendem Herzen vor dem Vater, der in Erinnerungen verloren ganz vergessen zu haben schien, daß er zu seinem kaum den Knäbenjahren entwachsenen Sohne sprach.
(Fortsetzung folgt.)
— Die größten Kirchen, die's gibt, sind die Peterskirche in Rom, der Dom in Mailand und der Cölner Dom. Man sagt, sie faßten je 54 000, 37 000 und 30000 Menschen. Gehen denn aber auch so viele hinein?