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Dienstag, 30. September 1047

Wolfsburg, dieStadt ohne"

G. W. Mitten aut ein leicht gewelltes Ge­lände von Aeckern und Weiden in der Ge­gend des Städtchens Fallersleben baute man ein Jahr vor dem Krieg plötzlich zwei- und dreistöckige Wohnblöcke. Es geschah auf Führerbefehl. Ejnen Namen wußte man dem seltsamen Gebilde nicht zu geben; es erhielt nach dem genau so überstürzt errichteten Volkswagenwerk provisorisch die Bezeichnung Stadt des KdF-Wagens. Wolfsburg heißt die Stadt seit ihrer Namengebung durch"die Amerikaner unmittelbar nach dem Zusam­menbruch. Sie ist dieStadt ohne: ohne Kirche, ohne Bahnhof, ohne Post, ohne Schu­len, ohne Krankenhaus. Alle diese Einrich­tungen sind in Baracken untergebracht, die dringend, so baufällig sind sie, des Ersatzes durch massive Bauten bedürfen.

Wolfsburg ist die Stadt ohne Eigentum. Als es gegründet wurde, ging sämtlicher Grund und Boden in den Besitz der Deut­schen Arbeitsfront Jiber. Es gab in den Dör­fern Rothenfelde, - Heßlingen und Wolfs­burg, auf deren Areal die Stadt emporwach­sen sollte, keinen Privatbesitz mehr. Die Bauern und Handwerker mußten verkaufen. Auch heute noch ist die DAF, die treuhände­risch verwaltet wird, alleiniger Grundbe­sitzer. Nicht einmal die öffentlichen Straßen gehören der Stadt. Die Frage, wer eines Ta­ges die öffentlichen Bauten errichten wird, deren die Stadt bedarf (3500 Schulkinder und 1700 Berufsschulpflichtige werden in Ba­racken unterrichtet), ist durch die Rechtsver­hältnisse so kompliziert, daß sie in letzter Instanz nur der Kontrollrat in Berlin ent­scheiden kann. Wie könnte die Stadt bauen, da ihr nicht einmal der Boden gehört, auf

Fühlbare Diskrepanz Nürnberg. Im Berufungsverfahren gegen Hans Fritzsche forderte im Schluß­plädoyer der Berufungskläger Julius Serwe die Einstufung des Angeklagten in die Gruppe der Hauptschuldigen. Die Anklage werfe ihm nicht vor, die unter Hitlers Re- "gierung verübten Verbrechen gewollt zu haben, sie sei aber der Ueberzeugung, daß er lediglich aus Opportunität Verbrechen unter­stützte, entschuldigte, verteidigte und pro­pagierte. Hans Klapper, der erste Be­rufungskläger im Verfahren, stellte in seinem Schlußplädoyer ebenfalls den Antrag, gegen Fritzsche als Hauptschuldigen zu erkennen. Er forderte eine Höchststrafe von zehn Jah­ren Arbeitslager unter Nichtanrechnung der bisher absolvierten Haft und ein Tätigkeits­verbot auf die Dauer von zwanzig Jahren. Der Verteidiger Fritzsches aber, Dr. Alfred Schilf, ließ die Diskrepanz zwischen der Auf­fassung der Anklage und der der Verteidi­gung besonders dadurch fühlbar werden, daß er zu den Anträgen der Kläger gar nicht Stellung nahm. Er sagte, sie seienvöllig übertrieben. Das Befreiungsgesetz rücke ausdrücklich von Haß und Vergeltung ab. Außer dem Genpralstaatsanwalt Heinrich Braun seien keine weiteren Belastungszeugen erschienen. Entweder hätten also diese Zeu­gen in der Zwischenzeit ihre Meinung ge­ändert, oder sie hätten sich den Entlastungs­zeugen gegenüber, die als Journalisten Fach­leute seien, nicht gewachsen gefühlt. Fritz­sche sagte dann, er fühle sich nicht schul­dig. Seiner Meinung nach sei seine Unschuld erwiesen. Man könne ihm keine Verbrechen nachweisen. Als er darüber aussagen wollte, wie man ihn im Internierungslager Regens­burg behandelt hätte, wo er auf Anordnung von Loritz in eine Dunkelzelle gesperrt wurde, unterbrach ihn der Vorsitzende und erklärte, daß er seine Arbeit als Spruch­kammervorsitzender eingestellt habe, als er durch die Presse von dieser Maßnahme er­fahren habe. Erst nach der Entlassung von Loritz- sei er in sein Amt zurückgekehrt. Wenn Jeder Nationalsozialist sich so verhal­ten hätte, dann wäre vieles Unglück nicht geschehen. Die Kammer vertagte sich auf Dienstag zur Urteilsverkündung.

dem die Baracken stehen? Ihren einzigen Besitz, das Schloß Wolfsburg, einen Renais­sancebau aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, hat sie kürzlich für 700 000 Mark an das Land Niedersachsen verkauft, das hier Schwerbeschädigte, jugendliche Arbeiter Und Jugendliche, die erzieherischer Ueberwachung bedürfen, unterbringen will. Sie alle sollen im Volkswagenwerk arbeiten.

Diese Stadt ist gar keine Stadt, sagt der Stadtdirektor,sie will erst eine werden, und er spricht von Schwierigkeiten, die es mit der Leitung des Werkes gebe, die in ihr nur eine Art Werkssiedlung sehe und ihr keine Selbständigkeit zugestehen wolle. Un­vermittelt stehen die alten kleinen Bauern- und Landarbeiterhäuschen, die baufälligen, noch heute dicht besiedelten Barackenstädte und die neuzeitlichen Wohnblöcke (mit mo­dernen elektrischen Küchen und Fernhei­zung ein Fiasko in der Strenge des letzten Winters) nebeneinander. Die viel zu breiten Straßen sind halbfertig, mit doppelten, asphaltierten Fahrbahnen, abrr meist ohne Gehsteige. Brachliegendes häßliches Bauge­lände klafft dazwischen; Felder und Wiesen erstrecken sich unmittelbar bis an die Häu­ser. Seit zwei Jahren steht ein Bauabschnitt mit zu 80 Prozent fertigen Wohnungen un­

genutzt in Wind und Regen; es ist nicht möglich, ihn zu vollenden. Daneben wohnen in Baracken 1600 Menschen in Massenunter­künften. Beim Zusammenbruch bestand die Einwohnerschaft zu zwei Fünfteln aus Aus­ländern. Heute leben 23 000 Menschen in diesem. Stadttorso. Mehr als 30 000 werden es vermutlich niemals werden. Demgegen­über stelle man sich vor, daß man von einem Ende des Ortes zum andern acht Kilo­meter zurückzulegen hat. Wie die Stadt, so hängt auch die Bevölkerung in der Luft. Keiner der Bürger hat Eigentum an Haus, Hof oder Land, nicht einmal einen Schreber­garten kann er besitzen.

Stadtdirektor Dr. Dahme ist kein Freund des Gedankens, daß etwa die Gewerkschaf­ten den gesamten Besitz von der DAF über­nehmen sollten; er meint, man solle der Stadt geben, was sie für die öffentlichen Ge­bäude brauche, und alles andere zum Kauf ausbieten, damit private Initiative etwas schaffen könne. Das Volkswagenwerk, das sich in einem mächtigen Baublock von zwei Kilometer Länge am Mittellandkanal hin­zieht, arbeitet voll (freilich vorerst fast nur für die Dienststellen der Militärregierung). Die monatliche Produktion -ließe sich leicht auf 4000 Wagen steigern, aber Kohle und Stahl fehlen. 8000 Mann stehen heute hier in Ar­beit. Dauernd verlangt das Werk nach neuen Fachkräften. Wolfsburg ist auch die Stadt ohne Arbeitslose.

Uie Glottse

DIE KURZE NACHRICHT

Deutschland auf gefordert Deutschland, Japan und Korea wurden aufgefordert, Vertreter in beratender Funktion zur Teil­nahme an der Welthandelskon­ferenz der Vereinten Nationen zu entsenden, die am 21. No­vember in Havanna beginnen wird.

L xemburgische Wünsche Das Großherzogtum Luxemburg fordert kleinere Grenzberichti­gungen im Kreise Bitburg. Lu­xemburg wird möglicherweise die in diesem Grenzstreifen le­benden Deutschen nicht über­nehmen wollen.

Bedauernd abgelehnt Der Ministerpräsident von Nord­rhein-Westfalen, Karl Arnold, hat die Einladung des ameri­kanischen Gewerkschaftsver­bandes AFL, zu seinem Kongreß nach USA zu kommen, ableh­nen müssen. In seinem Tele­gramm sagte er, daß die Ver­sorgung mit Fett und Kartoffeln in Westfalen besorgniserregend schlecht sei, und daß er sich deswegen nicht löngere Zeit von seiner Arbeit trennen könne. Arnold wünschte der Tagung, sie mögezu einem Meilenstein auf dem Weg zur endlichen Be­freiung der Menschheit von Furcht und Not werden.* 1

Einladung nach Schweden Dr. Kurt Schumacher wurde von den schwedischen Sozial­demokraten zu einem Infor­mationsaustausch nach Schwe­den eingeladen.

Fleisch auf Vorrat Das bayerische Staatsministe­rium für Ernährung hat mit der Hauptverwaltung für Ernährung und Landwirtschaft in Frankfurt vereinbart, an die Bevölkerung des Landes Bayern als Haus­haltsvorrat 1000 Gramm Fleisch je Person auszugeben, wenn das Fleisch der notbedingten Vieh­schlachtungen durch den Mangel an Konservierungsmöglichkeiten nicht der staatlichen Vorrats­wirtschaft zugeführt werden könnte. Die Hauptverwaltung in Frankfurt sagt dazu, daß die Ausgabe von 1000 Gramm Fleisch in Bayern keine Sondervergün­stigung wäre. Alle Fleischlie­ferungen nach Bayern wurden gesperrt.

Eine deutsche Sache

In Köln fand eine Besprechung zwischen Lord Pakenham und deutschen Emährungsfachleu- ten statt. Dabei wurde be­kanntgegeben, daß. die britische

Militärregierung die Exekutiv­gewalt Dr. Schlange-Schönin- gens wesentlich erweitern wolle. Die englischen Stellen würden der deutschen .Verwal­tung alle Hindernisse aus dem Wege räumen, die sich ihren Arbeiten in den Weg stellten. Die Verteilung sei Sache der deutschen Stellen. England hoffe, daß sich die deutschen Behörden ihrer großen Verant­wortung bewußt seien.

An Rußland ausgeliefert Graf Bassewitz-Behr, der von einem Militärgericht in Ham­burg von der Anklage freige­sprochen wurde, an der Tötung von sowjetischen Staatsangehö­rigen und Konzentrationslager­häftlingen beteiligt gewesen zu sein, wurde an die Sowjet­union ausgeliefert. Graf Basse­witz hat einen Selbstmordver­such unternommen, als er da­von erfahren hatte.

Bald abgeschlossen Nach einer Erklärung der Zen­tralverwaltung für Umsiedler für die sowjetische Zone dürfte, die Einschleusung der Millionen Deutschen aus den Ostgebieten noch in diesem Jahre abge­schlossen werden.

Urteil gegen Dr. Schmitt Der Reichswirtschaftsminister und Preußische Handelsminister von 1933 bis Juli 1934, Dr. Kurt Schmitt, wurde von der Spruch­kammer in die Gruppe der Minderbelasteten eingereiht. 15 Prozent seines Vermögehs sol­len eingezogen werden. Er er­hielt zwei Jahre Bewährungs­frist.

Schwierigkeiten beim IRK Auf der, Konferenz der Inter­nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes forderten die slawischen Länder für sich eine vordringliche Hilfe, weil sie am meisten unter der faschisti­schen Aggression gelitten hät­ten, sie weigerten sich aber, über die Verteilung der Spen­den eine Kontrolle zuzulassen.

Eine große Differenz

Im Mai dieses Jahres begann das Rote Kreuz in Oesterreich mit einer Suchaktion nach Oesterreichern, die im Osten vermißt wurden. Das Rote Kreuz meldet nun, daß es sich etwa um 100 000 Vermißte han­delt. Von sowjetischer Seite ist dem Innenministerium mitge­teilt worden, daß sich 45 000

Oesterreicher in Rußland befin­den. Das Schicksal von 55 000 Menschen ist daher noch unge­wiß.

Spurlos verschwunden Nach einer Meldung desWie­ner Kurier ist der Wirtschafts­direktor des Werkes Kirchen in Oesterreich, Bernhardt, von ei­nem Besuch im sowjetischen Sektor der Stadt nicht mehr zurückgekehrt. Alle Nachfor­schungen über seinen Verbleib sind bisher ergebnislos geblieben.

Parodie auf die Justiz Nachdem Petkofi in Sofia hin­gerichtet worden ist, begann vor dem Sofioter Bezirksgericht ein Prozeß gegen 32 Offiziere der bulgarischen Armee, denen man vorwirft, mit der Bauern­partei Petkoffs zusammen einen antirepublikanischen Staats­streich geplant zu haben. Der öffentliche Kläger forderte da­bei für den General Stancheff und einen Obersten die Todes­strafe. Auch die britische Re­gierung hat nun gegen v.die Hin­richtung Petkoffs protestiert. In der Note wird ln scharfen Wor­ten gesagt, daß das britische Volk betroffen sei über ein Ge­richt, das einen Menschen nur seiner politischen Ueberzeugung wegen zum Tode verurteile. Die drei Richter und die beiden Staatsanwälte seien Kommuni­sten gewesen. Die drei von den Angeklagten gewählten Anwälte wären sofort festgenommen wor­den.Die Art der Prozeßfüh­rung zeigt, daß das gesamte Verfahren nichts anderes war, als eine Parodie auf die Justiz**.

Prozeß gegen Maniu Das Datum für den Prozeß ge­gen den ehemaligen Vorsitzen­den der aufgelösten rumäni­schen nationalen Bauernpartei, Julius Maniu, der jetzt im 75. Lebensjahr steht, wird voraus­sichtlich am 15. Oktober in Bukarest beginnen.

Hirohito wurde entlastet Im Kriegsverbrecherprozeß vcn Tokio wurde Kaiser Hirohito durch Generalstaatsanwalt Kee- nan von der Schuld am Ausbrucn des Krieges im Pazifik entlastet Ein von der Verteidigung aufge­rufener und durch Keenan ver­nommener Zeuge hat erklärt, daß der Kaiser sich gegen die Fortsetzung des Krieges gewehit habe, und daß er auch nicht in der Lage gewesen sei, den An­griff auf Pearl Harbour zu ver­hindern.

Demontage der Demokratie

a. k. DerMünchner Mittag hat als ersi.es deutsches Blatt seine Leser auf die Nach­richtensendungen des Rundfunks hinweisen müssen, wenn sie einigermaßen vollständig und schnell unterrichtet sein wollten, da die Zeitung die Gewähr dafür nicht mehr über­nehmen könne. Vielleicht kann man einen Zusammenhang darin erblicken, daß dies ge­schah, nachdem der bisherige Chefredakteur des Münchner 'Senders Lizenzträger des Blattes geworden war. Es bleibt aber auf alle Fälle eine Bankrotterklärung der Presse aus Gründen, die nicht in ihr selbst liegen. Denn gleichzeitig hat dieWirtschafts-Zei- . tung in Stuttgart ihre Bezieher bitten müs­sen, ihr doch Altpapier zu senden, wenn sie weiter beliefert werden wollten, da in der amerikanischen Zone die Buch- und Zeit­schriftenverlage für das beginnende Quartal überhaupt kein Papier zugeteilt erhielten.

In allen vier Zonen wird Papierholz in großen Mengen gefällt. Es kommt aber den deutschen Zeitungen nur zu einem kleinen Teile zugute; am meisten immer .noch in der Ostzone, von wo denn auch eine Ueberflutung des deutschen Zeitungsmarktes mit dem Ge­dankengut der SED erwartet wird, so daß sich die Zeitungsverleger der Bizone bereits dagegen zur Wehr setzen zu müssen glaubten. Dagegen könnte man sich schützen. Aber der Hinweis auf den Rundfunk bietet keineswegs überall "die Gewähr für eine Nachrichtenaus­wahl und -bearbeitung, die den Wünschen und den Gesinnungen der Hörer entspricht. Man erinnere sich, daß etwa gerade in Mün­chen die Rundfunkkommentare lange Zeit von Herbert Geßner verfaßt wurden, der in­zwischen dahin gegangen ist, wohin er ge­hörte, nach Berlin nämlich, und dort in der­selben Nummer derWeltbühne, mit der wir uns an anderer Stelle befassen müssen, mit einer netten kleinen Öenunziation eines Kabaretts debütierte, das sich des Crimen laesae Majestatis gegenüber Wilhelm Pieck schuldig gemacht hatte. Entspricht in der amerikanischen Zone schon die Haltung der Lizenzpresse nicht der Volksstimmung, wie sie sich in den Wahlergebnissen spiegelt (sieheUmstrittene Lizenzpresse in Nummer 38 derSchwäbischen Zeitung vom 13. Mai 1947), so gilt das in noch erhöhtem Maße vom Rundfunk. Die Besetzung Deutschlands hat nicht zuletzt den Zweck, zu gewährleisten, daß unser Volk nicht wieder totalitären Parolen verfällt, die es zu einer Gefahr für sich selbst und die Umwelt machen. Jüngst gebrauchte der Landtag von Nordrhein-Westfalen das WortDemontage der Demokratie. Es klang pathetisch und mißfiel. daher. Wenn aber die Arbeit der demokratischen Presse weiter so behindert wird wie bisher, dann kann es doch noch Wahrheit werden.

AM RANDE

Auf einer Funktionärsitzung der SED in Leipzig wurde mitgeteilt, daß Austrittserklärungen nicht mehr entgegenzunehmen und die Betreffenden aut die Gefahr einer solchen Handlungsweise hinzu­weisen seien. Die SED werde bald die Staats­partei der Ostzone sein und die bürgerlichen Parteien würden verschwinden.

Arbeiter, die. für den Uranbergbau lm Erzge­birge dienstverpflichtet werden, müssen ihre Zivilkleidung abgeben. Falls sie flüchten, können sie dann wegen Diebstahls der Arbeitskleidung oder, wenn sie ihre Zivilkleider wiederzuerlangen versucht haben, wegen Einbruchs verfolgt werden.

Bei der Kartenausgabe für die 106. Versorgungs­periode, die mit einer Kontrolle der Arbeitspässe verbunden war, wurden in Essen 6000 Lebens­mittelkarten nicht abgeholt.

Aus den Vereinigten Staaten können nach allen vier Besatzungzonen Deutschlands von nun an gewöhnliche v d Luftpostsendungen im Höchst­gewicht von i. 1 Gramm versendet werden.

^din)öbif(1)p3rilung

Redaktion: Albert Komma, Johannes Schmid. Verlag: Schwäbischer Verlag, KG., Friedrichshafen, in Leutlcirch. Druck: Kottweiler Verlags- und Druckereigenossenschaft, Kottweil.

Die Kannibalen von Krahira

Von Hermann Stresau

Muley ibn Said, ein annoch unbekannter Verfasser eines interessanten Memoirenwer­kes aus dem 15. Jahrhundert, erzählt- darin folgendes, was wir in annähernd wortgetreuer Uebertragung aus dem Arabischen wieder­zugeben versuchen:

Von Zeit zu Zeit führten mich meine Reisen ln die Stadt Krahira, welche, anmutig in einem fruchtbaren Tale gelegen, von den Schrecken des Krieges fast ganz verschont geblieben war durch die Gnade des Allbarm­herzigen. Ich besaß dort mehrere gute Freunde, mit denen ich die Abende zu ver­plaudern pflegte, ihre Gastfreiheit genießend sowie die Annehmlichkeit anmutiger Rede und geistvoller Gedanken. Denn es waren zumeist Schriftgelehrte, Kenner des Korans und der Dichtung, auch ein Astronom war darunter, und auf dem Altan meines Freun­des Jussuf, des hervorragenden Annalen- schreibers und Verfassers überaus vortreff­licher Gedichte, saßen wir, Sorbet schlürfend und den Tschibuk rauchend, monddurchglühte Nächte hindurch und ergötzten einander mit Gesprächen, in welchen Ernst und Scherz sich aufs köstlichste vermischten.

Ich sagte bereits, daß Krahira, eine Stadt von mittlerer Größe, von den Unbilden des Krieges, der so viele Städte in Schutt und Asche gelegt, fast nichts verspürt hatte, so­weit es. den Besitzstand der wohlhabenden und in Muße lebenden Einwohner betraf. Ihre Häuser waren unbeschädigt geblieben, ihre Gärten blühten in unversehrter Frucht­barkeit, und selbst der Mangel an Lebens­mittein ward hier nicht in so unerträglichem Maße spürbar wie anderwärts, da viele Ein­wohner sich aus ihren Gärten ernährten und überdies gute Beziehungen zu den Bauern der

Umgegend pflegten, welche, die regelnden Bestimmungen des Kalifen (Allah segne ihn!) umgehend, den Städtern gern ihre Erzeugnisse gegen gute Kleider, Teppiche, kostbare Ge­schmeide und ähnliche Dinge eintauschten, so daß manch ein Bäuerlein zu imgeahntem Wohlstand gedieh, während die Gespräche der Städter beherrscht wurden von dem Stand ihrer Tauschgeschäfte. Meine Freunde in­dessen verachteten diese Gespräche; nicht als ob sie nicht hier und da auch von der Möglichkeit einen bescheidenen Gebrauch machten, gegen einen entbehrlichen Seiden­schal oder eine nicht ganz kostbare Mokka­tasse ein Viertel Ziegenlamm einzutauschen, um ihrer Gastlichkeit keinen Abbruch zu tun und der mageren Kost ein wenig aufzuhelfen, das sei ferne! Aber sie behandelten derlei Geschäfte leichthin als etwas Beiläufiges, worüber eine kleine Weile zu lachen oder zu schmunzeln allenfalls statthaft sei, wie sie sich überhaupt dazu anhielten, die Würde eines wahren Moslems und Gläubigen des Propheten nicht untergehen zu lassen in den Begehrlichkeiten des Bauches, der, wie man weiß, der Vater der Trübsal ist. So erhei­terten sie sich eher über viele ihrer Mitbür­ger, die bereit waren zu jammern, wenn ihnen dieses oder jenes abging, und gleich Ham­stern ihre Vorräte bewachten und sowohl gegen Diebe zu sichern suchten wie gegen die zahlreichen, während des Krieges aus anderen Gegenden hierher übergesiedelten, größten­teils besitzlosen Flüchtlinge.

Diese Flüchtlinge, welche die Zahl der Ein­wohner Krahiras nahezu verdoppelt hatten, bildeten für diese in der Tat fast die einzige wirkliche Belastung, die sie dem Kriege ver­danken mochten. Sie waren zumeist besitz­los, da sie in ihren Heimatorten alles verloren hatten, was Gott und ihr Fleiß ihnen ge­schenkt. Sie mußten ernährt, vielfach sogar

bekleidet werden, und was in den Augen der Krahiraner das Schlimmste schien: sie muß­ten Unterkunft finden, so daß kaum ein Haus von der unwillkommenen Einquartierung ver­schont blieb, wie die Anordnungen des Ka­lifen Allah schenke ihm Gesundheit! es vorschrieben nach dem Ausspruch des Propheten: übe Milde gegen den, der Not leidet, auf daß auch du Milde erfahrest vor dem Allwissenden. Wie erstaunt aber war ich, als meine Ifreunde eines Abends, als wir auf Jussufs blumenumrankten Altan die duf­tende Mondnacht genossen, viele Geschichten erzählten von der Hartherzigkeit der Krahi­raner nicht nur, sondern von den seltsamsten Erscheinungen der Diebesangst und der Scheelsucht. Ich fragte die Freunde, ob die Krahiraner nicht miteinander wetteiferten in der Milde und liebreichen Hilfe gegen die Unglücklichen, die der Krieg so hart betrof­fen, da jene ja allen Grund hätten, ihr Glück zu preisen und Allah zu loben, der sie so gnädig verschont. Oh ja, erwiderten sie, die Zahl derer, die eine offene Hand bewiesen, sei nicht ganz gering. Aber sie träten in den Schatten der Stille gegenüber denjenigen, die da glaubten, Allah habe ihnen um ihres Be­sitzes willen so viel Huld erwiesen.

Ist es möglich, rief ich, daß ein Moslem der vierten Sure des Korans vergißt, worin der Prophet verkündet hat: die Geizigen und die, welche auch anderen Menschen Geiz änra- ten und das verheimlichen, was Gott in sei­ner Güte ihnen zuteil werden ließ, sind Un­gläubige, und für sie ist schimpfliche Strafe bestimmt? Oder die Worte der 102. Sure: Ihr wollt nur mehr Geschlecht und Habe, und gehet darüber zu dem Grabe?

Hier begann Achmed, der sprachkundige Gelehrte, der die Schriften vergangener Völ­ker des Abendlandes erforscht und ausge­legt hat, mit leiser Stimme zu sprechen:

O Muley, du Weitgereister, gut kennst du den Koran. Aber ich fand erst gestern in der Schrift eines Weisheitslehrers jenes Vol­kes, welches die Römer genannt wurde und einst die ganze Welt beherrschte, den Satz, daß die Glücklichen und jedes Mißgeschicks Ungewohnten ein überaus empfindliches Ge­müt besitzen und, wenn nicht alles nach Wunsch geht, durch die geringste Kleinigkeit niedergeschmettert werden. Derselbe Weise sqgt in seinem Buche, daß mit dem letzten Tage des Lebens auch das beständigste Glück dahinschwinde. Meinst du, der Ungläubige habe solches gesagt, ohne tiefe Blicke in die Seltsamkeit so vieler Menschen getan zu haben, die, wie es scheint, sich überall und zu jeder Zeit wio die Narren aufführen? Nicht wie die Narren, mein Achmed, fiel hier Mahmud ein, der Großkaufmann und Beschützer der schönen Künste,nicht wie Narren, sondern wie Kannibalen benehmen sie sich. Du mußt wissen, o Muley, «fes ist die Bezeichnung, die wir für diese Menschen gefunden haben: die Kannibalen von Krahira. Aber was tun sie denn, diese Kannibalen? fragte ich ungeduldig.Ihr spracht von Seltsamkeiten der Diebesangst?

Seltsam fürwahr, sprach Auda ibn Ali, der Astronom, welcher selber ein Flüchtling .war und außer einigen Tabellen, die. er ge­rettet, nichts sein eigen nannte,seltsam, kann man wohl sagen, benehmen sie sich. Siehe, ich habe mit meinem Weibe und mei­nen Kindern eine kleine Wohnung gefunden in dem Hause eines Krahiraners, der über gute Beziehungen zu den Bauern verfügt. Ich kann mich solcher Beziehungen nicht er­freuen, denn ich habe nichts zu bieten als meine Kenntnisse. Mein Hauswirt ist kein unfreundlicher Mann, aber die Größe seiner Vorräte muß ihm den Sinn verwirrt haben.

(Fortsetzung folgt).