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Berliner Sommer 1947

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III.

Ich bitte alle Angeklagten um Verständnis dafür, daß zur Zeit ihr Fall behandelt wird und nicht der meine, sagt der Rechtsanwalt, der für einige Monate die Funktion eines Richters für kleine Schwarzmarktsünder an einem Berliner Amtsgericht einnehmen muß, weil der Mangel an Richtern enorm ist.Und die meisten verstehen mich gut, fügt er hin­zu,obwohl alle sich mit dem Argument ver­teidigen, es gäbe heute keinen Menschen mehr in Berlin, der nicht auf Grund der be­stehenden Gesetze verurteilt werden könnte. Ja, und in der Pause gehe ich dann hinaus und bespreche mit dem Staatsanwalt die neuesten Butter- und Brikettpreise. Damit schließt der Richter das Gespräch- Er ist sehr nachsichtig in seinen Urteilen. Wie könnte er auch streng sein! Die Gemüsefrau meiner Wirtsleute wartet seit Monaten darauf, ihre zweieinhalb Jahre Gefängnis absitzen zu kön­nen. Sie wird noch lange warten; die Gefäng­nisse sind überfüllt.

Hierum, um den schwarzen Markt, kreisen die Gespräche in Berlin wie um ein Lebens­elixier. Denn trotz der hohen Rationen um­schleicht der Tod jeden, der nur von der Nor­malverbraucherkarte lebt. Erst Ende Juli wurde das Zeitalter der Suppen, das seit An­fang des Jahres in Berlin herrschte, allmäh­lich abgelöst durch die neue Kartoffelernte. Den meisten waren die Kartoffeln im Winter erfroren. Bis jetzt hatte es an ihrer Stelle Mehl gegeben, das nur für Suppen und Mehl­klöße verwandt werden konnte. Obst und Milch sind Fremdwörter (das Pfund Aepfel kostet 8 Mark im schwarzen Handel), Käse gibt es überhaupt nicht, eine der drei De­kaden im Monat wird stets statt mit Fleisch, mit Fisch beliefert, das Fleisch selbst ist von minderster Qualität (das gute wird in Bayern selbst gegessen), die Wurst ist fast immer v eine gummiartige, wäßrigeJagdwurst, die erbärmlich schmeckt, Fett wird nur zum Teil mit Butter beliefert, der Rest ist Margarine. Wer in Restaurants ißt, kann die Virtuosität bewundern, mit der die Wirte Markenabga­ben erzwingen. Ein rosa Brei, der nach ver­faultem Kürbis schmeckt und nicht größer ist als die Hälfte eines Handtellers, ist mit 200 Gramm Kartoffelmarken als Kartoffelbrei auf der Karte ausgezeichnet- Die Maggi-Erbs-

Er war nicht einverstanden

Nürnberg. Der Verteidiger Curt Rothenbergers im Juristenprozeß legte eine eidesstattliche Erklärung des Zeugen Fritz Valentin vor. Valentin ist Landgerichtsdirek­tor in Hamburg. Darin heißt es, daß der Zeuge Dr. Rothenberger genau gekannt habe. Er habe sich mit dem Angeklagten des öfteren über die Judenfrage unterhalten Valentin ist Jude und war noch bis 1934 In Hamburg als Richter tätig und er habe dabei feststellen können, daß Rothenberger sich mit der Politik Hitlers nicht einver­standen erklärt habe. Auch sei er nicht anti­semitisch eingestellt gewesen. Später hätte Rothenberger versucht, dafür zu sorgen, daß Valentin nach seiner Entlassung die volle ( Pension erhalte.

Flick kritisierte heftig

Im Prozeß gegen Friedrich Flick sagte der Angeklagte Odilo Burkart aus, daß Flick seiner inneren Einstellung nach- kein Nazi gewesen sei. Die Diskusäonen über die Großen des Reiches seien anfangs sehr vor- ächtig gewesen, im Laufe der Jahre aber hätte ihm Flick häufigsehr offen das Herz ausgeschüttet. Er habe die Regierung heftig kritiäert, und überHitler habe er ihm ein­mal gesagt, daß er ein Verbrecher sei, der das ganze Volk vernichten werde. Flick habe den Krieg für ein furchtbares Unglück ge­halten, dem sein Vaterland, sein Werk und seine Familie zum Opfer fallen würden.

Wurstsuppe (in Tassen serviert), Preis 00 Pfennig, kostet 25 Gramm Nährmittel und 9 Gramm Fett.Die 8 Gramm Fett, sagt der Kellner,werden von unserer Küche immer hinzugetan, um die Suppe nahrhafter zu machen. Er hat seine Erklärung ein wenig zu behende bei der Hand. Sie rasselt wie ein- gelemt heraus.Das glauben Sie doch selber nicht, sage ich und sehe zum Boß herüber, der gerade ein paarKurze trinkt, ein Stark­bier dazu und die offene Schachtel Camel neben sich hat.Na, ja, meint der Kellner versöhnlich,es will eben jeder fett werden. Es will jeder fett werden. Aber nur weni­gen gelingt es. Die Masse arbeitet ameisen­gleich und wird dünn und dünner, schmal und ausgemergelt. Wer umfällt, fällt um. Ihm kann es passieren, daß er liegen gelassen wird, aber noch ist es wahrscheinlicher, daß sich an ihm immer und immer wieder die Hilfsbereitschaft des echten, kaltschnäuzigen und warmherzigen Berliners bewährt, die im optimistischen Sommer 45 so tausendfach exerziert worden ist- Schon ist der Berliner Witz von Bitterkeit durchsetzt, aber noch ist er vorhanden. Noch hofft der Berliner, daß der dicke Strich nicht endgültig mitten durch seine Stadt geht, aber schon erkundigen sich Vorsichtige nach den Zuganschlüssen in ande­ren Zonen. Der Berliner Ist der an einem

Uebereinkoaunen der Mächte meistinteres- sierte Mann der Welt. Er liest aufmerksam die Zeitungon alelr Sektoren, aber nicht mehr mit den Augen der frisch-fröhlichen Presse­fehde, wie vor einem Jahr (die er lange ge­nug entbehrt hatte), sondern mit heftigen Sorgen. Die rein sezierende Gelassenheit ist bereits ein wenig ins Wanken gekommen. Mit dem Worte Attentismus ist die Haltung des Berliners- keineswegs mehr ausreichend gekennzeichnet. Die Akteure sind zu nahe ge­rückt, die Szene hat zuviel Leben bekommen, als daß der Zuschauer im Parkett, der nicht weiß, ob er die Türen nicht versperrt findet, wenn er ins Freie will, sollte Ihm die Bühne zu turbulent werden, mit unbeteiligter Ruhe dem Spiel folgen könnte, das sich da mitten ln seiner Welt abspielt. Das Wissenwollen, woran man ist, ist nirgends dringlicher als in Berlin. Es beginnt bei Borsig und endet bei der kleinen Anfrage an die Weltgeschichte: Was geschieht in London und was kommt danach?

Berlin hat sich noch nie aufgegeben. Es ist nicht gestorben, als der Krieg in seinen Mauern zusammenschlug, und nicht danach, als es eine Weltreise bedeutete, von Pankow nach Halensee zu kommen. Der Realismus des Berliners war immer seine Stärke- Seine Gefahren liegen in den Verhältnissen, nicht in seinem Wesen an sich. Oder, um mit Bert Brecht zu sprechen:Der Mensch wär gut und nicht so roh doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Alexander Kirchheim Ende

DIE KURZE NACHRICHT

Exodus-Flüchtlinge In Hamburg Die jüdischenExodus-Emi- granten sind auf ihren Schiffen in Hamburg eingetroffen. Bri­tische Beamte begaben sich an Bord und unterrichteten die Flüchtlinge über den Entschluß der britischen Behörden, ihnen am Montagmorgen eine Stunde zum friedlichen Verlassen der Schiffe zu gewähren. Die jüdi­schen Führer hörten sich die Bekanntmachung wortlos an und äußerten nur die Bitte, mit Vertretern der Jewish Agency konferieren zu dürfen. Sie ha­ben jedoch inzwischen- die Schiffe geräumt, wobei Ihnen britische Soldaten behilflich waren. Lautsprecher spielten dazu Tanzmusik. Der britische Gouverneur von Hamburg er­ließ eine strenge Nachrichten­sperre, gegen die amerikanische und britische Pressevertreter telegraphisch bei Sir Sholto Douglas Protest einlegten. Die Emigranten sollen unter stren­get Bewachung ln die Lager Pöppendorf und Stau in der Nähe von Küchnitz gebracht werden.

Hitlers Hoffnungen 1940 Das Geheimnis, warum die deut­sche Invasion ln Großbritan­nien seinerzeit unterblieb, wurde durch Tagebuchaufzeichnungen des ehemaligen deutschen Ge­neralstabschefs Franz Haider gelüftet, die der Presseoffizier der amerikanischen Anklagever­tretung in Nürnberg am Sams­tag veröffentlichte. Danach plante Hitler die Invasion im Herbst des Jahres 1940, verbot aber schon im Oktober alle Vorbereitungen,da die Inva­sion einen Fehler bedeuten würde. Er sei der Ansicht gewesen, daß Deutschland schon einen anderen Weg finden werde, um Großbritannien zu unterjochen. Der Krieg sei ohnedies schon gewonnen, und das übrige sei lediglich eine Frage der Zeit.

Deutsche Presse im Ausland Oberst Textor kündigte auf der internationalen Pressetagung im Auftrag der amerikanischen Re-* gierung an, daß deutschen Kor­respondenten schon ln naher Zukunft Gelegenheit gegeben werden soll, auch über Ereig­nisse außerhalb Deutschlands zu berichten. Wenn möglich, wolle man den deutschen Korrespon­

denten schon gestatten, dem Londoner Außenministertreffen im Herbst beizuwohnen.

Berliner Direktoren vor Gericht Sechs Direktoren der Askania- Werke, in denen die amerika­nische Militärregierung Kriegs­material gefunden hat, das im Auftrag einer fremden Macht* hergestellt worden war, stehen nun vor einem amerikanischen Militärgericht. Sie sind ange­klagt, gegen das Kontrollrats- gesetz Nummer 43 verstoßen zu haben, das die Lagerung, den Transport und den Verkauf von Kriegsmaterial untersagt.

190 000 Arbeiter werden benötigt Die in mehreren Nordseehttfen unter britischer Kontrolle ste­henden deutschen Minenräum­verbände werden bis zum Schluß dieses Jahres aufgelöst werden. Ihr Personal wird ln die Heimat entlassen. Der Prä­sident des Zentralamtes für Ar­beit in Lemgo erklärte ln die­sem Zusammenhang, daß es zur Zeit keine Arbeitslosigkeit"gäbe, da noch, der Erhöhung der Stahlquote wegen, mindestens 180 000 Arbeiter benötigt wür­den.

Kleiner Mann in großen Stiefeln Ein Sprecher des französischen Innenministeriums gab bekannt, daß die Leiter der jüdischen UntergrundbewegungStem- gruppe die Bombardierung Londons aus Privatflugzeugen geplant hätten, die sie ln Frankreich bereithielten. Es wurden bisher sechs Bomben entdeckt, über deren Spreng­stoff nichts ausgesagt wurde. Im Zusammenhang damit fan­den in Paris bedeutende Poli- zeioperationen statt, während derer zahlreiche Mitglieder der Irgun, die aus verschiedenen Ländern kamen und sich in Pa­ris trafen, verhaftet wurden. In London sind, wie das briti­sche Luftfahrtministerium be­kanntgab, Sicherheitsmaßnah­men getroffen worden, die so­lange aufrechterhalten werden sollen,wie die Situation es er­fordere.

Kreuzfahrer gegen Tito In Jugoslawien hat ein Partisa­nenkampf gegen Tito begonnen. Berichte von dort besagen, daß eine Partisanenvereinigung,die Kreuzfahrer, unter der Lei­tung von Oberst Palosevacs

mit 20 000 Anhängern in Süd­jugoslawien und 5000 ln Kroa­tien die Regierungstruppen be- < kämpfen. Sie sind im Besitz schwerer Waffen. Der Oberst ist Nachfolger des zum Tode verurteilten Generals Draga Mlhailowitsch. Die Kämpfe, die schon einbedeutendes Aus­maß angenommen haben sol­len, sollen in griechischen und bulgarischen Grenzgebietento­ben. Die Eisenbahnlinien sind unterbrochen. Zahlreiche Sol­daten sind zu den Aufständi­schen Übergegangen.

Um Haaresbreite Präsident Truman entkam am Samstag mit knapper Not dem Tode, als der Wagen, mit dem er eine Besichtigungsreise in die Umgebung von Rio de Ja­neiro unternahm, ln einer Kurve an den Rand einer Schlucht geschleudert wurde.

Mr. Browns Befürchtungen Als Gegengewicht gegen den Kommunismus sei die Unter­stützung der sozialistischen Ar­beiterbewegung ln Deutschland besonders wichtig, erklärte der . Hauptvertreter der amerikani­schen Gewerkschaftsorganisation AFO ln Frankfurt am Main. Wenn sich die deutsche Wirt­schaftslage und die gegenwär­tige Haltung der USA gegen­über der deutschen Politik nicht ändere, so sagte Brown, werden sich die Gewerkschaf­ten Westdeutschlands dem Kom­munismus zuwenden.

Eine widerliche Philosophie Der demokratische Senator von Florida, Claude Pepper, der des öfteren beschuldigt wurde, Sympathien für die Kommuni­sten zu haben, erklärte ln einem Interview:Ich hasse den.Kom­munismus. Ich halte ihn für eine widerliche Philosophie. Die Kommunisten glauben, nur dann erfolgreich zu sein, wenn der Kapitalismus verschwindet. Das muß für uns ein Grund sein, den Kapitalismus stark zu erhalten.

Brasilien ohne Kommunisten Der brasilianische Staatspräsi­dent erklärte vor amerikani­schen Pressevertretern, daß sich Brasilien in einem Prozeß der Auslöschung des Kommunis­mus befinde. Er erwarte kei­nerlei Schwierigkeiten von sel­ten der Kommunisten.

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Allzulange vermißt

A Es war im Kriege. In einer Stadt im Osten, die bis auf Widerruf zum Tausend­jährigen Reiche gehörte, gastierten die Schwestern Margot und Hedi Hopfner. Sie tanzten ziemlich schlecht. Der Berichterstatter eines (natürlich stramm nationalsozialistischen) Blättchens, selbst übrigens auch so in der Wolle gefärbt, daß er die schweizerische Staatsangehörigkeit aufgegeben hatte, um die Hitler-Deutschlands zu erwerben, konnte nicht umhin, das Versagen der Tänzerinnen anzudeuten. So schrieb er schonend, sie wären sichtlich von der Reise ermüdet ge­wesen. Hierauf wurde er telephonisch zu dem Regierungsrat und SS-Offizier berufen, der die Presse zu betreuen hatte, und erhielt den Befehl, sich bei den Damen zu entschuldigen, widrigenfalls Nein, zitieren wir den Herrn wörtlich:Der Einfluß der Damen auf den Herrn Minister ist so groß, daß eine Streichung von der Schriftleiterliste zu be­fürchten wäre. Worauf der entartete Spröß- ling freiheitsliebender Eidgenossen ins Hotel lief, sich entschuldigte und nach einigen spitzen Redensarten pardoniert wurde. Wozu wir das erzählen? Weil wir in denBadischen Neuesten Nachrichten gelesen haben, Hedi und Margot Hopfner seien in Ettlingen wie­der aufgetreten.Allzulange mußte das Publikum die Schwestern Höpfner vermissen, schreibt das Blatt. Sollte daran die böse Ent­nazifizierung schuld sein? Denn der Minister, der den Schwestern Höpfner so nahestand,

. daß er jedes unfreundliche Wort über ihre Leistungen mit dem Berufsverbot zu ahnden bereit war, hieß Dr. Joseph Goebbels.

Dr. Paul

(Fortsetzung von Seite 1) Satzungszone zu entkommen, sei gescheitert, auf seinen Reisen in die amerikanische Zone habe sich Dr. Paul immer in starker Polizei­begleitung befunden. Es heißt nun auch, daß er 1935 den Antrag zur Aufnahme in die NSDAP gestellt habe, jedoch abgelehnt wor­den sei. Man bezichtigt ihn, dem ehemaligen Staatssekretär Hans Staas, der als Organi­sator des Volkssturms, Beisitzer von Kriegs­gerichten und Beauftragter der Gestapo ent­lassen worden war, und sich Zur Zeit in der Schweiz aufhält, außer einem Krankengeld von 3Ö0 Mark monatlich 600 Mark aus einem Dispositionsfonds gezahlt zu haben. Paul hätte auch große Schulden gehabt. Seine Frau habe von einem ehemaligen Parteigenossen Oelgemälde im Werte von 20 000 Mark als Geschenk angenommen.

Der hessische Wirtschaftsminister, Dr. Ha­rald Koch, von dem es hieß, er sei während seines Besuches der Leipziger Messe von sowjetischer Polizei verhaftet worden, wider­sprach bei der Ankunft in Wiesbaden diesen Gerüchten. Er habe am Sonntag mit Dr. Paul,

I den er bis dahin nicht gekannt habe,, im Golfhotel in Oberdorf gesprochen. Dr. pau. habe an diesem Tage zwei Herzattacken er­litten. Dr. Koch wurde in Sachen Pauls von deutscher Kriminalpolizei in Leipzig befragt, aber nicht von sowjetischer Seite verhört.

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Die Spruchkammer iu Stuttgart-Degerloch ver­wies den jüdischen Zahnarzt Dr. Erwin Goldmann als Hauptschul dig en anf drei Jahre in ein Arbeits­lager, weil er SD-Agent geweeen war. Goldmann hatte unter anderem dem SD über Predigten ln den evangelischen Eirohen berichtet.

Während in Genthin und im Kreise Jeriohow Il In Brandenburg an Fremde anch nloht Lebensmit telkarten ausgegeben werden, wenn sie ordnungs­gemäß Reisen VneMungon und sonstige Bescheini­gungen vorlege-» erhielten die 800 Delegierten jpm Kreisparteitag der SED in Genthin ein marken­freies Essen.

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Bodaktion: Albert Komma, Johannes SchmicL Vfcrl&jft Schwäbischer Verlag, KG., Friearlslis-

hafen, in Lentktreh.

Druck i Hottweiler Verlags- und Druckerei­

genossenschaft, Bottweil.

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16 Erzählung von Adalbert Stifter

Dieser freundliche, warme Tag war wirk­lich der letzte schöne gewesen, wie es im Gebirge sehr oft, man könnte fast sagen, Immer vorkommt, daß, wenn im Spätherbste eine gar laue und warme Zeit ist, sie ge­wöhnlich als Vorbote erscheint,, daß nun die Stürme und der Regen eintreten werden. Von der schönen, duftigen Wand, die Ti- burius immer von seinem Fenster aus ge­sehen hatte, und von der er sicht anfangs gleich nach seiner Ankunft gewundert hatte, daß die Steine gar so hoch oben auf ihr hervorstehen, kam jetzt nicht mehr der schöne blaue Duft zu ihm herüber, sondern sie war gar nicht mehr sichtbar, und nur graue, wühlende Nebel drehten sich unauf­hörlich von jener Gegend her, als würden sie aus einem unermeßlichen Sacke ausgeleert, der aber nie leer werden wolle; aus den Ne­beln fuhr ein unablässiger Wind gegen die Häuser des Badeortes, und der Wind brachte einen feinen, prickelnden Regen, der ent­setzlich kalt war. Tiburius wartete einen Tag, er wartete zwei, er wartete mehrere allein, da der Badearzt selber sagte, daß jetzt wenig Hoffnung vorhanden sei, daß noch milde und der Heilung zuträgliche Tage kämen, ja, daß diese Zeit eher den Fremden schädlich als nützlich werden könne, ließ er seinen Reise­wagen packen und fuhr nach Hause. Ein paar Tage vorher, da er gerade im Aufräumen be­griffen war, war der Holzknecht bei ihm ge­wesen, der ihm damals In der Nacht den Weg von dem Schwarzholze nach Hause gezeigt hatte, u»f hatte ihm den anvertrauten Stock gebracht. Er sagte, daß er eher gekommen wäre, wenn er gewußt hätte, daß der Knopf

I von Gold sei, er habe es erst gestern erfah­ren. Tiburius antwortete, das mache nichts, und er wolle ihm für seinen Dienst mehr geben, als der Knopf samt dem Stocke wert wäre. Er hatte, ihm die Belohnung einge- händigt, und der Knecht war unter sehr vie­len Danksagungen fortgegangen.

In der Gegend, in welcher Tiburius' Land­haus stand, waren noch recht schöne, wenn auch meistens sanft umwölkte Tage. Herr Tiburius fuhr zu dem kleinen Doktor hinaus, der in seinem Garten die klappernden Vor­richtungen hatte und seine Pflanzenanlagen immer erweiterte. Der Doktor empfing Herrn Tiburius wie gewöhnlich, er redete mit ihm und sagte ihm aber nichts, ob er ihn besser oder übler aussehend finde. Herr Tiburius erzählte ihm, daß er in dem Bade gewesen sei, und daß es ihm bedeutend gut getan habe. Von dem Leben und Treiben des Ba­des und was sich sonst in demselben ereig­net haben könnte, erzählte er ihm nichts. Er stand an den Pflanzenbehältnissen, und der Doktor wirtschaftete trotz der vorgerückten Jahreszeit noch immer ohne Rock herum. Ehe der Schnee kam, war Tiburius noch wieder­holt bei dem Doktor gewesen.

Im Winter nahm er einmal hohe Stiefel und einen warmen, rauhen Rock und ver­suchte im Schnee spazierenzugehen. Es ge­lang, und er tat es dann noch mehrere Male.

Als aber die Sonne ihre Strahlen im Früh- linge wieder warm und freundlich herabfallen ließ, und als sich Tiburius aus seinen Bü­chern, welche von dem Bade handelten, über­zeugt hatte, daß jetzt dort auch schon die wärmere Jahreszeit angebrochen sei, rüstete er wieder seinen Reisewagen und fuhr nach dem Bade ab. Da er zu den Leuten gehörte, welche immer gerne bei dem Alten und ein­mal Gewohnten bleiben, hatte er schon in dem vorigen Herbste, ehe er nach Hause fuhr, die bisher besessene kleine Wohnung

für den ganzen künftigen Sommer von sei­nem alten Wirte gemietet.

Als er dort angekommen war, als man alles ausgepackt hatte, als die seidenen Chi­nesen vor seinem wohlgeordneten Bette prangten, ging er daran, sich für den heu­rigen Sommer einzurichten. Er legte sich die schönen Zeichenbücher, die er für dieses Mal mitgebracht hatte, auf das Tischlein, auf das die blaue Wand jetzt recht freundlich her­einschaute, er legte die Päckchen Bleistifte dazu, die er vorgerichtet hatte, und er fügte noch die niedlichen Kästchen bei, in denen die feinen Feilen befestigt waren, an welchen er die Zeichenstifte spitzte. Zuletzt, da alles geschehen war, ließ er auch den Arzt rufen, um mit ihm über sein bevorstehendes Ver­halten etwas zu sprechen.

Als Ellies ln Ordnung weit, fuhr er zu der Andreaswsmd hinaus. Sie prangte in vollem Frühlingsschmucke. Die Gestrüppe, die Blät­ter und die Pflanzen aller Art hatten jetzt das herrliche lachende Grün statt dem Braun und Gelb des vorigen Herbstes, und es leuch­tete daraus manches feurige Blau und Rot und Weiß emporgeblühter Blumen heraus. Der Wald hatte das jugendliche, hellgrüne Ansehen, und selbst aus manchem liegenden Strunke, der Im vorigen Jahre nur dürres Holz geschienen hatte, standen frisch auf­geschossene, beblätterte Triebe empor. Nur Erdbeeren, dachte er, werden wohl noch gar keine in dieser Jahreszeit sein.

Er stand eine Weile und ging herum und schaute, Da er das zweitemal hinausgekom­men war, zeichnete er und ging dann tief in seinen Waldpfad hinein. Es war auch hier alles sinders: der Pfad schien enger, weil überall die Gräser hinwuchsen; und die Bäume und Gesträuche hatten lange Ruten und Zweige nach allen Richtungen hervor­geschossen. Selbst die 'Steine, die er sehr wohl kannte, hatten manches lichte Grün,

und auf verschiedenen Stellen, wo nur e.._ dürftiges Plätzchen zu gewinnen war, stand sogar ein Bäumchen empor.

Als auf diese Weise einige Zeit vergsmgen war, Eds viele recht schöne Tage über das Gebirge und über das Tal gingen, a's < - sogar schon einmal durch das ganze Sc-iw. holz bis hinaus zu dem Anblicke der Sein, felder und von da wieder zurückgewande. weit, geschah es eines Tages, da er eben mit Seinen Zeichenbüchern und mit dem grauen Rocke auf dem Pfside schlenderte, da^ Maria leibhaftig gegen ihn daherging. Ob s: gekleidet war wie im- vergangenen Jahre, o~> anders, das wußte er nicht, denn er hatte es sich nicht gemerkt daß er selber ganz und gar der nämliche war, wußte er auch nicht, weil er nie daran dachte.

Als sie ganz nahe gekommen weit, blieb er stehen und sah sie an. Sie blieb gleichfalls stehen, richtete ihre Augen auf ihn und sagte:Nun, seid Ihr schon wieder da?

Ja, sagte er,ich bin schon seit längerer Zeit in dem Bade, ich bin auch schon oft hier herausgekommen, habe dich aber nie. ge­sehen, natürlich, weil noch gar keine Erd­beeren sind.

Das tut nichts, ich komme doch öfters her­aus, antwortete Maria,denn es wachsen verschiedene heilsame und wohlschmeckende Kräuter, die im Frühlinge sehr gut sind.

Nach diesen Worten richtete sie ihre hellen Augen erst noch recht klar gegen die seinen und sagte:Warum seid Ihr denn damals falsch geweeen?

Ich bin ja gar nicht falsch gew-sen, Maria, sagte er.

Ja, Ihr seid falsch gewesen, sagte sie. Welchen Namen man von Geburt an hat, der ist von Gott gekommen, und den muß man behalten wie seine Eltern, sie mögen arm oder reich sein. Ihr heißt nicht Theodor. Ihr heißt Tiburius. (Fortsetzung folgt)