Donnerstag, 23. Januar 1969
Zum Zeitgeschehen
Seite 3
Auch eine „Gratulation“ Kaum gewählt, soll er schon zurücktreten
Die Situation nach der Neuwahl des Präsidenten der evangelischen Landessynode / Von Heinz Görlich
Knapp vier Stunden nach seiner Wahl zum Präsidenten der württembergischen evangelischen Landessynode wurde Pfarrer Hans von Keler eine recht ungewöhnliche Gratulation auf den Tisch gelegt: ein von sechs Vikaren unterzeichnetes Telegramm, in dem gegen die Wahl eines Theologen protestiert und von Keler gebeten wurde, zurückzutreten. Dieser Vorgang ist ebenso einmalig wie der Ende Oktober 1968 erfolgte Rücktritt des Tübinger Landrats Oskar Klumpp, dem Vorgänger von Kelers als Synodalpräsident. Die Evangelische Akademie Bad Boll (von dort kam das Telegramm) distanzierte sich gestern von dem Protest der Vikare, die dort gerade bei einer Tagung weilen. Und Pfarrer von Keler beantwortete das Telegramm der Vikare mit den Worten: „Erbitte drei Jahre Bedenkzeit.“ Die Amtszeit des derzeitigen Präsidenten der Landessynode läuft nach drei Jahren ab.
Erstmals in der über hundertjährigen Geschichte der „Kirchenvolksvertretung“ wurde ein Theologe — und dazuhin ein Nichtschwabe — an die Spitze des zu zwei Drittel aus Laien bestehenden evangelischen Parlamentes gewählt, das u. a. ein Kontrollorgan der Kirchenleitung ist.
Wir müssen den bestgeeigneten Synodalen wählen. Zweitrangig ist die Frage, ob dieser Mann Pfarrer oder Nicht-Theologe ist. Dieser von einer starken Mehrheit der Synode geteilten Meinung stand die seit hundert Jahren praktizierte Devise gegenüber, die ein ein Theologe so formulierte: „Der beste Mann ist in jedem Falle der Laie“.
Sicher kann man die von der Aktionsgemeinschaft „Kritische Kirche“ vertretene Auffassung, die Wahl eines Theologen bedeute einen Rückschlag für die Laienbewegung in der Kirche, nicht einfach vom Tisch fegen. Auch Hans von Keler gab nach seiner Wahl unmißverständlich zu verstehen, daß er nach langem Zögern nur kandidiert habe, weil sich kein Laie habe aufstellen lassen, dem eine Mehrheit sicher gewesen wäre.
Der Ältestenrat der Synode verhandelte mit 50 Laien. Von 49 erhielt er eine Absage, nur der Göppinger Rektor, Landtagsabgeordnete und Kirchenchorsänger Willi von Helden sagte ja. Warum sich für ihn keine Mehrheit fand, ist schwer zu sagen. Kritische Beobachter der sohst schonungslosen Wahl-Debatte fragten hinterher erstaunt, warum niemand die parlamentarische Erfahrung des SPD-Landtagsabgeordneten von Helden mit in die Waagschale des Für und Wider gelegt habe.
Die Synode ist kopflos, so lautet der lakonische Kommentar eines Stuttgarter Publizisten nach dem spektakulären Klumpp-Rück- tritt. Aus drei Köpfen besteht das neue Syn- odal-Präsidium, aus zwei Laien (Willi von Helden und Paul Heiland, Stuttgart) und einem Theologen. Alle drei erklärten unserem Mitarbeiter unabhängig voneinander, daß sie das Präsidium als ein Arbeits-Team betrachten, in dem nicht etwa die Aussage des Präsidenten von Keler mehr Gewicht habe als die des zweiten Vizepräsidenten Heiland. Allein das sachliche Argument soll entscheiden. Diese Konzeption ist neu. Als Team hat sich bisher noch kein Synodal- Präsidium betrachtet.
In seinem ersten Interview nach der Wahl sprach sich der erste Synodal-Vizepräsident von Helden dafür aus, den unter Klumpp eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Die selbständige Stellung der Synode gegenüber der Kirchenleitung müsse weiter gefestigt werden. „Wenn die Kirche aus dem Getto herauskommen will, dann muß sie zu positiver Zusammenarbeit mit Presse, Funk und Fernsehen bereit sein“, erklärte Vizepräsident von Helden weiter. Der erfahrene Parlamentarier setzt sich dafür ein, daß, einer Anregung der letzten Herbst-Synode folgend, ein Journalist in die Synode zugewählt wird, der dem Präsidium als publizistischer Berater zur Verfügung stehen müsse.
Von Helden bezeichnete es als eine Lebensfrage der Synode und Kirche, ob sie neben der Wahrnehmung ihrer innerkirchli-
Begeisterung
Recken und Sternenbrüder
Die sowjetischen Kosmonauten werden in der Presse überschwenglich gefeiert
Ein altes russisches Wort hat eine zeitgemäße Anwendungsmöglichkeit gefunden. In der sowjetischen Presse, die immer noch seitenlang über den Flug der Raumschiffe Sojus 4 und Sojus 5 berichtet, bezeichnete man die vier Kosmonauten Schatalow, Wo- lynow, Chrunow und Jelissejew nicht nur — wie üblich — als „Helden“, sondern sogar als „Bogatyri“, als „Recken“ der russischen Sage. Eine Zeitung sprach sogar von „Tschudo-Bogatyri“, von „Wunderrecken“.
Außerdem schuf man ein neues Wort. Die Fernsehübertragung von den Raumschiffen. zur Erde nannte man in Anlehnung an die Bezeichnung „Intervision“, das östliche Gegenstück der westlichen „Eurovision“, nun „Kosmovision“. Die vier Kosmonauten wurden von manchen Leitartiklern als „Sternenbrüder“ apostrophiert.
Entsprechend lauteten die überschwenglichen Schlagzeilen, die den gestrigen feierlichen Empfang der Kosmonauten in Moskau propagandistisch vorbereiten halfen: miiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiKiimiiiiiuiiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinini»
Gutes Deutsch bei Strauß
Franz Josef Strauß, Bundesfinanzminister, erntete schallende Heiterkeit, als er einen Abgeordneten der Opposition mit den Worten korrigieren wollte: „Man soll bei diesen Dingen, wo es um harte Tatsachen geht, nicht von Eindrücken' sprechen, sondern — auf gut deutsch — von facts und figu- res...!“
„Recken, die den Himmel stürmen“, „Ster- nenheldentag des Landes . der Sowjets“, „Moskauer (oder auch: Rußland) rühmt die Helden“. „Seid des kosmischen Sieges würdig“, hieß es über einem Bericht über Betriebsversammlungen, bei denen sich die Werktätigen zu guten oder überplanmäßigen Arbeitsleistungen verpflichtet hatten.
Im Moskauer Stahlwerk „Sichel und Hammer“ veranstaltete eine Stahlschmelzergruppe eine „kosmische Schmelzung“ von Stahl. „Die Kosmonauten erfüllten prächtig ihre Aufgabe im Kosmos — aber wir auf der Erde“, ließ die „Moskowskaja Prawda“ einen Stahlarbeiter den Sinn des Titels erklären. „An diesem Tage“, resümierte die Zeitung dann, „produzierte die Brigade der Stahlschmelzer, die von Oleg Issakow geführt wird, eine Schmelzung von hervorragender Qualität. An diesem Tage schmolzen die Metallurgen überplanmäßig sechs Tonnen erstklassiges Metall.“ Der Artikel erschien als Aufmachung auf der Titelseite mit Bild. Karl Kran
chen Aufgaben zu einem intensiven Hineinwirken in die Öffentlichkeit bereit sein wird. Im negativen Fall sieht von Helden die Gefahr, daß die Kirche „ein Verein unter vielen anderen“ wird. Von Helden strebt das an, was vor 70 Jahren Christoph Blumhardt der Jüngere, der in Bad Boll und Jebenhausen als Pfarrer wirkte, so formulierte:
„Christus sagt nicht, mach mich selig, lieber Vater, sondern er sagt, da stehe ich hier auf der verfluchten Erde. Hier offenbare du deine Herrlichkeit. Das ist die Sprache des Herrn. Nicht wir aus der Welt hinaus, sonder du in die Welt hinein. Da soll dein Wille geschehen und dann wollen wir doch sehen, wer gewinnt, du oder der Teufel. Alles in den Himmel verlegen, das kann jeder. Aber Christus ist ins Fleisch gekommen.“
Christoph Blumhardt war der erste Pfarrer, der in Württemberg als Sozialdemokrat in den Landtag gewählt wurde. Im Jahre 1900. Er wurde vom König, der als „Summus Episkopus“ das Bischofsamt innehatte, seines (Pfarr-)Amtes enthoben.
, Geburtstag“ am 23 . Januar 1719:
DAS SCHLOSS VADUZ, ein aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts stammendes Gebäude, ist der Sitz des regierenden Fürsten des jetzt 250 Jahre alten Fürstentums Liechtenstein. Unser Bild zeigt im Mittelgrund den Rhein und dahinter die Berge des Schweizer Kantons St. Gallen. (Foto: Archiv)
250 Jahre Fürstentum Liechtenstein
In allen Stürmen der Zeit bewahrte das kleine Land seine Eigenständigkeit / Von Gabriele Marr
In einer Welt, die sich anschickt, die ersten Menschen auf dem Mond landen zu lassen und deren Tagesgeschehen sich ständig zu überstürzen scheint, muß das Geburtstagsjubiläum eines winzig kleinen Landes manchen wenig bedeutsam erscheinen. Aber die Tatsache, daß es dem Fürstentum Liechtenstein über 250 Jahre hinweg gelang, allen Stürmen und Erschütterungen der Zeit zum Trotz seine Eigenstaatlichkeit unversehrt zu bewahren und fortzuentwickeln, ist Anlaß genug, Rückschau zu halten.
Der Beginn dieser Zeitspanne verlief durchaus nicht nur friedlich. Im Dreißigjährigen Krieg gerieten die Besitzer der Herrschaften Vaduz und Schellenberg in so ungeheuerliche Schulden, daß das Deutsche Reich eine Untersuchungskommission einsetzte und das Land unter kaiserliche Verwaltung nahm. Auf Grund einer Regelung vom Jahre 1696, wonach die Schulden des vormaligen gräflichen Hauses durch Verkauf getilgt werden sollten, kamen Schellenberg und später auch Vaduz an den Fürsten Johann Adam von Liechtenstein, der fast 400 000 Gulden dafür zahlte. Nachdem seine Nachfolger den Besitz noch um einiges erweitert hatten, erhob Kaiser Karl VI. mit Palatinatsdiplom vom 23. Januar 1719 die Reichsherrschaften Vaduz und Schellenberg zum reichsunmittelbaren Fürstentum Liechtenstein.
Eine Laune Napoleons
Dieser Tag ist der Geburtstag des Fürstentums geworden. Die staatliche Souveränität erhielt es jedoch erst 1806 durch eine Laune Napoleons. Als dieser den Rheinbund aüsrief, würde' Liechtenstein'' gegen“ seinen Willen zur Mitgliedschaft gezwungen. Nach dem Verschwinden des Rheinbundes bestätigte der Wiener Kongreß im Jahre 1815 die Unabhängigkeit Liechtensteins.
Das 19. Jahrhundert brachte dem kleinen
Wok er /
Im Wölkenkuckucksheim leben
Unerfüllbaren Traumvorstellungen nachgehen. Von Hirngespinsten leben. Die Wirklichkeit verkennen.
Der griechische Dramatiker Aristo- phanes (um 400 v. Chr.) nennt in seiner Komödie „Die Vögel“ eine von den Vögeln in die Luft gebaute Stadt Wölkenkuckucksheim. Eine solche Stadt gibt es in Wirklichkeit nicht; sie ist das Ergebnis der dichterischen Einbildungskraft.
(Copyright Cosmospress Genf)
fürstlichen Bauernland einen langen Frieden und die solide Wirtschaftsgemeinschaft mit der Donaumonarchie, die nach dem ersten Weltkrieg ihr Ende fand. Der katastrophale Rückschlag, den die Wirtschaft Liechtensteins durch die vollständige Entwertung der Kronenwährung erlitt, konnte nur langsam und unter großen Schwierigkeiten überwunden werden. Erst 1924 fand sich eine Lösung, die die Voraussetzungen für die noch heute andauernde stetige und eigenwirtschaftliche Entwicklung des Landes erbracht hat: die Zoll-, Wirtschafts- und Währungsunion mit der Schweiz. Sie überdauerte alle Belastungen und Krisen des zweiten Weltkrieges und trug nach Kriegsende dazu bei, daß ein ungeahnter wirtschaftlicher Aufschwung einsetzte, der dem armen Bauernland zunehmende Industrialisierung und großen Wohlstand bescherte.
Parlament mit 15 Sitzen
Dieser Entwicklung verdankt Liechtenstein seine politische Stabilität ebensosehr wie seiner geographischen Lage inmitten der Schweizer und österreichischen Alpen und- seiner vorwiegend monarchistisch-konservativen Bevölkerung. Kommunisten, Republikaner und sonstige Umstürzler gibt es in Liechtenstein nicht. Die beiden im Liliput- Parlament — es umfaßt nur fünfzehn Sitze — vertretenen Parteien sind monarchistisch mit feinen Unterschieden.
Die außenpolitischen Belange nimmt die Schweiz für Liechtenstein wahr, und in ihrem Fahrwasser gleitet das Fürstentum sicher an allen weltpolitischen Fährnissen vorbei. Im vergangenen Jahr wurde eine erste Testabstimmung zur Einführung des Frauenwahlrechts durchgeführt, aber bei knapper Mehrheit der Nein-Stimmen bleibt auch da alles beim alten.
Was dem kleinen Land seinen besonderen Glanz verleiht, ist die Tatsache, daß es die einzige noch bestehende Monarchie deutscher Zunge in Europa ist. Die kluge Politik des beliebten Landesfürsten Franz Joseph II. hat die Anhänglichkeit der 20 000 Liechtensteiner an ihr Herrscherhaus immer wieder neu belebt. Seit er 1938 seinem Vater, einem Neffen des in Sarajewo ermordeten
österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand, auf den Thron folgte, hat er als erster regierender Fürst Liechtensteins seinen Wohnsitz auf Schloß Vaduz, einer trutzigen Burg aus dem frühen Mittelalter, bezogen und zusammen mit seiner kinderreichen Familie seinen schwäbisch-alemannischen Landsleuten manchen Beweis seiner liberalen und demokratischen Gesinnung gegeben.
Starker Bevölkerungszuwachs
Auch Fremde kommen seit dem wirtschaftlichen Aufschwung gern nach Liechtenstein; die einen als Touristen, die anderen aus steuerpolitischen Gründen, um von hier aus ihre Finanztransaktionen zu dirigieren. Um der drohenden Überfremdung Herr zu werden, mußte jedoch die Regierung schon vor einigen Jahren Bestimmungen erlassen, wonach mindestens ein Verwaltungsratsmitglied von „Sitzgesellschaften“ in Liechtenstein wohnen muß. Auch muß das Mindestkapital für derartige Gesellschaften bei Gründung voll eingezahlt sein. Die Zuwanderung von Neubürgem soll erschwert werden, nachdem das Land infolge starker Industrialisierung einen beträchtlichen Bevölkerungszuwachs verzeichnen konnte und darauf bedacht ist, seinen Einwohnern Arbeitsplätze und Existenzgrundlage zu erhalten.
Lassen sich diese Ziele verwirklichen und bleibt das kleine Fürstentum weiterhin von umwälzenden Ereignissen verschont, darf seine eigenstaatliche Zukunft als gesichert gelten.
108 Agenten gesucht
Mit einem Inserat sucht die belgische Spionageabwehr 108 Agenten, die bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen. Sie sollen u. a. zu starken physischen Anstrengungen fähig sein, eiserne Nerven und kaltes Blut in den schwierigsten Situationen bewahren und ein Gehör besitzen, das noch aus fünf Meter Entfernung ein Gespräch wahrzunehmen vermag. Sie dürfen keine auffallenden körperlichen Merkmale haben, müssen auch beim Auftauchen ungewohnter Hindernisse schnell und sicher Auto fahren. Ferner wird der Abschluß einer höheren Schule verlangt. Ihre Aufgabe besteht darin, gegen die 11 000 Agenten fremder Mächte zu arbeiten, die in Brüssel Informationen über die NATO und die europäischen Organisationen sammeln. (AR)
EIN ZUKUNFTSROMAN VON ARTHUR C. CLARKE Gokimann-vLbg'bMu^chen
imMi
ms
14
Als Rawson zu Ende gekommen war, schwieg Lastwrence einige Augenblicke. Er betrachtete die Fotos, die während des Gesprächs durch das Telefaxgerät übermittelt worden waren. Das erste Bild, vor dem Sonnenaufgang geknipst, ließ immerhin Andeutungen erkennen — aber das reichte noch nicht aus, um Rawsons Theorie zu beweisen. Das nach der Morgendämmerung aufgenom- mene Bild zeigte überhaupt nichts; vielleicht war auf dem Originalabzug etwas zu sehen, aber auf das Wort dieses unangenehmen jungen Mannes wollte er sich nicht gerne verlassen.
„Das ist ja recht interessant“, erklärte er schließlich. „Man kann allerdings nur bedauern, daß Sie Ihre Beobachtungen nicht sofort weitergeführt haben. Vielleicht wären dann genauere Ergebnisse zu erzielen gewesen."
Tom brauste sofort auf, obwohl — oder gerade weil — diese Kritik begründet war.
„Wenn Sie glauben, daß ein anderer das besser gemacht hätte —", fauchte er.
„Na, so hab’ ich das nicht gemeint“, erwiderte Lawrence. „Aber was sollen wir jetzt tun? Das von Ihnen bezeichnete Gebiet mag ja ziemlich klein sein, aber bezüglich der Position besteht doch immer noch eine Unsicherheit von mindestens fünfhundert Metern. An der Oberfläche braucht durchaus nichts erkennbar zu sein, selbst bei Tageslicht nicht. Gibt es denn keine Möglichkeit, die Stelle genauer zu fixieren?“
„Eine Methode bietet sich doch von selbst an. Man könnte dieselbe Technik unmittelbar an Ort und Stelle weiterführen und das Gebiet mit einem Infrarotauge absuchen. Damit läßt sich jeder Wärmepunkt erkennen, selbst wenn die Temperatur nur unwesentlich erhöht ist.“
„Gute Idee“, meinte Lawrence. „Ich werde mal sehen, was sich machen läßt. Wenn ich weitere Informationen brauche, rufe ich Sie wieder an. Recht vielen Dank — Doktor.“
Er legte schnell auf und wischte sich die Stirn. Dann ließ er sich sofort wieder mit dem Satelliten verbinden.
„Lagrange II? Hier Chefinspektor Lawrence. Geben Sie mir bitte den Direktor.
Professor Kotelnikow? Hier Lawrence. Danke, gut. Ich habe mit Ihrem Doktor gesprochen — nein, er hat nichts angestellt, wenn man davon absieht, daß er mir auf die Nerven geht. Er hat sich nach unserem vermißten Staubkreuzer umgesehen und glaubt, ihn gefunden zu haben. Ich möchte jetzt gern wissen, wie weit man sich auf ihn verlassen kann?“
In den nächsten fünf Minuten erfuhr der Chefingenieur sehr viel über den jungen Dr. Rawson. Eigentlich sogar mehr, als vertretbar war. Professor Kotelnikow mußte schließlich einmal Atem schöpfen, und Lawrence warf ein: „Ich kann verstehen, warum Sie es mit ihm aushalten. Armer Kerl — ich dachte, daß es solche Waisenhäuser schon
seit Jahrhunderten nicht mehr gibt. Man kann froh sein, daß es abgebrannt ist. Glauben Sie, er hat es angesteckt? Nein, ich verzichte auf eine Antwort — Sie haben mir gesagt, daß er ein erstklassiger Wissenschaftler sei, und nur das wollte ich wissen. Vielen Dank — vielleicht sehen wir uns hier unten einmal.“
Während der nächsten halben Stunde setzte sich Lawrence mit einer Anzahl von Dienststellen auf dem Mond in Verbindung. Schließlich hatte er eine Menge Informationen angesammelt. Jetzt blieb nichts anderes übrig, als zu handeln.
Auf dem Platoobservatorium hielt Pater Ferraro die Sache für völlig plausibel. Er hatte sogar schon vermutet, daß sich das Zentrum des Bebens unter dem Meer des Durstes, statt unter dem Gebirge der Unzugänglichkeit befand, konnte es aber nicht beweisen, weil das Meer alle Vibrationen stark dämpfte. Nein — eine komplette Echolotung war nie durchgeführt worden. Sie nahm zu viel Zeit in Anspruch. Er hatte selbst mit Teleskopstäben Tiefenmessungen vorgenommen und war stets bei weniger als vierzig Metern auf Grund gestoßen. Die durchschnittliche Tiefe setzte er mit unter zehn Metern an, aber am Rand des Meeres hielt er es für noch wesentlich seichter. Nein, er besitze kein Infrarotauge, aber die Astronomen auf der Rückseite des Mondes könnten ihm vielleicht behilflich sein.
Leider — kein Infrarotauge im Stützpunkt Dostojewsky. Wir arbeiten nur im Ultraviolettbereich. Rufen Sie doch bei Verne an.
O ja, wir haben lange auf dem Infrarotgebiet gearbeitet. Aber das ganze Programm wurde schließlich an Lagrange abgegeben. Erkundigen Sie sich doch dort...
An diesem Punkt rief Lawrence den Kon- trollturm an und ließ sich die Fahrpläne für die Verbindung von und zur Erde durchgeben. Er hatte Glück. Aber die nächste Maßnahme würde viel Geld kosten. Dazu war die
Genehmigung des Chefverwalters erforderlich.
Olsen hatte auch seine Vorzüge. Er stritt nie mit seinen Technikern über Dinge, die er nicht verstand. Er hörte sich Lawrences Geschichte sorgfältig an und kam sofort auf den entscheidenden Punkt.
„Wenn diese Theorie zutrifft“, sagte er, „besteht also eine Chance, daß sie doch noch am Leben sind.“
„Mehr als eine Chance. Ich halte es sogar für wahrscheinlich. Wir wissen, daß das Meer seicht ist, also können sie nicht zu weit abgesunken sein. Der Druck auf den Rumpf wäre nicht allzu hoch. Vielleicht ist er unbeschädigt.“
„Sie wollen also, daß Ihnen dieser Rawson bei der Suche behilflich ist?“
Der Chefingenieur winkte resigniert ab. „Er ist ungefähr der letzte, den ich will“, erwiderte er. „Aber ich fürchte, daß wir ihn einfach brauchen.“
*
Kapitän und Mannschaft des Frachtschiffs „Auriga“ zersprangen fast vor Wut, aber es nützte ihnen nichts. Zehn Stunden nach dem Start auf der Erde und fünf Stunden vor der Landung auf dem Mond erhielten sie die Anweisung, bei Lagrange II abzustoppen, also zusätzliche Arbeit und Mühen auf sich zu nehmen. Schlimmer noch, sie wurden von Clavius City und diesem gräßlichen Kaff, Port Roris, fast auf der anderen Seite des Mondes umdirigiert.
Die fleckige Silberscheibe des Mondes bildete für Lagrange II einen strahlenden Hintergrund, als die „Auriga“ hundert Kilometer vor dem Satelliten zum Stillstand kam. Näher heran durften Raumschiffe nicht; die empfindlichen Meßgeräte wurden von den Massenstrahlen der Düsen zu sehr beeinflußt. Nur die längst überholten chemischen Raketen durften in der unmittelbaren Nachbarschaft von Lagrange II eingesetzt werden; Plasmaantriebe und Kernverschmelzungsanlagen waren tabu.
Tom Rawson betrat zwanzig Minuten nach dem Abflug von Lagrange mit zwei Koffern das Frachtschiff; der Raumbootpilot hatte sich trotz der dringlichen Anrufe der „Auriga“ nicht beeilt. Der neue Passagier wurde kühl begrüßt; man hätte ihn gänzlich anders empfangen, wenn sein Auftrag bekannt gewesen wäre. Der Chefverwalter hatte jedoch bestimmt, daß dieser vorübergehend geheimzuhalten sei; er wollte bei den Angehörigen der Vermißten keine falschen Hoffnungen erwecken. Direktor Davis hatte verlangt, daß man sich sofort an die Öffentlichkeit wende, aber Olsen war fest geblieben: „Warten Sie, bis er Erfolg hat — dann können Sie Ihre Freunde in den Nachrichtenagenturen unterrichten.“
Der Befehl kam bereits zu spät. An Bord der „Auriga“ war Maurice Spenser, Bürochef der Nachrichtenagentur Interplanet News, unterwegs, um seine Arbeit in Clavius City aufzunehmen. Er wußte nicht genau, ob das im Verhältnis zu seinem vorherigen Posten in Peking eine Beförderung oder eine Degradierung war, auf jeden Fall schien es etwas völlig anderes zu sein.
Im Gegensatz zu den anderen Passagieren brachte ihn die Kursänderung nicht aus der Ruhe. Die Verzögerung ging zu Lasten seines Arbeitgebers, und als erfahrener Journalist begrüßte er stets das Ungewöhnliche. Jedenfalls war es merkwürdig, daß ein reguläres Linienraumschiff mehrere Stunden und eine praktisch unvorstellbare Energiemenge verschwendete, nur um bei Lagrange II einen mißmutigen jungen Mann mit zwei Koffern aufzunehmen. Und warum die Umleitung von Clavius nach Port Roris? „Befehl von höchster Stelle“, erklärte der Kapitän, und er schien die Wahrheit zu sagen, wenn er behauptete, nichts weiter zu wissen. Das Ganze war ein Rätsel, also schlug es in Spensers Fach. Schon bei der ersten Überlegung traf er den Nagel beinahe auf den Kopf.
(Fortsetzung folgt)