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Politik

Montag, 20. Januar 1969

Nach 17 Stunden vertagt

Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst noch ohne Ergebnis

Stuttgart/Frankfurt/Nürnberg (dpa). Die Tarifverhandlungen für die rund 1,2 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst und die etwa 170 000 Arbeiter und Angestellten der Bundespost sind nach neuen Verhandlungsrunden am Wochen­ende auf den 28. bzw. 29. Januar vertagt worden. Die Gewerkschaften waren in beiden Fällen mit den Angeboten der Arbeitgeber nicht zufrieden. Die Tarifgespräche für die 190 000 Arbeiter und Angestellten der Bundesbahn werden heute in Nürnberg fortge­setzt, nachdem zuletzt im Dezember ergebnislos verhandelt worden war.

In allen drei Dienstleistungsbereichen be­steht seit dem 1. Januar dieses Jahres ein tarifloser Zustand. Die Gewerkschaft der Eisenbahner verlangt entsprechend den For­derungen im öffentliche Dienst und bei der Post eine Lohn- und Gehaltserhöhung um acht Prozent, eine monatliche Bezahlung der Arbeiter sowie strukturelle Verbesserungen in der Lohn- und Gehaltsskala.

Die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst wurden am Samstagmorgen in Stutt­gart nach fast 17stündiger Verhandlungs­dauer auf den 2$. Januar vertagt Die Ar­beitgeber hatten kurz nach Mitternacht ein letztes Angebot unterbreitet, wonach eine Erhöhung der Grundvergütungen bei Bund und Ländern um sechs Prozent vorgesehen

war, während die kommunalen Arbeitgeber­vereinigung mit einer Anfangsgrundvergü­tung von 6,5 Prozent und einer Endgrund­vergütung von 5,5 Prozent einverstanden waren. Die Ecklöhne sollten um 20 Pfennig erhöht werden. Die Arbeitgeber machten auch Zugeständnisse in einigen Strukturfra­gen, jedoch kein Angebot zu dem geforder­ten Monatslohn für Arbeiter. Die Gewerk­schaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) und die Deutsche Angestell­tengewerkschaft (DAG) hatten außerdem eine achtprozentige Lohn- und Gehaltserhö­hung verlangt.

Der ÖTV-Vorsitzende Heinz Kluncker be­tonte nach dem Tarifgespräch, die ÖTV sei nach wie vor entschlossen, einen Tarifver­trag nur dann, abzuschließen, wenn zugleich die Weichen für die Einführung eines neuen Lohnsystems für die Arbeiter gestellt wür­den. Für die DAG unterstrich Heinz Grote- guth:Das Arbeitgeberangebot blieb hinter den Erwartungen und Erfordernissen zu­rück. Das Angebot der Arbeitgeber sei kein ausreichendes Äquivalent für die zu erwar­tenden Preissteigerungen. Innenminister Emst Benda, der bei den Verhandlungen den Bund vertrat, äußerte die Hoffnung, daß am 28. Januar eine Einigung erzielt werden könne.

Bei den Verhandlungen für die Post in Frankfurt hat die Gewerkschaft an ihrer Forderung nach einer Erhöhung der Ar­beiterlöhne und Angestelltenvergütung um acht Prozent sowie nach strukturellen Ver­besserungen des Lohn- und Vergütungssy­stems festgehalten. Das Bundespostministe­rium habe sich jedoch außerstande gesehen, diese Forderungen zu akzeptieren. Nach Mit­teilung der Gewerkschaft bot es eine sechs­prozentige Lohn- und Gehaltserhöhung an und sei nicht bereit gewesen, den strukturel­len Verbesserungen im verlangten Ausmaß zu entsprechen. Daraufhin wurden die Ver­handlungen auf den 29. Januar vertagt.

Neuer Zündstoff im Fall Gerstenmaier

"Wieder zwei Flugzeuge entführt

Miami (AP). Eine Düsenverkehrsmaschine der amerikanischen Fluggesellschaft Eastern Airlines ist gestern mit 171 Menschen an Bord auf dem Flug von New York nach Miami zur Kursänderung nach Kuba ge­zwungen worden. Bei der entführten Ma­schine handelt es sich nach Angaben der Fluggesellschaft um eine DC-8. Die zweite Maschine, die einer Fluggesellschaft in Ecuador gehört, wurde während einer Auf- tank-Pause an der kolumbianischen Nord­küste von einem mit einer Pistole bewaff­neten Unbekannten zum Flug nach Kuba gezwungen. Sie hatte 88 Menschen an Bord.

Ausnahmezustand in Bolivien

La Paz (AP). Die Regierung Boliviens hat am Samstag den Ausnahmezustand verhängt und zahlreiche Oppositionspolitiker verhaf­ten lassen, die zumeist der früher regieren­den nationalen revolutionären Bewegung (MNR) angehörten. Der bolivianische Innen­minister Hauptmann David Fernandez be­hauptete in einer Rundfunkansprache, daß die Regierungunwiderlegbare Beweise für eine gegen sie arbeitende Verschwörung habe. An der Verschwörung sollen sich nach den Angaben des Ministers so gegensätzliche Elemente wieRechtsextremisten, einige fi­delistische Gruppen und Offiziere beteiligt haben. Zum Beweise ihrer Darstellung ver­breitete die Regierung über den Rundfunk die angebliche Bandaufnahme eines Ge­sprächs, in dem der in der Vorwoche nach Brasilien ausgewiesene General Joaquin Malpartida, zusammen mit andereri.'Ver- schwörerpläne schmiedet.

Bei der weiteren Auffüllung des Tiefdruck­gebiets über der Nordsee läßt der Zustrom atlantischer Luftmassen nach Mitteleuropa all­mählich nach. Da zugleich von Südfrankreich ein flaches Hochdruckgebiet nach Süddeutsch­land vorstößt, kommt die Meeresluft bei uns zur Ruhe.

Montag uneinheitliche Bewölkung, überwie­gend niederschlagsfrei. Höchstens in Alpen­nähe noch geringer Niederschlag. Schwache Luftbewegung. Mittagstemperaturen in den Niederungen noch bis zu fünf Grad, in den Hochlagen nur wenig über null Grad. Dienstag im wesentlichen noch störungsfrei, Nachtfrost. Tageshöchsttemperaturen meist über null Grad. (Mitgeteilt vom Wetteramt Stuttgart.)

Anwälte sollen auf Auszahlung der Wiedergutmachungsgelder gedrängt haben

Essen/Düsseldorf (AP). Die in Essen er­scheinendeNeue Ruhr/Rhein-Zeitung wies am Samstag die von Bundestagspräsi­dent Gerstenmaier abgegebene Erklärung zurück, daß er sich nie um die Auszahlung der finanziellen Entschädigung auf seinen Wiedergutmachungsantrag hin, sondern nur um die Zuerkennung des Professorentitels bemüht habe. Das Blatt erklärt, sein landes­politischer Redakteur Horst-Werner Hartelt habe bei seinen Recherchen festgestellt, daß die Anwälte Gerstenmaiers im Jahre 1966 die Wiedergutmachungsgelder ausdrücklich angefordert hätten.

Gerstenmaiers Pressereferent Schmitz er­klärte dazu am Samstagnachmittag, das Ver­halten der Anwälte seivöllig normal ge­wesen. Anwälte müßten in solchen Fällen den hier beschrittenen Weg gehen. Es sei einwandfrei nachzuweisen, daß sie von sich aus gehandelt hätten. Gerstenmaier habe zu keiner Zeit Weisung gegeben, finanzielle Ansprüche zu stellen.

Nach dem NRZ-Bericht sollen die beiden Anwälte Gerstenmaiers im April 1966 Ge­sichtspunkte für die Errechnung der Ge­samtbezüge aufgeführt und in einem späte­ren Schreiben den Kultusminister von Nord­rhein-Westfalenum persönliche Aufmerk­samkeit gebeten haben. Sie sollen dabei an­gefragt haben, ob nicht Errechnung und Auszahlungbeschleunigt durchgeführt werden können, weil der Bundestagspräsi­dent am 25. August seinen 60. Geburtstag feiere. Kurz vor Weihnachten 1966 hätten sie

noch einmal gemahnt, weil noch kein Pfen­nig ausgezahlt worden sei.

Der bereits genannte Pressesprecher Ger­stenmaiers griff im Zusammenhang mit die­sen neuesten Pressemeldungen in außeror­dentlich scharfer Form den nordrhein-westfä­lischen Kultusminister, Fritz Holthoff (SPD) an. Er warf dem Minister vor, einseitig Journalisten Akteneinsicht in einer Angele­genheit ermöglicht zu haben, die er Holt­hoff vor einigen Tagen selbst noch eine hochpolitische Sache Nordrhein-Westfa­lens genannt habe.Der hats nötig, sagte der Pressesprecher Gerstenmaiers in bezug auf Holthoff, den er einenTrommelbuben Hitlers nannte.

Der nordrhein-westfälische Kultusmini­ster Fritz Holthoff und der nordrhein-west­fälische Ministerpräsident Heinz Kühn ha­ben diese Vorwürfe zurückgewiesen. Die beiden SPD-Politiker bestritten in Stel­lungnahmen für die Deutsche Presse- Agentur entschieden, daß Holthoff Jour­nalisten über den Inhalt der Wiedergut­machungsaktion informiert habe. Minister­präsident Kühn nahm Holthoff gegen diese Unterstellung in Schutz. Die Äußerung des Gerstenmaier-Pressesprechers über Holthoff, den er einenTrommelbuben Hitlers ge­nannt hatte, bezeichnete Kühn alsdummes Zeug und als eine unmögliche Art, in der Öffentlichkeit aufgekommene Widersprüche im Verhalten Gerstenmaiers erledigen zu wollen.

Schlagabtausch Brenner CSU

IG-Metall-Vorsitzender warf Strauß Benachteiligung der Arbeitnehmer vor

Stolberg/Münehen (dpa/AP). Der Vorsit­zende der Industriegewerkschaft Metall, Otto Brenner, hat am Samstag Bundesfi­nanzminister Strauß vorgeworfen, er wende zweierlei Maß gegenüber Arbeitnehmern und Industrie an. Strauß habe keine Beden­ken gegen Zuschüsse für Industriezweige, die von den Maßnahmen zur außenwirt­schaftlichen Absicherung' besonders betrof­fen werden, er lehne jedoch eine Wiederan­hebung der Kilometerpauschale mit der Be­gründung ab, es sei ein Wahlgeschenk, kriti­sierte Brenner auf einer Arbeitnehmer-Kon­ferenz der SPD in Stolberg bei Aachen.

Die Landesleitung der Christlich-Sozialen Union hat Brenner gestern wegen dieser Äußerungen scharf angegriffen. In einer in München veröffentlichten Erklärung hieß es,

Brenner habemit entstellenden und un­sachlichen Floskeln versucht, sich vor einer wahlkampfbereiten SPD-MannschaftPopu­larität zu ergattern. Der deutsche Wähler aber werde ihm zum jetzigen Zeitpunkt derartige vergiftende Unterstellungen mit Mißbilligung honorieren, denn die Bevölke­rung habe großes Zutrauen zur Politik von Strauß. Brenner, der die Erhöhung der Kilo­meterpauschale von 36 auf 50 Pfennig als demagogisches Kampfmittel vorgebracht habe, müsse wissen, daß sich Strauß gegen finanzielle Interessenwünsche stelle. Auch sein sicherlich nicht allein fiskalischer Wider­stand gegen eine solch populäre Maßnahme wie diese Erhöhung deute darauf hin, daß der Minister die Gefahren des derzeitigen wirtschaftlichen Booms sehe.

In Berlin gab es Scherben

Jugendliche Protestierer warfen Pflastersteine in Schaufenster

Berlin. Zu schweren Ausschreitungen in der Westberliner City kam es am späten Samstagnachmittag im Anschluß an zwei verhältnismäßig ruhig verlaufene Demon­strationen, die sich gegen die SPD und ge­gen das griechische Militärregime gerichtet hatten. Rund 500 Jugendliche zertrümmer­ten in der Gegend um den Wittenbergplatz mit Pflastersteinen 44 große Schaufenster­scheiben, darunter allein 26 Scheiben des KadeWe (Kaufhaus des Westens) sowie zahl­reiche Scheiben des DGB-Hauses. Der Scha­den wird auf mehr als eine Viertelmillion geschätzt. Die Polizei, die lange Zeit hin­durch passiv geblieben war, drängte die Ju­gendlichen um 18, Uhr, zum Teil unter Ge­brauch des Schlagstockes, in die Nebenstra­ßen ab. 12 Jugendliche wurden festgenom­men.

Zuvor waren etwa 2000 studentische An­hänger der sogenannten Außerparlamentari­schen Opposition aus Anlaß des 50. Jahres­tages der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht vom Rathaus Tiergar­ten zur SPD-Zentrale in der "Weddinger Müllerstraße gezogen. Sie trugen rote Fah­nen, Transparente sowie Bilder von Mao, Lenin, Marx, Rosa Luxemburg und Lieb­knecht und riefen in SprechchörenWer hat uns verraten Sozialdemokraten. Wer hat­te recht Karl Liebknecht. Beim Vorbei­marsch am Kriminalgericht Moabit flogen einige Knallkörper und Farbeier. Das SPD- Haus, vor dem einige Jungsozialisten de­monstrativ ihre Parteibücher verbrannten, wurde mit Steinen beworfen. Es gingen je­doch nur zwei Fensterscheiben zu Bruch.

Die Parteizentrale war im weiten Umkreis mit Doppelreihen von Gittern und Polizi­sten, die zum erstenmal mit Schutzschilden ausgerüstet waren, abgeschirmt. Da die De­monstranten angesichts dieser Sicherungen wenig Chancen sahen, an das Haus heranzu­kommen, stürmten die Massen auf den U-Bahnhof Leopoldplatz und fuhren, die meisten ohne Fahrkarte, in Richtung Zoo ab.

Inzwischen hatten sich im Audimax der Technischen Universität rund 1500 Demon­stranten versammelt, die gegen das griechi­sche Militärregime protestierten. Unter ih­nen befanden sich auch SED- und FDJ-Mit- glieder. Die Demonstranten marschierten an der griechischen Militärmission vorbei zur

Nicht eben mit Samthandschuhen ging die Polizei gestern in Berlin vor, als jugendliche Demonstrierer das Maß des Erlaubten über­schritten und mit Pflastersteinen Schaufen­sterscheiben zertrümmerten. Unser Bild zeigt die Verhaftung eines der Randalierer.

(AP-Photofax)

Gedächtniskirche. Auf dem Kurfürsten­damm traf derGriechenzug mit den von der SPD-Zentrale kommenden Demonstran­ten zusammen. Gemeinsam zog man zu der Grünfläche Budapester/Ecke Nürnberger Straße, wo früher das Eden-Hotel, das Hauptquartier der Luxemburg-Liebknecht- Mörder, gestanden hatte. Dort legten die Demonstranten einen Zementblock mit der Aufschrift niederGrundstein für das Lu- xemburg-Liebknecht-Denkmal. Zuvor hat­ten die Demonstranten vor dem nahegelegenen Palace-Hotel mehrere Flaggen, darunter die französische und die britische, herunterge­holt und verbrannt. Sie hißten eine rote Fahne. Die amerikanische Fahne war schon vor dem Eintreffen der Demonstranten vom Hotelpersonal eingeholt worden.

Südkorea zeigt Einsicht

Freiheit für die letzten fünf aus Deutschland Entführten zugesagt

Seoul (dpa). Die letzten fünf aus der Bun­desrepublik entführten Südkoreaner sollen in absehbarer Zeit wieder nach Deutsch­land zurückkommen. Das verlautete zuver­lässig in Seoul nach Abschluß der Verhand­lungen, die der Sonderbeauftragte von Bun­desaußenminister Willy Brandt, Ministerial­direktor Dr. Paul Frank, über die Beziehun­gen zwischen der Bundesrepublik und Süd­korea geführt hat. Frank und seine Delega­tion haben Südkorea am Samstag wieder verlassen.

Vor seiner Abreise war Frank am Sams­tag in Seoul von Staatspräsident Park Tschung-Hi empfangen worden. Der Präsi­dent ließ dabei Bundesaußenminister Willy Brandt seinen Dank für dasbewiesene Verständnis übermitteln. Frank selbst äu­ßerte sich über das Ergebnis seiner Ver­handlungen in Südkoreaerleichtert und voll befriedigt.

Bei den Gesprächen bekräftigten beide Seiten ihre Absicht, den Zustand der freundschaftlichen Beziehungen, die durch die Entführungsaffäre von 1967 getrübt worden waren, voll wieder herzustellen und die Zusammenarbeit zwischen beiden Län­dern noch auszubauen und zu vertiefen. In einer abschließenden Erklärung über die Gespräche ist von einer Erweiterung der Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und

kulturellem Gebiet die Rede. Der eigentliche Anlaß der Mission Franks wird in der Er­klärung nicht ausdrücklich erwähnt. Politi­sche Beobachter erklären das damit, daß Südkorea eine Desavouierung seines Ge­heimdienstes, der für die Entführungen aus der Bundesrepublik die Verantwortung trägt, für unzumutbar hält.

Außerdem wird darauf verwiesen, daß das Hauptanliegen die Freiheit der fünf Südko­reaner war, und hier sei ja nun einendgül­tiger Schlußstrich unter die Affäre gezogen.

Kurz gestreift

Gegen ein Verbot rechts- und linksradikaler Parteien in der Bundesrepublik hat sich die Frauenvereinigung der CDU ausgesprochen, die am Samstag in der Bad Godesberger Stadt­halle ihren sechsten Delegiertentag beendete.

Drei Schweizer Helfer des Roten Kreuzes sind aus Nigeria ausgewiesen worden. Dies ist am Samstag vom Komitee vom Internationalen Roten Kreuz bekanntgegeben worden. Die Be­schuldigung, sie hätten zusammen mit anderen Hilfsgüter im Werte von 64 000 Pfund (716 800 DM) unterschlagen, wurde jedoch scharf zu­rückgewiesen.

Zwei DDR-Bewohnern gelang in der Nacht zum Samstag im Kreis Eschwege die Flucht nach Hessen. Die beiden 29 und 34 Jahre alten Männer überquerten die Stacheldrahthinder­nisse an verschiedenen Stellen.

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Copyright by Wilhelm Goldmann-Verlag München

EIN ZUKUNFTSROMAN VON ARTHUR C. CLARKE

Er war so erschöpft, daß ihn selbst dieser Gedanke nicht erregte. Kurz vor dem Ein­schlafen sah-er noch, wie Dr. McKenzie das Thermometer ablas und auf sein Diagramm eine Eintragung machte, wie ein Astrologe, der ein Horoskop stellt

Fünfzehn Meter darüber eine Entfer­nung, die man bei der auf dem Mond herr­schenden geringen Schwerkraft mit einem einzigen Schritt hätte überwinden können war es bereits Morgen geworden. Der Sonne weit voraus zeigte sich die schimmernde Py­ramide des Hodiakallichts, das auf der Erde so selten zu sehen ist. Mit unendlicher Lang­samkeit kroch es über den Horizont, wurde heller und heller, als sich der Augenblick des Sonnenaufgangs näherte. Nun war es in die buntschillernde Gloriole des Mondhofs übergegangen und jetzt begann sich, mil- lionenmal strahlender, ein dünnes Band aus Feuer auszubreiten, als die Sonne nach fünf­zehn Tagen der Dunkelheit wieder erschien. Es würde bei der langsamen Achsendrehung noch länger als eine Stunde dauern, bis sie ganz am Himmel stand, aber die Nacht war bereits zu Ende.

Die tintige Flut wich langsam vom Meer des Durstes, als das grelle Licht der Dämme­rung die Dunkelheit hinwegfegte. Jetzt wur­de die riesige, eintönige Fläche des Meeres mit beinahe horizontal einfallenden Strah­len gezeichnet. Hätte sich irgend etwas über die Oberfläche erhoben, dann wäre ein viele hundert Meter langer Schatten entstanden, den keine Suchabteilung übersehen konnte.

Aber hier gab es keine Sucher. Schlitten Eins und Zwei mühten sich fünfzehn Kilo­meter entfernt im Kratersee ab. Sie befan­den sich noch im Dunkeln. Es würde weitere zwei Tage dauern, bevor die Sonne über die hochragenden Gipfel stieg. Während die Stunden vergingen, würde die scharf abge­setzte Trennungslinie zwischen Licht und Schatten über die Felswände hinabgleiten, bis die Sonnenstrahlen in den Krater fielen.

Jetzt herrschte hier noch künstliches Licht, zwischen den Felsblöcken aufblitzend, als die Schlittenbesatzungen jeden Bergrutsch fotografierten. Im Verlaufe einer Stunde würden diese Fotos die Erde erreicht haben. Weitere zwei Stunden später sollten sie al­len bewohnten Welten vorliegen.

Pech für das Touristengeschäft.

Als Captain Harris erwachte, war es schon viel heißer geworden. Aber nicht die drückende Hitze hatte seinen Schlaf eine gute Stunde, bevor er seine Wache antreten muß­te, gestört.

Obwohl er noch nie eine Nacht auf der Selene verbracht hatte, kannte Pat jedes Geräusch. Wenn die Motoren nicht liefen, war sie fast völlig stumm. Man mußte schon sehr genau hinhören, um das Summen der Pum­penanlagen und das dumpfe Vibrieren der Kühlapparatur zu vernehmen. Diese Geräu­sche hatten sich nicht verändert, aber ver­mehrt

Es war ein kaum hörbares Wispern, so schwach, daß er zunächst glaubte, es sich nur einzubilden.

Dann begriff er plötzlich, warum es ihn geweckt hatte. Im Bruchteil einer Sekunde wurde er hellwach. Er stand schnell auf und preßte das Ohr gegen die Luftschleu­sentür, denn das geheimnisvolle Geräusch kam von draußen.

Jetzt konnte er es hören, immer noch schwach, aber deutlich. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Es konnte keinen Zweifel geben. Zahllose Staubteilchen wis­perten wie ein geisterhafter Sandsturm an den Außenwänden derSelene vorbei. Was hatte das zu bedeuten? War das Meer wie­der in Unruhe geraten? Würde es dieSele­ne ganz mit hinuntemehmen? Aber der Kreuzer schien sich nicht zu bewegen; nur die Außenwelt geisterte vorbei...

Pat ging auf Zehenspitzen in diä abgedun­kelte Kabine. Dr. McKenzie hielt Wache. Der Wissenschaftler kauerte im Pilotensitz und starrte auf die blind gewordenen Fen­ster. Als Pat nähertrat, drehte er sich um und flüsterte:Ist bei Ihnen etwas los?

Ich weiß nicht recht kommen Sie mit.

Sie preßten wieder das Ohr gegen die Außentür der Luftschleuse und lauschten längere Zeit. Schließlich meinte McKenzie: Der Staub bewegt sich aber warum? Jetzt haben wir noch etwas, worüber wir uns den Kopf zerbrechen müssen.

Noch etwas?

Ja. Ich weiß nicht, was mit der Tempera­tur los. Sie steigt noch, aber bei weitem nicht so schnell, wie es eigentlich der Fall sein müßte.

Der Physiker schien tatsächlich verärgert, daß seine Berechnungen nicht zutrafen, aber für Pat war das die erste gute Nachricht seit der Katastrophe.

Aber das ist doch kein Grund zur Verär­gerung. Wir machen alle Fehler. Und wenn uns dieser ein paar Tage das Leben verlän­gert, werde ich mich bestimmt nicht be­schweren.

Aber ich kann keinen Fehler gemacht haben die Berechnungen sind ganz ein­fach. Wir wissen, wieviel Wärme zweiund­

zwanzig Menschen erzeugen, und sie muß ja irgendwo hinkommen.

Sie produzieren sicher nicht soviel Hitze, wenn sie schlafen. Vielleicht ist das die Er­klärung.

Sie glauben doch nicht, daß ich so etwas übersehen würde! erwiderte der Wissen­schaftler gereizt.Es macht etwas aus, aber bei weitem nicht genug. Nein, es muß eine andere Erklärung dafür geben.

Nehmen wir es einfach hin und seien wir dankbar, meinte Pat.Woher kommt dann dieses Geräusch?

Mit offensichtlichem Widerwillen wandte sich McKenzie dem neuen Problem zu.

Der Staub bewegt sich, die ,Selene 1 aber nicht, also handelt es sich nur um eine loka­le Wirkung. Im übrigen scheint es sich tat­sächlich nur an der Rückseite der Kabine abzuspielen. Ob das etwas zu bedeuten hat? Er deutete auf das Schott hinter sich.Was liegt dahinter?

Die Motoren, Sauerstoffreserve, Kühlan­lagen ...

Kühlanlagen! Natürlich! Das ist mir schon aufgefallen, als ich an Bord kam. Jetzt verstehe ich, was geschehen ist. Die Kühl­ventilatoren sind so heiß geworden, daß der Staub zirkuliert, wie jede Flüssigkeit, die erhitzt wird. Da draußen befindet sich eine Staubfontäne, und sie nimmt die überschüs­sige Wärme mit sich. Mit einem bißchen Glück dürfte sich die Temperatur stabilisie­ren. Wir werden es zwar nicht bequem ha­ben, aber wir können es noch überleben.

Die beiden Männer sahen einander hoff­nungsvoll an. Dann sagte Pat langsam:Ich bin sicher, daß dies die Erklärung ist. Viel­leicht wendet sich jetzt alles zum Guten.

Er sah auf die Uhr und rechnete kurz nach.

Die Sonne müßte jetzt über dem Meer aufgehen. Der Stützpunkt wird die Staub­schlitten ausgeschickt haben, und unsere Po­sition müßte ungefähr bekannt sein. Ich

wette zehn zu eins, daß man uns in ein paar Stunden findet.

Sollen wir den Commodore unterrich­ten?

Nein, lassen Sie ihn schlafen. Er hat einen schweren Tag hinter sich. Diese Nach­richt kann bis zum Morgen warten.

Als McKenzie wieder nach vorn gegangen war, versuchte Pat noch einmal einzuschla­fen. Aber es gelang ihm nicht mehr. Er lag mit offenen Augen da und dachte über das seltsame Ereignis nach. Der Staub, der sie verschluckt und dann zu rösten gedroht hat­te, war ihnen jetzt zu Hilfe gekommen. Ob allerdings die Strömung ihre überschüssige Wärme noch nach oben tragen würde, so­bald die aufgehende Sonne das Meer voll bestrahlte, wußte er nicht.

Draußen wisperte der Staub immer noch vorbei, und plötzlich wurde Pat an ein altes Stundenglas erinnert, das man ihm als Kind einmal gezeigt hatte. Wenn man es umdreh­te, strömte der Sand durch eine Verengung in die untere Kammer, und die wachsende Sandmenge hatte den Ablauf der Minuten und Stunden angezeigt.

Vor der Erfindung der Uhren mußten zahllose Menschen ihre Tage mit Hilfe die­ser fallenden Staubkörner eingeteilt haben. Aber bis jetzt war wohl keinem Menschen die Lebensspanne nach einer Fontäne stei­genden Staubes bemessen worden.

In Clavius City hatten Chefverwalter Ol­sen und Direktor Davis eben eine Bespre­chung mit der Rechtsabteilung beendet. Es war alles andere als erfreulich gewesen; die meiste Zeit hatte man die Erklärungen über den Verzicht auf Verantwortlichkeit disku­tiert, die von den vermißten Touristen vor dem Betreten derSelene unterzeichnet worden waren. Davis war früher stets dage­gen gewesen, weil er befürchtete, damit Kunden zu verlieren, aber die Anwälte hat­ten darauf bestanden. Jetzt mußte man na­türlich froh sein.

(Fortsetzung folgt)