Samstag, 18. Januar 1969

Zum Zeitgeschehen

Seite 3

Werbung für Westberlin

Manche mögen uns nicht

aber die Stadt soll ins richtige Licht gerückt werden / Mauer und Checkpoint Charlie ziehen nicht mehr

Von unserer Korrespondentin Liselotte Müller

Westberlin ist gegenwärtig auf der Suche nach neuen Touristen-Attraktionen. Der Plan, eine Spielbank zu eröffnen, nimmt Gestalt an. Westberliner und westdeutsche Finanziers bewerben sich bereits um eine Lizenz. Der Senat aber überlegt, ob er das Roulette vielleicht in eigene Regie nehmen soll. Auch die Errichtung eines Eros-Cen­ters ist im Gespräch. Damit will man unerfahrenen und schüchternen Gästen peinliche Fragen an den Hotelportier ersparen. Und schließlich ist der Gedanke aufgetaucht, im Grunewald einen Löwen-Park einzurichten.

Hervorgerufen wurde die Ideenproduktion durch den Rückgang der auswärtigen Besu­cher im vergangenen Jahr um fünf Prozent. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die Ereignisse in der CSSR haben manchen auf einen Berlin-Abstecher verzichten lassen. Außerdem wirkte sich die Einführung der Visapflicht im Berlin-Verkehr durch die DDR negativ aus. Vielen Westdeutschen ist die Anschaffung eines Reisepasses zu um­ständlich.Da fahren wir lieber nach Hol­land, da genügt der Personalausweis.

Nicht zuletzt mögen aber auch zahlreiche Artikel, die in den letzten Jahren in west-

Mandie

Im X'

tm. .

Mort# fv

m fv.Y&yt'W-ti,

Sw«4

«Wft '«5# l*t » w SSW

*/.<&> <i ****' ' -

Äft iteiv*»SV?#*.?.

~MtM«irKS«r£R

deutschen Zeitungen, Magazinen und Illu­strierten erschienen sind und die von Berlin ein recht negatives Bild malten, dazu beige­tragen haben, daß das Interesse an der Stadt nachließ. Eine Umfrage ergab eine erstaunli­che Image-Verschlechterung. Berlin er­scheint heute vielen nur als ein permanentes Problem, als ein Faß ohne Boden für den Steuerzahler, als eine Bremse bei politischen Entscheidungen, als ein künstliches Glitzer­ding, als eine sterbende'Stadt.

Das brachte den Berliner Senat, genauer »gesagt, den Leiter des Presse- und. JnfQrma- tionsamtes, Peter Herz, in Trab. Er beschloß, Berlins Image müsse aufpoliert werden. Da­mit beauftragt wurde die Frankfurter Wer­beagentur McCann. Sie hat bereits einpräg­same Werbeslogans erfunden wieAlle re­den vom Wetter nur wir nicht und Neckermanns machts möglich. Auch die glücklichen Kühe wurden von McCann entdeckt. Jetzt sind die Werbefachleute da­bei, Berlinnicht in ein neues, nur in das richtige Licht zu rücken.

Sie tun das zunächst einmal mit einer gro­ßen Inseraten-Kampagne. Vor allem in Zeit­schriften und Illustrierten erscheinen zur Zeit ganz spritzige Berlin-Anzeigen. Eine trug die ÜberschriftDa schau her. Eine Stadt. Pfeile zeigten auf einzelne Punkte des Panoramas:Hier machte Otto Hahn das Uran kaputt,Linke Buchhandlung. Sie kommen rechts rein und dann gehts links

immer geradeaus weiter,Hier wird die Pille produziert,Hotel: hier pennen Pro­minente undHier gammelte schon der Eckensteher Nante.

In einem anderen Inserat flottes Mini- Mädchen vor der Gedächtniskirche fotogra­fiert heißt es:Manche mögen uns nicht. Und dann werden alte Vorurteile aufge­zählt:Die Berliner sind zu laut. Die Ber­linerinnen zu keß. Die Studenten zu radi­kal ... Die Moral zu liberal... Die Lage zu unübersichtlich. Zum Schluß die Frage: Aber warum zum Teufel kommen so viele so gern so oft zu uns nach Berlin? Können Sie das verstehen? Na, dann komm Se doch mal auf einen Sprung ,rüber. Dem Slogan Manche mögen uns nicht folgt in diesen Tagen der SloganSie machen sich Sorgen um uns. Wir machen uns auch Sorgen um Sie.

Diese kessen, ironischen Werbesprüche ha­ben die biedere ParoleBerlin ist eine Reise wert, die braven Fotos vom Brandenburger Tor und die Zeichnungen von dem ach so herzigen Berliner Bären verdrängt. Nicht das Politikum Berlin, die Weltstadt Berlin soll die Auswärtigen anlocken. Denn Mau­er, Luftbrückendenkmal, Freiheitsglocke,

fiiiiiiiiiiitiiiimiiiiiiiiiiiitiiiiiiiiiiiiimiiimiiiiiiiiiimiiiimiiniiiiiiD

Gelebt, geliebt, geraucht. ,

Käte Strobel, Bundesgesundheitsministe­rin, hatte eine Zuhörerin bei einem Vortrag über die Gesundheitspolitik der Bundesre­gierung zum Dichten angeregt. Nach der Veranstaltung trug die Frau ihrWerk" der Ministerin selber vor:Gelebt geliebt geraucht gesoffen / Dann auf Käte Stro­bel hijffen ...!"

Dr. Gerhard Schröder, Bundesverteidi­gungsminister, gab kürzlich eine Kostprobe aus denVorschriften zur Wohnungsfürsor­ge in der Bundeswehr", in denen auf Seite 16 zu lesen steht:Eine gezielte Kohlepolitik scheint sich in der Beibehaltung veralteter Hochdruckkesselanlagen bei bundeseigenen Wohnungen mit Heizkosten von über 1200 DM pro Jahr niederzuschlagen...!

*

Holger Börner, Parlamentarischer Staats­sekretär im Bundesverkehrsministerium, lehnte kürzlich eine ihm angebotene Ziga­rette dankend ab,-doch riet er den um ihn stehenden Journalisten unter Anspielung auf die hohen fiskalischen Abgaben, mit de­nen jede Zigarette belegt ist:Aber, raucht Ihr mal ruhig ... Wir brauchen jeden Pfen­nig, damit wir unsere Beamten bezahlen

können ...! (bf)

Werner Jungeblodt, Amtsgerichtsrat und Leiter derBundesprüfstelle für jugendge­fährdende Schriften", konnte gerade noch rechtzeitig verhindern, daß sein zwölfjähri­ger Sohn vomStamm-Zahnarzt der Fami­lie als Belohnung fürtapferes Durchhal­ten ein auf demIndex stehendes Land­ser-Heft erhielt...

*

Dr. Werner Brauksiepe, Redakteur und Ehemann der Bundesfamilienministerin Anne Brauksiepe, erhielt kürzlich folgendes Schreiben:Sehr geehrter Herr Minister! Wenn Sie eine Frau hätten, müßten Sie ein- sehen, daß Ihre ganze Familienpolitik fami­lienfeindlich ist...!

Checkpoint Charlie und Abstecher nach Ost­berlin ziehen nicht mehr genügend. Deshalb versprechen die Touristik-Fachleute neuer­dings: in Berlin kann man bummeln (Kur­fürstendamm), in Berlin kann man einkau­fen (Europa-Center, bald auch City-Treff und Steglitzer Kreisel) und in Berlin kann man sich amüsieren (Nachtlokale und Ball­häuser en gros, keine Polizeistunde).

Vor allem aber will man das Kulturzen­trum Berlin populärer machen. Denn auf kulturellem Gebiet hat die Spree-Metropole mehr zu bieten als jede andere deutsche Stadt. Das Angebot reicht von der neuen Nationalgalerie und den Dahlemer Museen mit 26 Rembrandts und einer Nofretete über 20 Bühnen mit jährlich mehr als 50 Premie­ren bis zu den Philharmonikern unter Kara­jan in der Scharounschen Philharmonie.

*' f UiriV y 'L

IN SUHL IN DER DDR wird ein neues Stadtzentrum entstehen, das 1973 abgeschlos­sen sein soll. Es werden u. a. vier 17geschossige Wohnhochhäuser, eine Stadthalle mit rund 2000 Plätzen, ein Hallenschwimmbad und ein 25geschossiges Hochhaus als Haus der Bildung und Qualifizierung gebaut. Unser Bild zeigt ein Modell der geplanten Neuanlage. (Foto: dpa)

Bonner Streiflichter von Walter Henkels:

In der Bütt im Bundeshaus

Minister Hermann Höcherl wirdJeck" honoris causa / Noch einmaison publique" soll gebaut werden

Die Basisgruppe, um im revolutionären Deutsch der APO zu reden, ist die Sportge­meinschaft des Deutschen Bundestages. Sie sorgt dafür, daß überkommene Strukturen des rheinischen Karnevals bleiben wie sie waren. Opas Fastnacht bleibt bestehen. Mit Büttenreden, Klatschmärschen und Raketen. Zwei Bonner Ritter des Ordens wider den tierischen Ernst, Carlo Schmid und Ewald Bücher, leihen den Veranstaltern ihre Schirme, im Klartext: Sie haben die Schirmherrschaft übernommen.

Am Dienstag, dem 21. Januar, um 21.11 Uhr, beginnt an der Basis im Bundeshaus also Opas Karneval. Sympathisanten sind Karnevalisten aus dem westfälischen Mün­ster mit dem dortigen Prinzenpaar, die man erwartet. Rin in die Bütt im Bundeshaus- Restaurant! Im Nu ist die Würde des Parla­ments umfunktioniert in rheinisch-westfäli­schen Klamauk und Blödsinn. Die Politik ist verdrängt, die Würde des Hohen Hauses in Mitleidenschaft gezogen. Höchst seltsam wird es ewig bleiben, daß man im Bundeshaus- Restaurant, in dem die Würde mittendrin Po­sten gefaßt hat, Büttenredner und Sänger auftreten läßt. Wie weit ist es doch von Eugen Gerstenmaiers Bemühen um guten Stil bis zu den rheinischen Nationalhymnen dieser Wochen: Es war einmal ein treuer Hu­sar, oder: Humba, humba, täterä? Warum nicht das Parlament und überkommene Strukturen des Karnevals umfunktionieren? Warum keine Kamevalssitzung im Plenar­

Wok er der^^MSclriAch ?

Kein Wässerchen trüben können

Niemand etwas zuleide tun. Aber auch: Eine Unschuldsmiene aufsetzen. Harmlos erscheinen. Lammfromm tun.

Der ursprüngliche Sinn des Unschul­digseins und des Friedfertigen ist in der Fabel des Griechen Äsop vom Wolf, der das Lamm frißt, enthalten. Das Lamm muß sterben, weil der Wolf behauptet, es habe das Wasser getrübt, aus dem er habe trinken wollen. Dies kann aber gar nicht so sein, denn der Wolf stand oberhalb der Tränke des Schafes. Der Bach hätte also bergauf fließen müssen.

Die Redensart ist seit dem 17. Jahr­hundert bezeugt. Allerdings veränderte sich ihr Sinn. Wenn wir sagen, jemand sehe aus, als könne er kein Wässerchen trüben, meinen wir die gespielte Un­schuld und nicht die wirklich vorhande-

(Copyright Cosmospress Genf)

saal? Schießt nicht auf den Mann am Kla­vier im Bundeshaus-Restaurant!

*

Zur Basisgruppe des rheinischen Karne­vals gehören die Ritter des Aachener Ordens wider den tierischen Ernst. Dieser Orden ist unter unseren Politikern längst so begehrt wie ein einstündiger Solo-Fernsehauftritt oder ein Ehrendoktorhut. Nicht errötend folgt jetzt Hermann Höcherl, der Bundesmi­nister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Spuren der Adenauer, Carlo Schmid und sonstigen Wider-den-tierischen- Ernst-Genossen. Am 1. Februar wird er in die Aachener Ritterschaft aufgenommen mit großem Fernseh-Trara und einer Laudatio des ehemaligen dänischen Außenministers Haekkerup, der den Orden im Jahr vorher bekam. Die beiden Minister, die sich bei der EWG in Brüssel manchmal in den Haaren lagen, aber die Staatskunst nie mit tieri­schem Ernst betrieben, werden vermutlich in ihren Reden einen heiteren Eindruck hinter­lassen. Die Jecken honoris causa, Höcherl und Haekkerup, erfuhren vom Aachener Oberjecken Jacques Königstein, daß es in­zwischen mehrere Konkurrenzunternehmen zum Orden wider den tierischen Emst gibt. In Augsburg wird am Freitag, dem 17. Ja­nuar, der frühere Postminister Stücklen, der CSU-Landesgruppenvorsitzende, den Augs­burger Karnevals-Orden vomstoinerne Ma (vom steinernen Mann) bekommen, weil er den Augsburger CSU-Bundestagsab- geordneten Anton Ott einRindvieh ge­nannt hatte. Und in der Bundeshauptstadt selbst will der Festausschuß des Bonner Karnevals den KarnevalsordenDas lachen­de Parlament verleihen, eine etwas dürftige Kopie des Aachener Ordens. Da die Bonner auch den Parteienproporz im Auge behalten, sollen ihn erhalten: Walter Scheel (FDP), Frau Brauksiepe (CDU), Ulrich Lohmar (SPD), Franz Xaver Unertl (CSU).

Oberjeck Jacques Königstein und seine Aachener können beruhigt sein: Der Aache­ner Orden wider den tierischen Emst bleibt der Doktorhut des westeuropäischen Hu­mors, der Bonner Orden ist nichts als eine AnsteckmarkeI like Eugen.

*

Mit der käuflichen Liebe, an der womög­lich Diplomatie, höchste Staatsdienerschaft

oder Parlament beteiligt sind, läßt sich in Bonn kein Staat machen. Der Güter höch­stes in den oberen Etagen der Bonner Ge­sellschaft scheint die Moral zu sein. Nur ganz selten wird es herumgetratscht, wenn es mit der Sittlichkeit in den höchsten Krei­sen etwas hapert. 1968 wurde in Bonn von einem geschäftstüchtigen Mann ein Etablis­sement gebaut, in dem die Damen der käuf­lichen Liebe kaserniert wurden. Die Franzo­sen nennen ein solches Hausmaison publi­que, die Holländerhoerenhuis und bei uns hieß es kräftig aber deutlichBordell. Das neue Haus bekam einen Namen von großer Strahlkraft; es wurde einer der we­nigen Lichtblicke auf diesem Gebiet:Eros- Center. Jetzt nun hat ein zweiter Unter­nehmer aus Süddeutschland bei der Stadt Bonn den Antrag gestellt, ein zweitesEros- Center am Außenrand der Stadt bauen zu dürfen. Lebt das offizielle Bonn doch nicht so ungerührt neben dem Bonn, das seine Liebe feilbietet? Es muß sich wohl lohnen, noch ein zweitesmaison publique, oder, zu deutsch, einEros-Center zu bauen.

Neu auf der Landkarte

Kennen Sie Namibia?

Selbst die erfahrensten Kreuzwort- und Quiz-Amateure werden diese Frage nicht be­antworten können. Nun, wir möchten etwas nachhelfen, indem wir verraten, daßNami­bia ein Ländername ist, den man allerdings bisher weder im Brockhaus noch auf einer Landkarte finden kann. Die Lösung:Nami­bia ist der neue Name fürSüdwestafrika. Sollten Sie jedoch einem Südwestafrikaner begegnen, so sprechen sie um Gottes Willen nicht vonNamibia oderNamibianern. Er würde sonst sehr ärgerlich werden. Und das mit Recht; denn die südwestafrikanische Bevölkerung wurde vor der Umbenennung ihres Landes nicht gefragt. Der neue Name wurde ihnen auf gezwungen. Wer ist der Schuldige? DieHochburg der Selbstbestim­mung, die UN. Den Namen Namibia leite­ten die Beamten in New York von dem klei­nen VolksstammNamib ab, der in Süd­westafrika lebt. Die Mehrheit der südwest­afrikanischen Bevölkerung beklagt sich je­doch bitter über diesenunakzeptablen Na­men. Wir können sicher sein: In der Praxis bleibt der NameSüdwestafrika bestehen. Namibia wird nur in UN-Bulletins auf­tauchen. BS.

EIN ZUKUNFTSROMAN VON ARTHUR C. CLARKE Goldmsnn-Verlag München

Copyright by Wilhelm

EIN ZUKUNFTSROMAN VON ARTHUR C. CLARKE

im.,

10

Seien Sie vorsichtig, und melden Sie sich alle 15 Minuten, ob Sie etwas gefunden ha­ben oder nicht.

Lawrence erhob sich vom Mikrophon und trat erschöpft ans Fenster. Er starrte zur si­chelförmigen Erde hinauf. Es war kein tröstlicher Anblick.

Man konnte es schwer fassen, daß sie für immer dort am südlichen Himmel hing so nahe am Horizont.

Lawrence war so in seine Gedanken ver­loren, daß er erst nach einiger Zeit auf den Signaloffizier aufmerksam wurde, der neben ihm stand.

Entschuldigen Sie, Sir Sie haben Schlitten Eins noch nicht verständigt. Soll ich das veranlassen?

Was? Ja tun Sie das. Schicken Sie ihn zum Kratersee, damit er dort Schlitten Zwei unterstützen kann. Teilen Sie mit, daß wir die Suchaktion im Meer des Durstes einge­stellt haben.

*

Die Nachricht, daß die Suche abgebrochen worden war, erreichte Lagrange II, als Tom Rawson mit müden, rotgeränderten Augen die letzten Veränderungen am Hundertzen- timetertelesköp vornahm. Er hatte im Wett­lauf mit der Zeit gearbeitet, und jetzt schien die ganze Mühe umsonst gewesen zu sein. Die .Selene befand sich überhaupt nicht im Meer des Durstes, sondern in einem Gebiet, wo er sie nie finden konnte die riesigen Felswände um den Kratersee verbargen es vor seinem Blick, und um das Maß voll zu machen, lag das Schiff vermutlich unter ton­

nenschweren Felsblöcken begraben. Toms erste Reaktion war nicht Mitgefühl für die Opfer, sondern Wut über nutzlos vergeudete Zeit und Arbeit. Die Schlagzeile .Junger Astronom findet vermißte Touristen würde nun nie über die Bildschirme der bewohnten Welten flimmern. Er fluchte mit einer Ge­läufigkeit vor sich hin, die seine Kollegen er­staunt hätte. Dann demontierte er wutent­brannt die Apparaturen, die er aus anderen Abteilungen zusammengebettelt entliehen und entwendet hatte.

Er war davon überzeugt, daß es funktio­niert hätte. Die Theorie war wohlbegründet sie beruhte immerhin auf einer fast hun­dert Jahre alten Erfahrung. Die Verwen­dung der Infrarottechnik ließ sich minde­stens bis zum zweiten Weltkrieg zurückver­folgen; damals hatte man getarnte Fabriken durch die dort produzierte Hitze entdecken können.

Hatte dieSelene auf dem Meer auch kei­ne sichtbare Spur hinterlassen, so doch auf jeden Fall eine infrarote. Ihre Schiffsschrau­ben hatten den relativ warmen Staub in einer Tiefe von etwa 30 Zentimetern aufge­wirbelt und ihn an die kältere Oberfläche gebracht. Mit einem Infrarotauge mußte ihr Pfad also noch nach Stunden zu verfolgen sein. Es wäre gerade Zeit genug gewesen, so hatte sich Tom ausgerechnet, den Versuch durchzuführen, bevor die Sonne aufging und die letzten Reste der Hitzefährte durch die kalte Lunarnacht auslöschte.

Aber offensichtlich hatte es jetzt keinen Sinn mehr, weiterzumachen. Zum Glück

konnte niemand an Bord der .Selene wis­sen, daß die Suche auf dem Meer des Dur­stes abgebrochen worden war, und die Staubschlitten ihre Bemühungen nun auf den Kratersee konzentrierten. Es war auch gut, daß keiner, der Passagiere von Dr. McKenzies Voraussage wußte.

*

Der Physiker hatte auf einem Blatt Papier den erwarteten Temperaturanstieg gra­phisch dargestellt. Jede Stunde stellte er den Wert auf dem Kabinenthermometer fest und trug ihn auf seiner Graphik ein. Die Über­einstimmung mit der Theorie war be­drückend genau; in 20 Stunden würde die Quecksilbersäule auf 40 Grad steigen, so daß von da ab mit den ersten Hitzschlägen zu rechnen war. Von welcher Seite man es auch immer betrachtete, es blieb ihnen knapp ein Tag. Unter diesen Umständen wirkten Com- modore Hansteens Bemühungen geradezu lächerlich. Übermorgen würde es gleichgül­tig sein, ob er Erfolg hatte oder nicht.

Aber war das wirklich richtig? Auch wenn sie nur noch die Wahl hatten, entweder als Menschen oder wie Tiere zu sterben, stand die Entscheidung von vornherein fest. Logik und rationelle Begründung hatten hier kei­nen Platz.

Commodore Hansteen war sich dessen völ­lig bewußt, als er das Programm für die da­hinschwindenden Stunden plante. Zum erstenmal, seit er die Brücke des Flaggschiffs Centaurus verlassen hatte, fühlte er sich wieder in seinem Element.

Es spielte gar keine Rolle, was die Leute taten, solange sie sich für ihre Beschäftigung interessierten. Der Buchhalter, der Ingenieur und die beiden Direktoren aus New York spielten mit Begeisterung Poker. Um sie brauchte er sich also keine Sorgen mehr zu machen.

Die meisten anderen Passagiere hatten sich in kleine Gesprächsgruppen aufgeteilt. Die Unterhaltung wurde ziemlich angeregt ge­führt. Das Vergnügungskomitee tagte immer noch. Professor Jayawadene machte sich ge­

legentlich Notizen, während Mrs. Schuster trotz der Störversuche ihres Mannes von ih­rer Zeit als Revuegirl erzählte. Die einzige Person, die sich ein wenig abzusondem schien, war Miß Morley, die mit präziser Schrift den Rest ihres Notizbuches füllte. Wahrscheinlich führte sie als gute Journali­stin Tagebuch über ihr Abenteuer, doch Commodore Hansteen fürchtete, daß es nur sehr kurz sein würde. Abgesehen davon, be­stand nur geringe Hoffnung, daß jemand diese Seiten je zu Gesicht bekam.

Er warf einen Blick auf seine Uhr und be­merkte überrascht, wie spät es war. Jetzt sollte er eigentlich schon auf der anderen Seite des Mondes in Clavius City sein. Er hatte eine Verabredung zum Mittagessen im Lunar Hilton, und aber es war sinnlos, über eine Zukunft nachzudenken, die es nie geben würde.

Es war wohl am besten, ein bißchen zu schlafen, bevor die Temperatur unerträglich wurde. Die .Selene mußte eben in einen Schlafsaal umgewandelt werden. Das erfor­derte einige Überlegung sowie gewisse Be­schädigungen des Eigentums der Touristen­behörde. Nach einer kurzen Besprechung mit Captain Harris wandte er sich an die Passa­giere.

Meine Damen und Herren, sagte er, wir haben alle einen sehr anstrengenden Tag hinter uns, und die meisten werden et­was Schlaf gebrauchen können. Das ist nicht ganz ohne Probleme, aber ich habe etwas herumexperimentiert und festgestellt, daß sich die Armlehne zwischen den Sitzen bei einiger Anstrengung herausnehmen läßt. Zehn Personen können sich also auf den Polstern ausstrecken, während die übrigen den Boden benützen müssen.

Noch etwas. Sie haben sicher bemerkt, daß es ziemlich warm wird. Ich möchte Ihnen daher raten, alle nicht unbedingt erforderli­chen Kleidungsstücke abzulegen. Die Be­quemlichkeit ist jetzt weit wichtiger als das Schamgefühl.

Wir schalten die Hauptbeleuchtung ab und lassen nur noch ein paar Notlampen bren­nen. Wir werden abwechselnd auf dem Pilo­tensitz Wache halten. Mr. Harris stellt eben eine Liste zusammen. Irgendwelche Fragen oder Vorschläge?

Niemand meldete sich, und der Commodo­re seufzte erleichtert auf. Er hatte befürch­tet, jemand würde sich nach der Ursache des Temperaturanstiegs erkundigen, und er wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Er besaß kein Talent zum Lügen, anderer­seits wünschte er, daß die Passagiere mög­lichst unbehelligt schlafen sollten. Wenn kein Wunder geschah, war das ihr letzter Schlaf.

Miß Wilkins, der die starke Belastung jetzt auch anzumerken war, brachte ein paar Leuten noch etwas zu trinken. Die meisten Passagiere hatten bereits begonnen, Kleider und Anzüge abzulegen. Die Schamhafteren warteten, bis die Hauptbeleuchtung ausge­schaltet wurde. Im trüben rötlichen Schein der Notlampen nahm das Innere der .Selene ein phantastisches Aussehen an. 22 Männer und Frauen, zumeist nur in Unterkleidung, lagen ausgestreckt auf den Sitzen oder am Boden. Ein paar Glückliche schnarchten be­reits, aber für die Mehrzahl war es nicht einfach, Schlaf zu finden.

Captain Harris Platte sich eine Stelle im Heck des Kreuzers ausgesucht Er befand sich nicht mehr in der Kabine, sondern in der winzigen Kombüse. Von dort aus konnte er alle Passagiere im Auge behalten. Er fal­tete seine Uniform zu einem Kissen zusam­men und legte sich auf den harten Boden. Er mußte erst in sechs Stunden Wache halten, und hoffte, vorher etwas schlafen zu kön­nen.

Schlaf! Die letzten Stunden seines Lebens vergingen, und doch hatte er nichts Besseres zu tun. Wie gut schlafen wohl zum Tod Ver­urteilte, dachte er, in der Nacht vor dem Galgen?

(Fortsetzung folgt)