Samstag, 18. Januar 1969
Zum Zeitgeschehen
Seite 3
Werbung für Westberlin
Manche mögen uns nicht
aber die Stadt soll ins richtige Licht gerückt werden / Mauer und Checkpoint Charlie ziehen nicht mehr
Von unserer Korrespondentin Liselotte Müller
Westberlin ist gegenwärtig auf der Suche nach neuen Touristen-Attraktionen. Der Plan, eine Spielbank zu eröffnen, nimmt Gestalt an. Westberliner und westdeutsche Finanziers bewerben sich bereits um eine Lizenz. Der Senat aber überlegt, ob er das Roulette vielleicht in eigene Regie nehmen soll. Auch die Errichtung eines Eros-Centers ist im Gespräch. Damit will man unerfahrenen und schüchternen Gästen peinliche Fragen an den Hotelportier ersparen. Und schließlich ist der Gedanke aufgetaucht, im Grunewald einen Löwen-Park einzurichten.
Hervorgerufen wurde die Ideenproduktion durch den Rückgang der auswärtigen Besucher im vergangenen Jahr um fünf Prozent. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die Ereignisse in der CSSR haben manchen auf einen Berlin-Abstecher verzichten lassen. Außerdem wirkte sich die Einführung der Visapflicht im Berlin-Verkehr durch die DDR negativ aus. Vielen Westdeutschen ist die Anschaffung eines Reisepasses zu umständlich. „Da fahren wir lieber nach Holland, da genügt der Personalausweis.“
Nicht zuletzt mögen aber auch zahlreiche Artikel, die in den letzten Jahren in west-
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deutschen Zeitungen, Magazinen und Illustrierten erschienen sind und die von Berlin ein recht negatives Bild malten, dazu beigetragen haben, daß das Interesse an der Stadt nachließ. Eine Umfrage ergab eine erstaunliche Image-Verschlechterung. Berlin erscheint heute vielen nur als ein permanentes Problem, als ein Faß ohne Boden für den Steuerzahler, als eine Bremse bei politischen Entscheidungen, als ein künstliches Glitzerding, als eine sterbende'Stadt.
Das brachte den Berliner Senat, genauer »gesagt, den Leiter des Presse- und. JnfQrma- tionsamtes, Peter Herz, in Trab. Er beschloß, Berlins Image müsse aufpoliert werden. Damit beauftragt wurde die Frankfurter Werbeagentur McCann. Sie hat bereits einprägsame Werbeslogans erfunden wie „Alle reden vom Wetter — nur wir nicht“ und „Neckermanns macht’s möglich“. Auch die „glücklichen Kühe“ wurden von McCann entdeckt. Jetzt sind die Werbefachleute dabei, Berlin „nicht in ein neues, nur in das richtige Licht zu rücken“.
Sie tun das zunächst einmal mit einer großen Inseraten-Kampagne. Vor allem in Zeitschriften und Illustrierten erscheinen zur Zeit ganz spritzige Berlin-Anzeigen. Eine trug die Überschrift „Da schau her. Eine Stadt.“ Pfeile zeigten auf einzelne Punkte des Panoramas: „Hier machte Otto Hahn das Uran kaputt“, „Linke Buchhandlung. Sie kommen rechts rein und dann geht’s links
immer geradeaus weiter“, „Hier wird die Pille produziert“, „Hotel: hier pennen Prominente“ und „Hier gammelte schon der Eckensteher Nante“.
In einem anderen Inserat — flottes Mini- Mädchen vor der Gedächtniskirche fotografiert — heißt es: „Manche mögen uns nicht.“ Und dann werden alte Vorurteile aufgezählt: „Die Berliner sind zu laut. Die Berlinerinnen zu keß. Die Studenten zu radikal ... Die Moral zu liberal... Die Lage zu unübersichtlich.“ Zum Schluß die Frage: „Aber warum zum Teufel kommen so viele so gern so oft zu uns nach Berlin? Können Sie das verstehen? Na, dann komm’ Se doch mal auf einen Sprung ,rüber“.“ Dem Slogan „Manche mögen uns nicht“ folgt in diesen Tagen der Slogan „Sie machen sich Sorgen um uns. Wir machen uns auch Sorgen um Sie.“
Diese kessen, ironischen Werbesprüche haben die biedere Parole „Berlin ist eine Reise wert“, die braven Fotos vom Brandenburger Tor und die Zeichnungen von dem ach so herzigen Berliner Bären verdrängt. Nicht das Politikum Berlin, die Weltstadt Berlin soll die Auswärtigen anlocken. Denn Mauer, Luftbrückendenkmal, Freiheitsglocke,
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Gelebt, geliebt, geraucht. ,
Käte Strobel, Bundesgesundheitsministerin, hatte eine Zuhörerin bei einem Vortrag über die Gesundheitspolitik der Bundesregierung zum Dichten angeregt. Nach der Veranstaltung trug die Frau ihr „Werk" der Ministerin selber vor: „Gelebt — geliebt — geraucht — gesoffen / Dann auf Käte Strobel hijffen ...!"
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Dr. Gerhard Schröder, Bundesverteidigungsminister, gab kürzlich eine Kostprobe aus den „Vorschriften zur Wohnungsfürsorge in der Bundeswehr", in denen auf Seite 16 zu lesen steht: „Eine gezielte Kohlepolitik scheint sich in der Beibehaltung veralteter Hochdruckkesselanlagen bei bundeseigenen Wohnungen mit Heizkosten von über 1200 DM pro Jahr niederzuschlagen...!“
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Holger Börner, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, lehnte kürzlich eine ihm angebotene Zigarette dankend ab,-doch riet er den um ihn stehenden Journalisten unter Anspielung auf die hohen fiskalischen Abgaben, mit denen jede Zigarette belegt ist: „Aber, raucht Ihr mal ruhig ... Wir brauchen jeden Pfennig, damit wir unsere Beamten bezahlen
können ...!“ (bf)
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Werner Jungeblodt, Amtsgerichtsrat und Leiter der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften", konnte gerade noch rechtzeitig verhindern, daß sein zwölfjähriger Sohn vom „Stamm-Zahnarzt“ der Familie als Belohnung für „tapferes Durchhalten“ ein auf dem „Index“ stehendes Landser-Heft erhielt...
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Dr. Werner Brauksiepe, Redakteur und Ehemann der Bundesfamilienministerin Anne Brauksiepe, erhielt kürzlich folgendes Schreiben: „Sehr geehrter Herr Minister! Wenn Sie eine Frau hätten, müßten Sie ein- sehen, daß Ihre ganze Familienpolitik familienfeindlich ist...!“
Checkpoint Charlie und Abstecher nach Ostberlin ziehen nicht mehr genügend. Deshalb versprechen die Touristik-Fachleute neuerdings: in Berlin kann man bummeln (Kurfürstendamm), in Berlin kann man einkaufen (Europa-Center, bald auch City-Treff und Steglitzer Kreisel) und in Berlin kann man sich amüsieren (Nachtlokale und Ballhäuser en gros, keine Polizeistunde).
Vor allem aber will man das Kulturzentrum Berlin populärer machen. Denn auf kulturellem Gebiet hat die Spree-Metropole mehr zu bieten als jede andere deutsche Stadt. Das Angebot reicht von der neuen Nationalgalerie und den Dahlemer Museen mit 26 Rembrandts und einer Nofretete über 20 Bühnen mit jährlich mehr als 50 Premieren bis zu den Philharmonikern unter Karajan in der Scharounschen Philharmonie.
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IN SUHL IN DER DDR wird ein neues Stadtzentrum entstehen, das 1973 abgeschlossen sein soll. Es werden u. a. vier 17geschossige Wohnhochhäuser, eine Stadthalle mit rund 2000 Plätzen, ein Hallenschwimmbad und ein 25geschossiges Hochhaus als Haus der Bildung und Qualifizierung gebaut. Unser Bild zeigt ein Modell der geplanten Neuanlage. (Foto: dpa)
Bonner Streiflichter von Walter Henkels:
In der Bütt im Bundeshaus
Minister Hermann Höcherl wird „Jeck" honoris causa / Noch ein „maison publique" soll gebaut werden
Die Basisgruppe, um im revolutionären Deutsch der APO zu reden, ist die Sportgemeinschaft des Deutschen Bundestages. Sie sorgt dafür, daß überkommene Strukturen des rheinischen Karnevals bleiben wie sie waren. Opas Fastnacht bleibt bestehen. Mit Büttenreden, Klatschmärschen und Raketen. Zwei Bonner Ritter des Ordens wider den tierischen Ernst, Carlo Schmid und Ewald Bücher, leihen den Veranstaltern ihre Schirme, im Klartext: Sie haben die Schirmherrschaft übernommen.
Am Dienstag, dem 21. Januar, um 21.11 Uhr, beginnt an der Basis im Bundeshaus also Opas Karneval. Sympathisanten sind Karnevalisten aus dem westfälischen Münster mit dem dortigen Prinzenpaar, die man erwartet. Rin in die Bütt im Bundeshaus- Restaurant! Im Nu ist die Würde des Parlaments umfunktioniert in rheinisch-westfälischen Klamauk und Blödsinn. Die Politik ist verdrängt, die Würde des Hohen Hauses in Mitleidenschaft gezogen. Höchst seltsam wird es ewig bleiben, daß man im Bundeshaus- Restaurant, in dem die Würde mittendrin Posten gefaßt hat, Büttenredner und Sänger auftreten läßt. Wie weit ist es doch von Eugen Gerstenmaiers Bemühen um guten Stil bis zu den rheinischen Nationalhymnen dieser Wochen: Es war einmal ein treuer Husar, oder: Humba, humba, täterä? Warum nicht das Parlament und überkommene Strukturen des Karnevals umfunktionieren? Warum keine Kamevalssitzung im Plenar
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Kein Wässerchen trüben können
Niemand etwas zuleide tun. Aber auch: Eine Unschuldsmiene aufsetzen. Harmlos erscheinen. Lammfromm tun.
Der ursprüngliche Sinn des Unschuldigseins und des Friedfertigen ist in der Fabel des Griechen Äsop vom Wolf, der das Lamm frißt, enthalten. Das Lamm muß sterben, weil der Wolf behauptet, es habe das Wasser getrübt, aus dem er habe trinken wollen. Dies kann aber gar nicht so sein, denn der Wolf stand oberhalb der Tränke des Schafes. Der Bach hätte also bergauf fließen müssen.
Die Redensart ist seit dem 17. Jahrhundert bezeugt. Allerdings veränderte sich ihr Sinn. Wenn wir sagen, jemand sehe aus, als könne er kein Wässerchen trüben, meinen wir die gespielte Unschuld und nicht die wirklich vorhande-
(Copyright Cosmospress Genf)
saal? Schießt nicht auf den Mann am Klavier im Bundeshaus-Restaurant!
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Zur Basisgruppe des rheinischen Karnevals gehören die Ritter des Aachener Ordens wider den tierischen Ernst. Dieser Orden ist unter unseren Politikern längst so begehrt wie ein einstündiger Solo-Fernsehauftritt oder ein Ehrendoktorhut. Nicht errötend folgt jetzt Hermann Höcherl, der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Spuren der Adenauer, Carlo Schmid und sonstigen Wider-den-tierischen- Ernst-Genossen. Am 1. Februar wird er in die Aachener Ritterschaft aufgenommen mit großem Fernseh-Trara und einer Laudatio des ehemaligen dänischen Außenministers Haekkerup, der den Orden im Jahr vorher bekam. Die beiden Minister, die sich bei der EWG in Brüssel manchmal in den Haaren lagen, aber die Staatskunst nie mit tierischem Ernst betrieben, werden vermutlich in ihren Reden einen heiteren Eindruck hinterlassen. Die Jecken honoris causa, Höcherl und Haekkerup, erfuhren vom Aachener Oberjecken Jacques Königstein, daß es inzwischen mehrere Konkurrenzunternehmen zum Orden wider den tierischen Emst gibt. In Augsburg wird am Freitag, dem 17. Januar, der frühere Postminister Stücklen, der CSU-Landesgruppenvorsitzende, den Augsburger Karnevals-Orden vom „stoinerne Ma“ (vom steinernen Mann) bekommen, weil er den Augsburger CSU-Bundestagsab- geordneten Anton Ott ein „Rindvieh“ genannt hatte. Und in der Bundeshauptstadt selbst will der Festausschuß des Bonner Karnevals den Karnevalsorden „Das lachende Parlament“ verleihen, eine etwas dürftige Kopie des Aachener Ordens. Da die Bonner auch den Parteienproporz im Auge behalten, sollen ihn erhalten: Walter Scheel (FDP), Frau Brauksiepe (CDU), Ulrich Lohmar (SPD), Franz Xaver Unertl (CSU).
Oberjeck Jacques Königstein und seine Aachener können beruhigt sein: Der Aachener Orden wider den tierischen Emst bleibt der Doktorhut des westeuropäischen Humors, der Bonner Orden ist nichts als eine Ansteckmarke „I like Eugen“.
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Mit der käuflichen Liebe, an der womöglich Diplomatie, höchste Staatsdienerschaft
oder Parlament beteiligt sind, läßt sich in Bonn kein Staat machen. Der Güter höchstes in den oberen Etagen der Bonner Gesellschaft scheint die Moral zu sein. Nur ganz selten wird es herumgetratscht, wenn es mit der Sittlichkeit in den höchsten Kreisen etwas hapert. 1968 wurde in Bonn von einem geschäftstüchtigen Mann ein Etablissement gebaut, in dem die Damen der käuflichen Liebe kaserniert wurden. Die Franzosen nennen ein solches Haus „maison publique“, die Holländer „hoerenhuis“ und bei uns hieß es kräftig aber deutlich „Bordell“. Das neue Haus bekam einen Namen von großer Strahlkraft; es wurde einer der wenigen Lichtblicke auf diesem Gebiet: „Eros- Center“. Jetzt nun hat ein zweiter Unternehmer aus Süddeutschland bei der Stadt Bonn den Antrag gestellt, ein zweites „Eros- Center“ am Außenrand der Stadt bauen zu dürfen. Lebt das offizielle Bonn doch nicht so ungerührt neben dem Bonn, das seine Liebe feilbietet? Es muß sich wohl lohnen, noch ein zweites „maison publique“, oder, zu deutsch, ein „Eros-Center“ zu bauen.
Neu auf der Landkarte
Kennen Sie Namibia?
Selbst die erfahrensten Kreuzwort- und Quiz-Amateure werden diese Frage nicht beantworten können. Nun, wir möchten etwas nachhelfen, indem wir verraten, daß „Namibia“ ein Ländername ist, den man allerdings bisher weder im Brockhaus noch auf einer Landkarte finden kann. Die Lösung: „Namibia“ ist der neue Name für „Südwestafrika“. Sollten Sie jedoch einem Südwestafrikaner begegnen, so sprechen sie um Gottes Willen nicht von „Namibia“ oder „Namibianern“. Er würde sonst sehr ärgerlich werden. Und das mit Recht; denn die südwestafrikanische Bevölkerung wurde vor der Umbenennung ihres Landes nicht gefragt. Der neue Name wurde ihnen auf gezwungen. Wer ist der Schuldige? Die „Hochburg der Selbstbestimmung“, die UN. Den Namen Namibia leiteten die Beamten in New York von dem kleinen Volksstamm „Namib“ ab, der in Südwestafrika lebt. Die Mehrheit der südwestafrikanischen Bevölkerung beklagt sich jedoch bitter über diesen „unakzeptablen Namen“. Wir können sicher sein: In der Praxis bleibt der Name „Südwestafrika“ bestehen. „Namibia“ wird nur in UN-Bulletins auftauchen. BS.
EIN ZUKUNFTSROMAN VON ARTHUR C. CLARKE Goldmsnn-Verlag München
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EIN ZUKUNFTSROMAN VON ARTHUR C. CLARKE
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„Seien Sie vorsichtig, und melden Sie sich alle 15 Minuten, ob Sie etwas gefunden haben oder nicht.“
Lawrence erhob sich vom Mikrophon und trat erschöpft ans Fenster. Er starrte zur sichelförmigen Erde hinauf. Es war kein tröstlicher Anblick.
Man konnte es schwer fassen, daß sie für immer dort am südlichen Himmel hing — so nahe am Horizont.
Lawrence war so in seine Gedanken verloren, daß er erst nach einiger Zeit auf den Signaloffizier aufmerksam wurde, der neben ihm stand.
„Entschuldigen Sie, Sir — Sie haben Schlitten Eins noch nicht verständigt. Soll ich das veranlassen?“
„Was? Ja — tun Sie das. Schicken Sie ihn zum Kratersee, damit er dort Schlitten Zwei unterstützen kann. Teilen Sie mit, daß wir die Suchaktion im Meer des Durstes eingestellt haben.“
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Die Nachricht, daß die Suche abgebrochen worden war, erreichte Lagrange II, als Tom Rawson mit müden, rotgeränderten Augen die letzten Veränderungen am Hundertzen- timetertelesköp vornahm. Er hatte im Wettlauf mit der Zeit gearbeitet, und jetzt schien die ganze Mühe umsonst gewesen zu sein. Die .Selene“ befand sich überhaupt nicht im Meer des Durstes, sondern in einem Gebiet, wo er sie nie finden konnte — die riesigen Felswände um den Kratersee verbargen es vor seinem Blick, und um das Maß voll zu machen, lag das Schiff vermutlich unter ton
nenschweren Felsblöcken begraben. Toms erste Reaktion war nicht Mitgefühl für die Opfer, sondern Wut über nutzlos vergeudete Zeit und Arbeit. Die Schlagzeile .Junger Astronom findet vermißte Touristen“ würde nun nie über die Bildschirme der bewohnten Welten flimmern. Er fluchte mit einer Geläufigkeit vor sich hin, die seine Kollegen erstaunt hätte. Dann demontierte er wutentbrannt die Apparaturen, die er aus anderen Abteilungen zusammengebettelt entliehen und entwendet hatte.
Er war davon überzeugt, daß es funktioniert hätte. Die Theorie war wohlbegründet — sie beruhte immerhin auf einer fast hundert Jahre alten Erfahrung. Die Verwendung der Infrarottechnik ließ sich mindestens bis zum zweiten Weltkrieg zurückverfolgen; damals hatte man getarnte Fabriken durch die dort produzierte Hitze entdecken können.
Hatte die „Selene“ auf dem Meer auch keine sichtbare Spur hinterlassen, so doch auf jeden Fall eine infrarote. Ihre Schiffsschrauben hatten den relativ warmen Staub in einer Tiefe von etwa 30 Zentimetern aufgewirbelt und ihn an die kältere Oberfläche gebracht. Mit einem Infrarotauge mußte ihr Pfad also noch nach Stunden zu verfolgen sein. Es wäre gerade Zeit genug gewesen, so hatte sich Tom ausgerechnet, den Versuch durchzuführen, bevor die Sonne aufging und die letzten Reste der Hitzefährte durch die kalte Lunarnacht auslöschte.
Aber offensichtlich hatte es jetzt keinen Sinn mehr, weiterzumachen. Zum Glück
konnte niemand an Bord der .Selene“ wissen, daß die Suche auf dem Meer des Durstes abgebrochen worden war, und die Staubschlitten ihre Bemühungen nun auf den Kratersee konzentrierten. Es war auch gut, daß keiner, der Passagiere von Dr. McKenzies Voraussage wußte.
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Der Physiker hatte auf einem Blatt Papier den erwarteten Temperaturanstieg graphisch dargestellt. Jede Stunde stellte er den Wert auf dem Kabinenthermometer fest und trug ihn auf seiner Graphik ein. Die Übereinstimmung mit der Theorie war bedrückend genau; in 20 Stunden würde die Quecksilbersäule auf 40 Grad steigen, so daß von da ab mit den ersten Hitzschlägen zu rechnen war. Von welcher Seite man es auch immer betrachtete, es blieb ihnen knapp ein Tag. Unter diesen Umständen wirkten Com- modore Hansteens Bemühungen geradezu lächerlich. Übermorgen würde es gleichgültig sein, ob er Erfolg hatte oder nicht.
Aber war das wirklich richtig? Auch wenn sie nur noch die Wahl hatten, entweder als Menschen oder wie Tiere zu sterben, stand die Entscheidung von vornherein fest. Logik und rationelle Begründung hatten hier keinen Platz.
Commodore Hansteen war sich dessen völlig bewußt, als er das Programm für die dahinschwindenden Stunden plante. Zum erstenmal, seit er die Brücke des Flaggschiffs „Centaurus“ verlassen hatte, fühlte er sich wieder in seinem Element.
Es spielte gar keine Rolle, was die Leute taten, solange sie sich für ihre Beschäftigung interessierten. Der Buchhalter, der Ingenieur und die beiden Direktoren aus New York spielten mit Begeisterung Poker. Um sie brauchte er sich also keine Sorgen mehr zu machen.
Die meisten anderen Passagiere hatten sich in kleine Gesprächsgruppen aufgeteilt. Die Unterhaltung wurde ziemlich angeregt geführt. Das Vergnügungskomitee tagte immer noch. Professor Jayawadene machte sich ge
legentlich Notizen, während Mrs. Schuster trotz der Störversuche ihres Mannes von ihrer Zeit als Revuegirl erzählte. Die einzige Person, die sich ein wenig abzusondem schien, war Miß Morley, die mit präziser Schrift den Rest ihres Notizbuches füllte. Wahrscheinlich führte sie als gute Journalistin Tagebuch über ihr Abenteuer, doch Commodore Hansteen fürchtete, daß es nur sehr kurz sein würde. Abgesehen davon, bestand nur geringe Hoffnung, daß jemand diese Seiten je zu Gesicht bekam.
Er warf einen Blick auf seine Uhr und bemerkte überrascht, wie spät es war. Jetzt sollte er eigentlich schon auf der anderen Seite des Mondes in Clavius City sein. Er hatte eine Verabredung zum Mittagessen im Lunar Hilton, und — aber es war sinnlos, über eine Zukunft nachzudenken, die es nie geben würde.
Es war wohl am besten, ein bißchen zu schlafen, bevor die Temperatur unerträglich wurde. Die .Selene“ mußte eben in einen Schlafsaal umgewandelt werden. Das erforderte einige Überlegung sowie gewisse Beschädigungen des Eigentums der Touristenbehörde. Nach einer kurzen Besprechung mit Captain Harris wandte er sich an die Passagiere.
„Meine Damen und Herren“, sagte er, „wir haben alle einen sehr anstrengenden Tag hinter uns, und die meisten werden etwas Schlaf gebrauchen können. Das ist nicht ganz ohne Probleme, aber ich habe etwas herumexperimentiert und festgestellt, daß sich die Armlehne zwischen den Sitzen bei einiger Anstrengung herausnehmen läßt. Zehn Personen können sich also auf den Polstern ausstrecken, während die übrigen den Boden benützen müssen.
Noch etwas. Sie haben sicher bemerkt, daß es ziemlich warm wird. Ich möchte Ihnen daher raten, alle nicht unbedingt erforderlichen Kleidungsstücke abzulegen. Die Bequemlichkeit ist jetzt weit wichtiger als das Schamgefühl.
Wir schalten die Hauptbeleuchtung ab und lassen nur noch ein paar Notlampen brennen. Wir werden abwechselnd auf dem Pilotensitz Wache halten. Mr. Harris stellt eben eine Liste zusammen. Irgendwelche Fragen oder Vorschläge?
Niemand meldete sich, und der Commodore seufzte erleichtert auf. Er hatte befürchtet, jemand würde sich nach der Ursache des Temperaturanstiegs erkundigen, und er wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Er besaß kein Talent zum Lügen, andererseits wünschte er, daß die Passagiere möglichst unbehelligt schlafen sollten. Wenn kein Wunder geschah, war das ihr letzter Schlaf.
Miß Wilkins, der die starke Belastung jetzt auch anzumerken war, brachte ein paar Leuten noch etwas zu trinken. Die meisten Passagiere hatten bereits begonnen, Kleider und Anzüge abzulegen. Die Schamhafteren warteten, bis die Hauptbeleuchtung ausgeschaltet wurde. Im trüben rötlichen Schein der Notlampen nahm das Innere der .Selene“ ein phantastisches Aussehen an. 22 Männer und Frauen, zumeist nur in Unterkleidung, lagen ausgestreckt auf den Sitzen oder am Boden. Ein paar Glückliche schnarchten bereits, aber für die Mehrzahl war es nicht einfach, Schlaf zu finden.
Captain Harris Platte sich eine Stelle im Heck des Kreuzers ausgesucht Er befand sich nicht mehr in der Kabine, sondern in der winzigen Kombüse. Von dort aus konnte er alle Passagiere im Auge behalten. Er faltete seine Uniform zu einem Kissen zusammen und legte sich auf den harten Boden. Er mußte erst in sechs Stunden Wache halten, und hoffte, vorher etwas schlafen zu können.
Schlaf! Die letzten Stunden seines Lebens vergingen, und doch hatte er nichts Besseres zu tun. Wie gut schlafen wohl zum Tod Verurteilte, dachte er, in der Nacht vor dem Galgen?
(Fortsetzung folgt)