Dienstag, 14. Januar 1969

Zum Zeitgeschehen

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Auf der Cocktail-Party Rassenhaß Rhodesien Makarios

Gespräch mit afrikanischen Würdenträgern am Rande der Commonwealth-Konferenz

Von unserem Londoner Korrespondenten Edwin Roth

Unter vergoldeten Kandelabern und einem venezianischen Bild, das den XitelGarten der Liebe trug, stand während einer großen Cocktail-Party Kenias schwarzer Wirt- schaftsminister Tom Mboya und sagte sehr hart über die in Kenia lebenden braunen Asiaten:Wenn man in Kenia geboren wurde, bedeutet das nicht, daß man ein Bürger von Kenia ist. Am Tag vorher hatte Mboya auf einer Londoner Pressekonferenz über die in Kenia lebenden Asiaten, von denen viele in Kenia geboren wurden, erklärt: Man kann von uns Afrikanern nicht erwarten, unsere Länder zu Flüchtlingslagern für britische Bürger zu machen.

Ich erinnerte Mboya an seine Worte über Flüchtlingslager für britische Bürger auf seiner Pressekonferenz.Ja, das habe ich ge­sagt, erwiderte Mboya.Und warum nicht? Es ist wahr.

Würden Sie zugeben, fragte ich,daß Ihre Worte über Menschen, die ihr ganzes Leben in Kenia verbracht haben, ebenso emotionell sind wie die Heden des britischen konservativen Politikers Enoch Powell ge­gen die farbigen Einwanderer in England? Und Ihre Worte, daß Geburt nicht zum Bür­ger macht, sind genau die Worte Enoch Po- wells, die hier so stark kritisiert wurden besonders von den farbigen Einwanderern. Mboya erwiderte:Nur weil Enoch Powell etwas gesagt hat, bedeutet das nicht, daß ich es nicht sagen kann. Diese Asiaten gehen uns nichts an. Sie sind Englands Problem. Ganz abgesehen von den harten Buchsta­ben Ihres Gesetzes, fragte ich weiter,mei­nen Sie nicht, daß hier etwas Menschlichkeit am Platz wäre? Schließlich haben diese Asiaten ihr ganzes Leben in Kenia ver­bracht.

Mboya erwiderte:Die Engländer sollen menschlich sein und sie nach England lassen. Es ist ein britisches Problem, denn diese Asiaten sind britische Bürger.

Mit einem üblen Rassismus, der an Hitlers Rassismus in den Jahren vor dem Krieg erinnert, berauben jetzt die afrikanischen Staaten Kenia und Sambia die dort leben-

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Schwarzer Humor aus Prag

Die Tschechoslowaken haben sich mit vie­len bissigen Witzen gegen die Invasion zur Wehr gesetzt. Zum Beispiel so: Bischof Frantisek Tomasek, Apostolischer Admini­strator der Diözese Prag, ließ den Sowjets mitteilen, daß er bereit sei, die St.-Vitus- Kathedrale in Leonid-Breschnew-Kathe- drale umzutaufen. Einzige Bedingung: Zuerst müßten die Gebeine beigesetzt werden.

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den Asiaten, die britische Staatsbürger sind, ihres Lebensunterhaltes, um sie nach Eng­land zu vertreiben. Da in England farbige Einwanderung das explosivste soziale und politische Problem ist, hat die britische La- bour-Regierung die Einwanderung dieser farbigen Staatsbürger (von denen die mei­sten nie in England waren) beschränkt. Sie hat jedoch erklärt, daß sie diese farbigen britischen Staatsbürger nach England lassen muß, falls sie aus Afrika vertrieben werden.

Der afrikanische Rassismus hat schwere Differenzen zwischen mehreren Common­wealth-Ländern verursacht. Doch die briti­sche Labour-Regierung besteht auf ihrem Recht, die Anzahl der Einwanderer in Eng­land zu bestimmen, und die Einyanderer zu wählen.

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Auf derselben Cocktail-Party für Com­monwealth-Regierungschefs fragte ich den Präsidenten von Sambia, Kenneth Kaunda, warum Sambia in der UN für die Resolution stimmte, daß die britische Regierung Gibral­tar an Spanien abtreten soll, obwohl über 99 Prozent aller Gibraltar-Bürger in einer de­mokratischen Volksabstimmung erklärt hat­ten, weiterhin eine demokratisch regierte britische Kolonie bleiben zu wollen.

Kaunda antwortete:Es war ein Protest. Bitte erklären Sie das, Herr Präsident. Ein Protest gegen die britische Rhode­sienpolitik. Wir haben gestimmt, daß, wenn

die Mehrheit der Rhodesier kein Recht hat, über ihr Land zu entscheiden, dann sehen wir nicht ein, weshalb die weißen Gibraltar- Bürger dieses Recht haben sollen.

In Kaundas Nähe stand Präsident Julius Nyerere, der Tansanias diplomatische Bezie­hungen mit England wegen Rhodesien ab­brach und sie dann wieder aufnahm. Während keine diplomatischen Beziehungen bestanden, erhielt Nyerere trotzdem ohne Unterbrechung die britische Entwicklungs­hilfe.

Herr Präsident, fragte ich Nyerere,was hat sich eigentlich geändert und Sie veran­laßt, die Beziehungen wieder aufzuneh­men?

Etwas verlegen erwiderte Nyerere:Pre­mierminister Wilsons Versprechen, Rhode­sien keine legale Unabhängigkeit ohne Re­gierung durch die Mehrheit seiner Bürger zu geben.

Doch Wilson hat dieses Versprechen zu­rückgezogen. Was werden Sie jetzt tun?

Nyerere lächelte diplomatisch:Ich würde es hassen, die diplomatischen Beziehungen zum zweitenmal abzubrechen.

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Der große Empfang bot auf jede Weise ein sehr farbenfrohes Bild. Häuptling Jonathan von Lesotho trug eine Weste aus Leoparden­fell, und hielt seinen großen Strohhut in der Hand. Die einzige Premierministerin der Welt, Indiens Regierungschef Indira Gandhi, trug einen grünen Sari und bemerkte zu einem amerikanischen Reporter, die Ver­einigten Staaten sollten nicht immer so auf­geregt sein, wenn andere Völker andere An­sichten haben als die Vereinigten Staaten.

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Pierre Trudeau, der sehr dynamische neue Premierminister von Kanada, war begeistert über die Vielfalt der Demonstranten vor dem Konferenzgebäude.Nur in England kann man erleben, daß gleichzeitig am sel­ben Ort für so viele verschiedene Ideen de­monstriert wird, sagte er lachend.

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In einer Ecke saß an einem vergoldetem Tisch sehr majestätisch der Präsident von Zypern, Erzbischof Makarios, im schwarzen Gewand und mit dem schwarzen Schleierhut eines Erzbischofs der griechisch-orthodoxen Kirche. So oft jemand um ein Autogramm auf einer Einladungskarte bat, benützte Erz­bischof Makarios seine Füllfeder mit roter Tinte, denn ein byzantinischer Kaiser gab den Ethftärch'ön von Zypern das Recht, ihre Namen mit roter Tinte zu unterschreiben.

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Premierminister Harold Wilson kam ziem­lich spät zu dieser Cocktail-Party. Um einem politischen Kreuzverhör zu entgehen, er­zählte er Scherze. Doch auf die Frage, wie jetzt das Commonwealth zu Englands eventuellem Beitritt zur Europäischen Wirt­schaftsgemeinschaft stehe, antwortete er: Im Gegensatz zu 1962, als die Entscheidung der damaligen konservativen Regierung Macmillans größte Bestürzung und Panik im Commonwealth verursachte, steht jetzt das Commonwealth sehr viel positiver dazu besonders, weil jetzt viele afrikanische Staaten ihre eigenen wirtschaftlichen Kon­takte mit Europa haben. Nur in Neuseeland und Australien gibt es in der Beziehung Sorgen.

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Obwohl England im Januar keine Fliegen hat, hielt der kleine glatzköpfige Präsident

von Malawi, Dr. Hastings Banda, seinen Fliegenwedel als eine Art Zepter. Dr. Banda, ein Arzt, der erst von wenigen Jahren von der britischen Macmillan-Regierung einge­sperrt wurde, ist jetzt der einzige farbige Regierungschef des Commonwealth, der Ha­rold Wilsons Rhodesienpolitik unterstützt. Vor der Unabhängigkeit hieß sein kleiner Staat Njassaland und bildete mit Sambia (Nord-Rhodesien) und Rhodesien (damals Süd-Rhodesien) die rhodesische Föderation. Dr. Banda sagte, Kenneth Kaundas Forde­rung nach britischer Militärgewalt gegen Rhodesien sei völlig undurchführbar und lä­cherlich.

Auf die Frage, ob er ebenso wie Kaunda afrikanischen Guerillas erlauben würde, von seinem Staat aus gegen die weiße Re­gierung des rhodesischen Premierministers Ian Smith zu kämpfen, erwiderte er:Nein, bestimmt nicht denn wenn in diesem Fall Ian Smith meinen Staat so behandeln würde wie Israels General Dayan vor kurzem den Libanon behandelt hat, dann hätte ich gar kein Recht, mich darüber zu beklagen!

AUCH AM RANDE DER COMMONWEALTH-KONFERENZ waren am Sonntag solche Szenen zu sehen. Demonstranten hatten Plakate und Fahnen angefertigt, die sie auf ihrem Zug durch das Londoner Regierungsviertel Whitehall verbrannten. Sie prote­stierten wie berichtet gegen die britische Rhodesien-Politik. (AP-Photofax)

MilitärischeBefreiungsfront Politischer Sprengstoff in der Bretagne

Keltischer Volksstamm will Autonomie von fünf französischen Departements / De Gaulle plant gefährliche Reise

Wenn über dem Atlantik winterliche Stürme toben und die gepeitschten Wassermas­sen gegen die Küste der Bretagne donnern, herrscht in der Präfektur von Quimper gespannte Aufmerksamkeit. Denn die Landzunge von Raz, die der äußerste westliche Punkt nicht nur des französischen Departements Finistere, sondern auch des gesamten europäischen Kontinents ist, wird dann zu einer akuten Gefahr für die Schiffahrt. In jüngster Zeit sind es jedoch weniger die entfesselten Elemente, die den Präfektur­beamten in Quimper Sorge bereiten, als vielmehr die spektakulären Sprengstoff­anschläge bretonischer Separatisten. Kaum eine Woche ist in den letzten Monaten ver- vergangen, in der nicht in einem der insgesamt fünf bretonischen Departements in öf­fentlichen Gebäuden Bomben explodierten.

Nachdem von der französischen Polizei in der Nähe eines Bauerngehöfts in Bourbriac 520 Küogramm gestohlenen Sprengstoffs ausgegraben und anschließend bei Haus­durchsuchungen Waffen und Uniformstücke gefunden worden sind, ist es offenkundig, daß die bretonischeBefreiungsfront zum Äußersten entschlossen ist. Der Umstand, daß inzwischen eine ganze Reihe von Ver­haftungen vorgenommen worden ist, mag in der Untergrundorganisation zunächst einen Schock ausgelöst haben. Aber es ist kaum anzunehmen, daß die bretonischen Separati­sten nun still und leise kapitulieren werden. Sie werden eher in dem erhabenen Gefühl, Märtyrer einer gerechten Sache zu sein, bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, wie sie sichs in geheimen nächtlichen Versamm­lungen geschworen haben.

'Nicht von Paris aüs verwalten* * * * * "

Seit der französische Staatschef General de Gaulle auf der Reise zur Weltausstellung, von Montreal die Franko-Kanadier mit dem RufEs lebe das freie Quebec! zu ver­stärkter separatistischer Aktivität ermunter­te, glauben die alteingesessenen Bewohner der Bretagne zumindest dasRecht auf Au­tonomie für sich in Anspruch nehmen zu können. Die 1,2 Millionen Bretonen, die sich auch im 20. Jahrhundert ihrer alten kelti­schen Tradition verpflichtet fühlen und ihre ureigene Sprache als kostbares Vermächtnis bewahren, wollen sich nicht länger von Pa­ris aus verwalten lassen. Gewiß, ihre Pro­vinz war schon 1491 durch die Heirat von Karl VIII. mit Anne von der Bretagne un­ter die Herrschaft der französischen Krone gekommen, doch endgültig annektiert wurde das Land erst 1532 unter Franz I. Noch heute können die bretonischen Bewohner der De­partements Finestere, Cote-du-Nord, Morbi- han, Ille-et-Villaine und Loire-Inferieur ihre verlorene Unabhängigkeit nicht verwinden.

Nach der französischen Sozialrevolte im Mai und Juni vergangenen Jahres, zu deren Schwerpunkten in der Provinz auch eine gro­

ße Bauerndemonstration mit 6000 Traktoren in Saint-Brieuc, der Hauptstadt des Depar­tements. Cötes-du-Nord, zählte, hat sich Prä- te zu der Ansicht gelangt sein, daß es sich bei sident de Gaulle des bretonischen Problems eingehend angenommen. Der General moch­te zu der Ansicht gelangt sein, daß es bei allen Schwierigkeiten im Grunde genommen um Fragen der Wirtschaftspolitik handelt. Zu lange war die von mehr als drei Millio­nen Menschen bewohnte Bretagne sträflich vernachlässigt worden. Zwar gibt es in der Provinzhauptstadt Rennes und in Städten wie Brest, Nantes und Quimper durchaus achtbare Industriebetriebe allein, auf dem flachen Land sind noch zahlreiche Dörfer oh­ne elektrischen Strom, und der Durch­schnittsbauer verdient im Jahr nur ganze 7500 Franc, etwa halb soviel wie der Durch­schnittsbewohner von Paris. Daß ein solches 'Gefegt nur*allzu schnell VüFn Nährboden der Unzufriedenheit und des Aufruhrs wird, ist unbestreitbar. .. .. ,>.. ,

Bretonen wollen Taten sehen De Gaulle hat den 1,2 Millionen Bretonen nun zugesichert, er werde die fünf Departe­ments in einer großen Region Bretagne zu­sammenfassen, die wie es künftig auch bei den anderen geplanten Großräumen der Fall sein soll über ein eigenes Regional­parlament verfügen wird. Wie die Reform

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Vademekum

Begleit- oder Taschenbuch. Leitfaden.

Der zusammengesetzte Ausdrude kommt aus dem Lateinischen.Vade- mecum heißt wörtlichGeh mit mir! und wird gebildet ausvade =geh 1 undmecum =mit mir.

(Copyright Cosmospress Genf)

der Verwaltung dieses Gebietes mit 18 Ar­rondissements, die sich wiederum in 218 Kantone mit insgesamt 1474 Kommissaria­ten aufgliedem, bewerkstelligt werden soll, beschäftigt gegenwärtig die zuständigen Mi­nisterien in Paris. Die Bretonen aber, des Wartens müde, wollen alsbald Taten sehen. Schon argwöhnen sie, die Zusage de Gaul­les sei möglicherweise doch nur ein Hin- haltemanöver und letztlich eine leere Ver­sprechung. Und so wird wohl auch noch in der nahen Zukunft nachts die Zündschnur gelegt.

Aber die Polizeichefs in Frankreichs Nord­westen haben noch andere Sorgen: In aller Kürze gedenkt Staatschef de Gaulle, eine Reise in die Bretagne zu unternehmen, und wer die Unbeirrbarkeit seines Charakters kennt, weiß nur allzu gut, daß er sich kaum von diesem offensichtlich lebensgefährlichen Unternehmen wird abbringen lassen. Dies um so weniger, als dieBefreiungsfront fatalerweise gerade von ihm kräftigprofi­tiert hat: Die bretonischen Separatisten machten sich nämlich die Erfahrungen der Resistance zu Nutzen, jener Widerstands­bewegung, die General de Gaulle während des zweiten Weltkrieges von London aus in Frankreich aufgebaut hatte, um in einem permanenten Kleinkrieg die deutschen Be­satzungstruppen zu bekämpfen. Wie damals die Resistance, so isf heute auch dieBe- freiurigsfront streng militärisch organisiert: Sie hat Dienstgrade eingeführt, die vom Ge­freiten bis zum Major reichen, und sie drillt ihre Leute auf den Nahkampf ebenso wie auf den Umgang mit hochbrisantem Spreng­stoff. Schon gibt es auch Fingerzeige, daß die Separatisten nach de Gaulles Londoner Muster eineExilregierung zu bilden ge­dachten.

Die drei wesentlichen Forderungen

Autonomie in Kultur, Wirtschaft und Fi­nanzen das sind die drei wesentlichen Forderungen der bretonischen Autonomi­sten. Ob de Gaulles Reformen der Bretagne auch nur halbwegs eine Autonomie bringen, wird erst die Zukunft erweisen. Der Zu­sammenschluß der fünf bretonischen Depar­tements darf aber durchaus als ein Entge­genkommen gewertet werden. Die wirt­schaftliche Strukturverbesserung, die damit erzielt werden dürfte, und daraus resultie­rend die Hebung des Lebensstandards wer­den denn wohl auch die gespannte innen­politische Situation im äußersten Nordwe­sten Frankreichs zunehmend entschärfen.

Marcel Müller

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Copyright by Wilhelm Goldmann-Verlag München

EIN ZUKUNFTSROMAN VON ARTHUR C. CLARKE

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Zuerst konnte er überhaupt nichts sehen, jedenfalls .kein blinkendes Signallicht. Dann, als sich seine Augen langsam umgestellt hatten, bemerkte er, daß das Land nicht ganz dunkel war. Es glühte mit geisterhafter Phosphoreszenz, und je länger er hinsah, de­sto mehr Einzelheiten drängten sich auf.

Dort das Gebirge im Osten der Regenbo­genbucht, die Dämmerung erwartend. Und da um Gotteswillen, welcher Stern schim­merte da im Dunkeln? Seine Hoffnungen schwangen sich auf, stürzten aber nur um so trostloser hinab. Das waren nur die Lichter von Port Roris, wo man jetzt schon besorgt auf die Ergebnisse seiner Beobachtungen wartete.

Innerhalb von wenigen Minuten hatte er sich überzeugt, daß es so keinen Sinn hatte. Es bestand nicht die geringste Chance, ein so kleines Objekt wie dieSelene in dieser schwach schimmernden Landschaft zu ent­decken. Bei Tag wäre es etwas anderes ge­wesen; er hätte dieSelene sofort an dem langen Schatten erkennen können, den sie über das Meer warf. Aber das menschliche Auge konnte beim Licht der abnehmenden Erde aus einer Höhe von fünfzigtausend Ki­lometern nichts entdecken.

Dr. Rawson machte sich deswegen keine Sorgen. Er hatte gar nicht erwartet, auf An­hieb etwas zu finden. Die Astronomen besa­ßen jetzt ganz andere Waffen ein ganzes Arsenal von Lichtverstärkern und Strah- lungsanzeigem. Mit einem dieser Geräte würde er dieSelene schon finden können. Davon war Tom Rawson überzeugt.

Er wäre seiner Sache nicht so sicher gewe­sen, wenn er gewußt hätte, daß sie sich nicht mehr auf der Oberfläche des Mondes be­fand.

* .

Als dieSelene zum Stillstand kam, wa­ren Mannschaft und Passagiere immer noch unfähig, einen Ton hervorzubringen. Cap- tain Harris erholte sich als erster, weil er vermutlich als einziger annähernd begriff, was geschehen war. '

Natürlich ein Landrutsch; so etwas kam nicht einmal selten vor, wenn man auch im Meer des Durstes etwas Ähnliches bisher noch nicht beobachtet hatte. Tief unten im Mond war etwas zusammengestürzt; viel­leicht war das minimale Gewicht derSele­ne der auslösende Faktor gewesen. Wäh­rend sich Harris mühsam erhob, überlegte er, wie weit er die Passagiere unterrichten sollte. Er konnte nicht gut behaupten, alles sei in Ordnung und man werde die Fahrt in fünf Minuten fortsetzen; andererseits konn­te eine Panik entstehen, wenn er den Ernst der Lage unumwunden zugab. Früher oder später würde ihm gar nichts anderes übrig bleiben, aber bis dahin durfte das Zutrauen der Fahrgäste nicht erschüttert werden.

Er begegnete Miß Wilkins Blick. Sie stand an der Rüdewand der Kabine, hinter den neugierig wartenden Passagieren. Sie war sehr blaß, aber gefaßt Er wußte, daß er sich auf sie verlassen konnte, und lächelte ihr beruhigend zu.

Das ist noch mal gut abgegangen, be­

gann er leichthin.Wir hatten einen kleinen Unfall, wie sie sicher bemerkt haben, aber es könnte schlimmer sein. Wie? fragte er sich. Nun, ein Riß in der Wand zum Bei­spiel ... Du willst also die Qual verlängern? Mit großer Willensanstrengung brach er den inneren Monolog ab.Wir sind von einem Landrutsch erfaßt worden, einem Mondbe­ben, wenn Sie wollen. Es besteht nicht der geringste Anlaß zur Aufregung. Selbst wenn wir uns nicht aus eigener Kraft freimachen können, wird Port Roris bald Hilfe schicken. Ich weiß, daß Miß Wilkins eben Erfrischun­gen servieren wollte, deshalb schlage ich vor, daß Sie sich ein bißchen ausruhen, wäh­rend ich äh das Nötige veranlasse.

Das schien recht gut angekommen zu sein. Mit einem unhörbaren Seufzer der Erleich­terung wandte er sich wieder der Steuerung zu. Dabei bemerkte er, daß einer der Passa­giere sich eine Zigarette anzündete.

Es war eine automatische Reaktion, für die er durchaus Verständnis aufbrachte. Er sagte nichts, denn das hätte den Erfolg sei­ner Rede verdorben, aber er sah den Rau­cher durchdringend an, und die Zigarette wurde sofort ausgedrückt.

Als Pat das Funkgerät einschaltete, be­gannen sich die Fahrgäste hinter ihm zu un­terhalten. Am allgemeinen Gesprächston ließ sich die Stimmung ablesen, auch wenn man die einzelnen Worte nicht verstand. Harris hörte Verärgerung, Aufregung, sogar Vergnügen heraus aber bis jetzt nur we­nig Angst. Wahrscheinlich konnten die Leu­te, die sich unterhielten, nicht erfassen, wie gefährlich die Lage war, und die anderen blieben stumm.

Ebenso das Funkgerät. Er suchte die Fre­quenzen ab, fand aber nur ein schwaches Knistern, das von dem elektrisch geladenen Staub stammte, der sie begraben hatte. Das entsprach genau seinen Erwartungen. Durch den hohen Metallgehalt wirkte der Staub als nahezu vollkommene Abschirmung. Sie ließ weder Funkwellen noch Geräusche durch.

Er schaltete auf eine Hochleistungsfre­quenz um, die nun automatisch ein Notsi­gnal auf dem Katastrophen-Kurzwellenband ausschickte. Wenn er überhaupt durchkam, dann nur damit. Es hatte keinen Sinn, mit Port Roris in Verbindung treten zu wollen, und die erfolglosen Versuche würden die Passagiere nur beunruhigen. Er ließ den Empfang auf der seinem Boot zugeteilten Frequenz weiterlaufen, falls irgendeine Ant­wort eintraf. Aber er wußte, daß es nutzlos war. Niemand konnte sie hören; niemand konnte mit ihnen sprechen. Für sie existier­te die Menschheit praktisch nicht mehr.

Er brütete nicht lange darüber nach; er hatte damit gerechnet, und es gab zu viel zu tun. Mit besonderer Sorgfalt überprüfte er alle Instrumente und Meßgeräte. Alles schien völlig normal zu sein, abgesehen da­von, daß die Temperatur ein bißchen ange­stiegen war. Auch damit hatte man rechnen müssen, denn die Staubdecke isolierte sie vor der Kälte des Weltraums.

Seine größte Sorge galt der Dicke dieser Staubschicht und dem Druck, den sie auf das Boot ausübte. Es mußten abertausend Ton­nen von diesem Stoff über derSelene lie­gen und ihr Rumpf war so entworfen, daß er einem Druck von innen, nicht von außen widerstehen sollte. Wenn sie noch tie­fer sank, zerbrach sie vielleicht wie eine Eierschale.

Pat hatte keine Ahnung, wie tief der Kreuzer schon war. Beim letzten Blick auf die Sterne hatten sie sich bereits zehn Meter unter der Oberfläche befunden, und die Saugwirkung des Staubes mochte sie sehr viel weiter hinabgetragen haben. Es war ratsam, den Innendruck zu erhöhen und da­mit die Wände zu entlasten, wenn auch der Sauerstoffverbrauch dadurch stieg.

Ganz langsam, damit keiner der Passagie­re durch ein verräterisches Knacken in den Ohren etwas merkte, erhöhte er den Kabi- neninnendruck um zwanzig Prozent Dann fühlte er sich etwas zufriedener. Er war nicht der einzige, denn als sich der Druck­

messer auf den neuen Wert eingependelt hatte, sagte eine gelassene Stimme hinter ihm:Das war ein guter Einfall.

Er drehte sich nach hinten, um zu sehen, welcher Wichtigtuer ihm nachspionierte, aber sein Zorn verrauchte sofort Beim er­sten Überblick hatte Harris keinen der Pas­sagiere erkannt; jetzt aber glaubte er diesem stämmigen, grauhaarigen Mann, der zu ihm getreten war, schon einmal begegnet zu sein.

Ich möchte mich hier nicht aufdrängen, Captain Sie führen ja das Kommando. Aber ich möchte mich doch vorstellen, falls ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. Ich bin Commodore Hansteen.

Harris starrte mit offenem Mund den Mann an, der die erste Expedition zum Plu­to geführt und wahrscheinlich auf mehr un­berührten Planeten und Monden gelandet war als jeder andere Raumfahrer. In seiner Verblüffung konnte er nur stammeln:Aber Sie standen gar nicht auf der Passagierli­ste!

Der Commodore lächelte.Ich reise unter dem Namen Hanson. Seit meiner Pensionie­rung sehe ich mir Verschiedenes an, ohne dauernd Verantwortung tragen zu müssen. Seit ich meinen Bart abgenommen habe, er­kennt mich kein Mensch mehr.

Ich bin sehr froh, daß Sie hier sind, er­widerte Harris nachdrücklich. Die Last auf seinen Schultern schien leichter geworden zu sein. Der Commodore war ein Mann, auf den er sich in den kommenden schweren Stunden oder Tagen verlassen konnte.

Wenn es Sie nicht stört, fuhr Hansteen höflich fort, möchte ich gern Ihre Meinung hören. Wie lange können wir hier aushal- ten?

Wie üblich müssen wir mit dem Sauer­stoff als entscheidendem Faktor rechnen. Wir haben einen Vorrat für sieben Tage, vorausgesetzt, daß keine Lecks auftreten. Bisher scheint das nicht der Fall zu sein.

Nun, ja, das läßt uns jedenfalls Zeit zum Nachdenken. Wie stehts mit Wasser und Nahrung? (Fortsetzung folgt)