Donnerstag, 2. Januar 1969
Zum Zeitgeschehen
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Kinder in usa Mit 18 beginnt der Ernst des Lebens
Aber auch die Jüngeren dürfen nicht alles tun, wozu sie Lust haben / Von Marlene Manthey, Washington
Das sogenannte Jahrhundert des Kindes war bekanntlich eine amerikanische Erfindung, um die damals jedermann die Neue Welt beneidete. In Amerika, so dachten wir, als wir klein waren, und selbst die Lakritzenstangen, die wir Bärendreck nannten, meist nur durch die Scheiben des Zuckerbäckers sahen, essen alle Kinder jeden Tag Eiskrem, fahren sie im Auto zur Schule, dürfen bei Tisch mitreden, abends lange aufbleiben, werfen die Strümpfe einfach fort, wenn sie kaputt sind, tragen niemals kratzende Unterhosen und dürfen überhaupt alles tun, wozu sie Lust haben.
Schön wär's ja! Seitdem wir in Amerika leben, haben wir einen Zeitungsjungen, der mit seinen zwölf Jahren jeden Morgen um sechs Uhr pünktlich die „Washington Post“ bringt (obwohl sein Vater einen guten Posten im Kongreß hat); sehen wir bei Einladungen lauter Kinder, die sich so gut oder besser benehmen als Gleichaltrige dies in Europa tun; haben wir Schulen besichtigt, in denen die Schüler mühelos schweigend in den Pausen ihr Frühstück verzehren; kennen wir Väter, die überzeugt sind, daß knappes Taschengeld, gelegentliches Donner
wetter und strenge Disziplin das Rückgrat einer christlichen Erziehung seien.
Kurz und gut: Das Jahrhundert des Kindes ist augenscheinlich — jedenfalls in der Form, wie man das in Europa auslegte — vorwiegend in den Journalen und in jenen Fachartikeln abgelaufen, die von Pädagogen, Psychologen und anderen, dem Puls des Volkes ferneren Zeitgenossen verfertigt waren.
Wenn eines in Amerika fest steht — und es steht ziemlich viel fest — so ist eg die Familie. Zwar heiratet man seit einigen Jahren wieder später und man betrachtet die
BUanz 1968 Es gärt in Südamerika
Arbeitslosigkeit, Rebellion gegen das „Establishment“ / Von G. Baumfeld
Am Ende eines ereignisreichen Jahres bietet Lateinamerika, von Mexiko bis nach Feuerland hin, das Bild einer gärenden Region, deren Menschen unzufrieden und über die Ungewißheit ihres Schicksals besorgt sind. Die Bevölkerung ist in den letzten 12 Monaten um rund 8 Millionen gewachsen und mindestens ebensoviele erreichten das Alter der Berufswahl, ohne Arbeit finden zu können. Diese unruhigen Menschenmassen üben einen immer stärkeren Druck auf die Grundmauern einer Gesellschaft aus, die der Bevölkerungsexplosion sowohl geistig als auch materiell unvorbereitet gegenübersteht.
Lateinamerika, eine vorwiegend landwirtschaftliche Region, kann seine Bevölkerung heute schon nicht mehr ernähren, es muß jährlich für rund 2,4 Mrd. Mark Nahrungsmittel aus anderen Erdteilen einführen. Schuld daran sind die veralteten Methoden und die Gleichgültigkeit der Regierungen und Großgrundbesitzer. In Argentinien liegen 76 Prozent des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens brach, in Brasilien 48, in Chile 70,' in Mexiko 76, in Uruguay 86 Prozent. 'Der Schrei nach Bodenreform hat nur in wenigen Staaten ein gewisses Echo gefunden.
Die weltweite Rebellion gegen das „Establishment“ hat in Lateinamerika einen besonders fruchtbaren Boden gefunden. Bemerkenswert ist, daß viele Studentenorganisationen heute die kommunistischen Parteien als „verbürgerlicht“ und unzuverlässig ablehnen. Sie predigen Anarchie und Zerstörung aller Werte, in Diskussionen zeigt sich jedoch, daß sie keine Vorstellung davon haben, was dann kommen soll.
Im vergangenen Jahr, in dem die Welt während des Papstbesuches in Kolumbien, der Olympiade in Mexiko, der Reisen Willy- Brandts, Indira Gandhis und der englischen Königin, auf Lateinamerika blickte, wurden zwei verfassungsmäßige Regierungen, die Perus und Panamas, vom Militär gestürzt Am Jahresende leben von den 260 Millionen Lateinamerikanern rund 135 Millionen unter Militärregierungen, ihre Länder sind „von ihren eigenen Heeren besetzt“, wie Venezuelas Expräsident Betancourt sagte:
Nach der sowjetischen Intervention in der Tschechoslowakei ist die Uneinigkeit der lateinamerikanischen Kommunisten größer geworden, vor allem hat die moskautreue Richtung Anhänger verloren. Das einst monolithische Gefüge ist in eine Unzahl von Splittergruppen zerfallen: die „alte Garde“ steht weiterhin zu Moskau, aber innerhalb der Parteien streiten sich Maoisten, Fideli- sten, Titoisten und Trotzkisten um die Vorherrschaft. Wenn auch die systematische Unterwanderung aus Kuba ständige Wachsamkeit und Abwehrbereitschaft fordert, stellen die Kommunisten in keinem Land eine ernste Bedrohung dar.
Unmittelbare Folge dieser Tatsache ist, daß die Zeit, in der es „Dollars gegen Revolutionen“ hieß, vorbei ist. Die nordamerikanische Entwicklungshilfe für Lateinamerika ist drastisch gekürzt worden. Der Argentinier Raul Prebisch, der jetzt als Generalsekretär der UNCTAD, des Welthandelsrats der UN, zurückgetreten ist, sagte offen, daß die von Kennedy geschaffene „Allianz für den Fortschritt“ praktisch nicht mehr bestehe. Lateinamerika ist überschuldet, um die Jahresmitte betrugen die Auslandsverpflichtungen rund 54,8 Mrd. Mark. Nixon will die Hilfsgelder durch einen stärkeren Handelsverkehr ersetzen. Die Zukunft der Region hängt weitgehend von der Erhöhung der Exporte ab, doch stoßen die meisten Bemühungen auf Ablehnung und Zollschranken. Lateinamerikas Anteil an den Weltexporten betrug 1950 rund 10 Prozent, heute sind es nur noch knapp 6 Prozent.
Innerhalb dieses wenig erfreulichen Bildes gibt es aber doch Lichtblicke. Zum ersten Male in der Geschichte Venezuelas wurde der Wahlsieg eines oppositionellen Politikers von der Regierung anerkannt. Rafael Caldera, der Gründer der Christlich-Demokratischen Partei, siegte über den Kandidaten der „Acciön Democrätica“. — Auf dem Gebiet der Infrastruktur gibt es einige' hoffnungsvolle Ereignisse. Die Urwaldrandstraße, die von Venezuela bis nach Argentinien führen soll, wächst. In Argentinien wird am ersten Atomkraftwerk des Halbkontinents gebaut, der Auftrag für ein Wasserkraftwerk von 1,2 Mio. kW Leistung ist vergeben worden. In Brasilien und Venezuela wurden bedeutende Kraftwerke in Betrieb genommen.
Die Entwicklung der nächsten Zeit wird von den neuen Männern in Washington bestimmt werden. Vieles deutet darauf hin, daß Nixons Einstellung zu seinen südlichen Nachbarn anders ist als die Kennedys und Johnsons. „Lateinamerika braucht den Typ der Demokratie, den Frankreich unter de Gaulle hat“, sagt er, und „um die subversive Bedrohung zu überwinden, braucht man weniger marschierende Beine und mehr arbeitende Hände.“ Lateinamerika wird sich darauf einstellen müssen, energischer auf Selbsthilfe bedacht zu sein.
Familienplanung inzwischen als Selbstverständlichkeit. Aber man heiratet immerhin, obwohl man sich dank der Vielzahl an Kontrazeptiven auch anders einrichten könnte. Verläßlichen Schätzungen zufolge nehmen etwa neun Millionen Amerikanerinnen inzwischen die Pille und mindestens anderthalb Millionen andere Mittel. Das Absinken der Geburtsrate von mehr als 24 pro Tausend vor zehn Jahren auf weniger als 18 pro Tausend im Vorjahr wird freilich nicht nur der Pille zur Last gelegt. Die immer mehr zur Norm werdende Berufstätigkeit der Frau, die ständig steigenden Lebenshaltungskosten und der ständig steigende Lebensstandard spielen hier wie anderswo eine Rolle.
Obwohl die meisten öffentlichen Grundschulen einen Kindergarten haben, der den Kindern vom fünften Lebensjahr an offensteht, fehlt es sehr an Kinderkrippen und anderen Einrichtungen, die für Mütter von kleinen Kindern erschwinglich wären. Vater Staat kümmert sich darum wenig, wie überhaupt der staatliche Druck bis zum achtzehnten Jahr, wenn die jungen Männer wehrpflichtig werden, durch wohltuende Abwesenheit auffällt.
Bis zu diesem Zeitpunkt sind auch die Schulen relativ milde und schonend. Zu Knochenmühlen und zu Brutkästen von Spezialisten für die Wirtschaft und den Staat werden erst die Ausbildungsstätten für die jungen Amerikaner nach dem 18. Lebensjahr. Hier wird die Jugend, verglichen mit dem freien Universitätssystem, das in Europa herrscht, wahrscheinlich in jeder Weise zu sehr überfordert. Andererseits aber ist es natürlich diese glänzende Ausbildung, die seit nun bald einem Jahrzehnt und nach dem Schock der Sputnikkrise von den amerika
Wok er der^AuisdriAch ?
Die Trauben hängen zu hoch
Etwas ist unerreichbar In einer Fabel des Äsop tröstet sich der Fuchs, als er an Weintrauben vorbeikommt, die für ihn nicht erreichbar sind, mit den Worten: „Sie sind mir zu sauer.“ In übertragender Bedeutung ist die Redewendung seit Ausgang des 16. Jahrhunderts belegt.
(Copyright Cosmospress Genf)
nischen Collegs verabreicht wird, die die riesige Expansion der USA in alle Wissensgebiete ermöglichte.
Bis vor einigen Jahren noch galten die amerikanischen Kinder als die stärksten Konsumenten von Fernsehprogrammen aller Güten und Arten. Aber es scheint, daß dies in vielen anderen Ländern inzwischen eingeholt worden ist. Es scheint auch keinesfalls so zu sein, wie man einst fürchtete, nämlich daß dieses Beschäftigen mit der Flimmerwelt den Charakter oder den konventionellen Lebensstil wesentlich und nachteilig beeinflusse. Vielmehr »hat sich die Überzeugung durchgesetzt, daß die menschliche Spannkraft auch beim Kinde ausreicht, den ganzen Unsinn ohne Schäden zu verdauen oder zu vergessen, und daß die Lehrprogramme und Schulfilme, die geboten werden, sogar recht förderlich sind.
Alles in allem — weder die Änderung in der Sozialstruktur der Erwachsenenwelt, noch der technologische Fortschritt scheint die Kinder so nachteilig getroffen zu haben, wie man einst befürchtet hat. Und wer die Familien in Europa und die in Amerika vergleicht, wird kaum so große Unterschiede entdecken können, wie sie vielleicht — oder vielleicht auch nicht — vor jener Zeit bestanden, als die gleichen TV-Pro- gramme, die gleichen Lehrmethoden und die gleichen Blue jeans auf allen Erdteilen zu finden waren.
Die internationale Rüstungslast
in °/o des Sozialprodukts 1967/68
Sowjetunion
Eng- Deutsch
■S / ra 1 k - Nieder- ü M/'reich ,lande//iissM
Italien, Belgien
Schweden
Schweizi
Österreich
Mehr Geld für die Sicherheit
Den höchsten Preis für den Prager Coup der Sowjets zahlen die Tschechen; er kostet sie die russische Besetzung und die Freiheit, die ihnen der Reformkurs gebracht hätte. Aber auch die NATO muß ihren Preis dafür entrichten, daß Moskau die militärische Lage in Europa über Nacht zu seinen Gunsten veränderte und damit ein beunruhigendes Beispiel unverhüllter Aggressivität lieferte. Verstärkte Verteidigungsanstrengungen sind die Antwort des westlichen Bündnisses; das gilt für alle NATO-Mitglieder und selbstverständlich auch für den am meisten von den Sowjets bedrohten Staat, die Bundesrepublik Deutschland. Sie wird mehr zahlen müssen, sei es für die Erhöhung ihrer eigenen Verteidigungsbereitschaft, sei es als
Kostenausgleich für die in der Bundesrepublik stationierten verbündeten Truppen. Allerdings werden, wie Bundesaußenminister Brandt erklärte, die vorgesehenen höheren Belastungen maßvoll sein und sich erst in den kommenden Jahren auswirken. Ein internationaler Vergleich der Verteidigungslasten ergibt für die Bundesrepublik eine mittlere Belastungsquote; die meisten anderen Länder mit großer Wirtschaftskraft haben, bezogen auf das Bruttosozialprodukt, einen höheren Anteil für die Verteidigung abzuzweigen. Sowohl die blockfreien Schweden wie vor allem die Jugoslawen müssen ihr Sicherheitsbedürfnis wesentlich teurer bezahlen. (Globus)
rn-Kommisnon: „Nazismus wieder aktiv“
Beratung über Maßnahmen gegen neonazistische Umtriebe
Die Vereinten Nationen wollen erneut eine Überprüfung neonazistischer Umtriebe in der Welt in die Wege leiten und nach Möglichkeiten ihrer Eindämmung suchen. Die Frage des Wiederauflebens des Nazismus gehört neben der Bekämpfung der Diskriminierung von Minderheiten zu den Punkten, mit denen sich ein Unterausschuß der UN-Kommission für Menschenrechte befassen wird.
Das Gremium, dem Fachleute aus 18 Ländern und Vertreter mehrerer internationaler Organisationen angehören, legte zu diesem Thema einen Expertenbericht vor, in dem folgende Schlußfolgerungen gezogen werden:
1. Der Nazismus ist zwei Jahrzehnte nach, seiner Niederlage wieder aktiv und hat sich vielfach den neuen Gegebenheiten angepaßt.
2. Beschuldigungen gegen konservative oder nationalistische Organisationen, sie seien eine Nazi-Vereinigung oder unterstützten solche Ziele, seien nicht immer haltbar.
3. Eine neue Definierung des Nazismus und konkrete Gegenmaßnahmen sind erforderlich.
Die meisten Beispiele für das Wiederaufleben des Nazismus in dem Expertenbericht stammen aus der Bundesrepublik, obwohl sie nicht beim Namen genannt, sondern als „ein Land“ umschrieben wird. An erster Stelle werden die Wahlerfolge der ebenfalls namentlich nicht erwähnten NPD genannt. Außerdem zählt der Bericht die Existenz neonazistischer Literatur, die Tätigkeit von Vereinigungen ehemaliger SS-Männer und -Soldaten sowie eine durch mangelhaften Geschichtsunterricht begünstigte Einflußnahme auf die Jugend zu den „beunruhigenden“ Symptomen.
In dem Bericht wird zugestanden, daß vie
le neonazistische oder nazi-freundliche Parteien und Organisationen wegen ihrer guten Tarnung und ihrem vorgeblichen Bekenntnis zu ihren jeweiligen Landesgesetzen oft nur schwer oder gar nicht bekämpft werden können. Dennoch seien gesetzgeberische Akte neben der Unterrichtung und Erziehung grundsätzlich die am besten geeigneten Gegenmaßnahmen. „Organisationen, deren Programme sich bei näherer Untersuchung lediglich als Deckmantel für pro-nazistische Aktivitäten erweisen, sollten verboten werden, und die Achtung der Vereinigungsfreiheit sollte kein Hindernis für einen solchen Schritt sein“ heißt es in dem Bericht.
Zur endgültigen Klärung, welche Gruppierungen zu den Trägern nazistischen Gedankengutes gehören, wird ein Symposium führender Soziologen und Politologen vorgeschlagen. Die Mitgliedsstaaten der UN und ihrer Unterorganisationen, also auch die Bundesrepublik, könnten einer noch zu schaffenden Sonderabteilung des UN-Sekre- tariats regelmäßig Berichte über die von ihnen eingeleiteten Schritte vorlegen. „Wenn es offenkundig wird, daß Maßnahmen auf nationaler Ebene unwirksam oder nur zu einem gewissen Ausmaß wirksam sind, könnte über zusätzliche Aktionen im internationalen Rahmen gesprochen werden“, heißt es in dem Bericht weiter. K. Bering
NACHT
OHNE MOND
Roman von Mary Stewart
Deutsche Rechte, Marion von Schröder Verlag, Hamburg Presserechtet G. Schäfer, Hamburg
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„Vermutlich habe ich Ihnen weher getan. Sagen Sie, halten Sie das wirklich für eine gute Idee? Ich weiß, was Sie empfinden, aber... “
Er blickte rasch zu mir auf, und selbst im trüben Licht der Lampe sah ich die Ironie in seinem Blick. „Nicola, ich gebe zu, ich habe die Selbstbeherrschung verloren, aber es geht dabei um mehr als dem Verlangen, ihm den Juwelenraub und die Ermordung Alexandras’ nachzuweisen — vorausgesetzt, daß wir ihn fassen können, ehe er nach Hause laufen und Alibis mit Tony aushecken kann. Und zweitens, wenn wir nicht sofort zurückkehren und die Dorfältesten alarmieren, was hindert dann Stratos und Tony daran, die Beute aus den anderen Hummerkörben zu holen, sich mit ihr aus dem Staube zu machen und meilenweit weg zu sein, ehe wir Piräus erreicht haben.“
„Ich verstehe.“
Er legte alles wieder in den Kasten und klappte den Deckel zu. „Sind Sie wütend auf mich?“
„Warum, um Gottes willen?“
„Weil das, was er Ihnen angetan hat, nicht der einzige Grund ist, warum ich den Burschen zusammenschlagen möchte?“
Ich lachte, ohne etwas zu antworten. Und glitt in das vierte Stadium über — ein Stadium, das Frances noch nicht kannte, da es auch für mich neu war.
„Genügen diese Sachen?“ fragte Colin, der aus der Kajüte mit einem dicken Sweater, einer Baumwollnetzjacke und Jeans auftauchte. „Sie können sich in der Kajüte an- ziehen, da ist es warm.“
„Ach, vielen Dank. Das ist ja wunderbar.“ Ich erhob mich steif, wobei Mark mir half,
und dann legte Colin mir die Kleidungsstücke über den Arm und zog sich dezent in das dunkle Heck zurück.
Nach dem starken Wind auf Deck tat die Wärme in der Kajüte doppelt wohl. Ich nahm Marks Jacke von meinen Schultern. Meine Nylonwäsche war inzwischen an mir getrocknet, und ich konnte sie anbehalten.. Ich rieb meinen kalten Körper kräftig mit dem rauhen Handtuch, dann stieg ich in die Jeans. Es mußten Colins sein. Sie waren schon für ihn eng und für mich noch enger, aber sie waren warm — und immerhin so weit, daß der Verband nicht verrutschte. Der Sweater — Marks wahrscheinlich — war ebenfalls wunderbar warm und so lang, daß er einen guten Teil der Jeans bedeckte. Ich stieß die Kajütentür auf und spähte hinaus.
Der Wind schlug mir entgegen, das Brummen des Motors, das Klatschen des Wassers ... Wir waren um die zweite Landzunge herumgefahren und fuhren durch die Bucht auf Agios Georgios zu. Tief unten konnte ich ein paar trübe Lichter sehen und einen gelben Schimmer, der sicherlich den Eingang zum Hafen kennzeichnete. Unsere eigenen Ankerlichter waren aus. Lambis war am Steuer kaum zu sehen, und Mark und Colin standen zusammen auf Deck und starrten ins Dunkel.
Ich öffnete den Mund, um zu sagen: „Kann ich etwas tun?“, schloß ihn dann aber wieder. Die Vernunft sagte mir, daß das eine rein rhetorische und darum sinnlose Frage war. Außerdem verstand ich nichts von Booten, und die drei waren ein Team, das jetzt nur ein Ziel hatte und an nichts anderes dachte. Ich blieb in der Kajütentür stehen. I
Seewärts von uns schaukelten und blinzelten die Lichtboote. Einige waren schon auf dem Wege zur Küste, und eins — wahrscheinlich jenes, das so dicht an der Delphi- nenbucht vorübergefahren war — war kaum zwanzig Meter von uns entfernt, als wir an ihm vorüberbrausten.
Ich konnte die Gesichter der beiden Insassen sehen, die sich uns neugierig und baß vor Staunen zuwandten. Lambis rief etwas, und ihre Arme deuteten nicht auf Agios Georgios, sondern den Teil der Bucht, an der das Hotel lag.
Lambis rief Mark etwas zu, der nickte und der Kajik drehte bei und fuhr dann auf die halbmondförmige, hoch aufragende Felsenküste zu.
Colin wandte sich um, sah mich und richtete seine Taschenlampe auf mich. „Ach, da sind Sie ja. Passen die Sachen?“
„Sehr gut Mir ist jetzt ganz warm. Die Hose ist ein bißchen eng. Hoffentlich platzt sie nicht!“
„Sieht gar nicht eng aus, nicht wahr, Mark?“
Mark musterte mich und sagte nur: „Junge, Junge!“
Colin lachte und verschwand an mir vorüber in der Kajüte.
„Etwas sagt mir“, sagte ich, „daß Sie sich jetzt viel besser fühlen müssen.“
„Das tue ich. Es geht mir hundert Prozent besser — dort ist er.“
Ich stellte mich neben ihn und spähte zum Steuerbord. Dann sah ich es auch, kaum hundert Meter vor uns, etwas Kleines, ein dunkler Punkt auf einem weißen Strich, der in die Kurve der Bucht sauste.
„Sie haben recht. Er fährt nach Hause."
„Nicola“, rief Lambis vom Steuer aus. „Gibt es hier eine Landestelle?“
„Nein. Aber unmittelbar am Rand des Wassers sind flache Felsen, und bis zu ihnen ist das Wasser ziemlich tief.“
„Wie tief?“ Es war Mark, der das fragte.
„Das kann ich nicht sagen, aber für einen Kajik tief genug. Er ist sogar mit der ,Eros‘
dorthin gefahren, und die ist größer, und ich bin dort geschwommen. Ich würde sagen, drei Meter tief.“
„Gutes Mädchen“. Es mußte weit mit mir gekommen sein, dachte ich,, wenn dieses beiläufige Lob von einem Mann, dem jetzt ganz andere Dinge durch den Kopf gingen, mich so beseligen konnte. Fünftes Stadium? Der Himmel allein wußte es. Und der Himmel allein konnte sich deswegen Gedanken machen, denn ich machte mir keine ...
Gleich darauf reichte mir Colin einen heißen Becher. „Hier, das wird Sie aufwärmen. Es ist Kakao. Sie haben gerade noch Zeit, ihn zu trinken, ehe wir den Schurken den Garaus machen.“
Mark, der das hörte, drehte sich halb um, aber in diesem Augenblick veränderte sich das Motorengeräusch, und Lambis sagte leise:
„Jetzt haben wir’s geschafft. Siehst du ihn? Er wird gleich festmachen. Colin, mach die Lampe wieder an. Er hat uns jetzt bestimmt gesehen. Sobald wir landen, machst du das Boot fest Ich möchte Mark helfen. Nimm den Bootshaken. Du weißt ja damit umzugehen.“
„Ja“. Aber der Junge zögerte einen Augenblick. „Wenn er nun ein Gewehr hat?“
„Er wird nicht schießen“, sagte Mark. „Er kann nicht wissen, wer wir sind.“
Das stimmte unzweifelhaft. Aber ich glaubte schon eine ganze Zeit, daß ihm Böses schwante. Auch wenn er nicht ahnte, wessen Kajik ihn verfolgte, er wußte bestimmt, daß dessen Besitzer mich nach seinem mißglückten Mordversuch gerettet hatte und, wenn dieser nicht Vergeltung üben wollte, zumindest nicht schweigen würde, und daß es dann zu dem Skandal käme, den er vermeiden wollte. Mit anderen Worten, wir waren einem Mann auf den Fersen, der wütend und zugleich verzweifelt war.
„Und außerdem“, fuhr Mark fort, „wir haben auch ein Gewehr, wie du weißt“
Ich stellte den leeren Becher in die Kajüte und schloß die Tür. Ich hatte fast erwartet,
daß man mir sagen würde, ich solle dort bleiben, doch keiner von den dreien beachtete mich. Lambis und Mark lehnten sich über Bord und beobachteten die kaum sichtbaren Felsen an der Küste, denen wir uns näherten. Colin stand* am Bug und hielt den Bootshaken bereit. Der Kajik hatte die (Psyche* jetzt fast eingeholt und verlangsamte sein Tempo.
Stratos hatte uns natürlich gesehen. Aber selbst wenn er uns damit half, er brauchte Licht Als das Lichtboot anlegte, knipste er die riesigen Lampen an, und ich hörte Lambis befriedigt grunzen. Stratos stellte den Motor ab, und sein Boot glitt langsam an den Felsen entlang. Ich sah ihn, den Mann meines Alptraums, das Tau in der einen, den Bootshaken in der anderen Hand neben den Lampen stehen. Dann stieß das Boot an den Felsen und hielt mit einem Ruck an, als Stratos mit dem Bootshaken festmachte. Ich sah, wie er zurückblickte und zu zögern schien. Dann gingen die Lampen aus.
„Fertig?“ Lambis’ Stimme war fast unhörbar, aber mir hallte sie wie ein Schrei in die Ohren.
„Ja“, sagte Mark.
Die drei hatten bestimmt schon oft den Kajik an Land festgemacht. Aber diesmal mußte das schnell und im Halbdunkel geschehen und war darum nicht so einfach. Dennoch ging es überraschend glatt
Der Motor beschleunigte einen kurzen Augenblick das Tempo. Dann verstummte er. Der Kajik sprang vorwärts, dann glitt er seitlich gegen das vor Anker liegende Boot, es als Puffer benutzend. Ich hörte die .Psyche* von neuem gegen den Felsen stoßen, als der Kajik sie streifte. Es war niemand mehr auf ihr. Stratos war bereits an Land. Ich sah im Schein unserer Lampen, wie er sich bückte und das Tau ein paarmal um einen Pfosten schlang.
Dann sprang Mark vom Bug des Kajik ans Ufer und landete neben ihm.
(Fortsetzung folgt)