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Nr. 28 S

Gegründet 1827

Freitag, den 5. Dezember 1930 Fernsprecher Nr 20 104. Jahrgang

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Jenseits von Gut und Böse Fort mit dem Versailler Vertrag und der Alleinkriegsschuld Deutschlands / Der Wert der ehemals deutschen Kolonien / Finanznot der Städte Steue­rung der Arbeitslosigkeit / Ein Todesurteil in Sicht / Nene Hornberger Schießen in Genf

Tine Woche der Ueberraschunaen, und ibr Ende erst recht! Zunächst der Schachzug der Nationalsozialisten: sie stellten einen Vertrauensantrag für das Kabinett Brüning. Derselbe wird natürlich von ihnen selbst ab­gelehnt, ebenso von den Deutschnationalen, Kommunisten, der Wirtschaftspartei u. a., macht zusammen 278 Stimmen. Was werden die Sozialdemokraten tun? Lehnen sie ebenfalls ab, dann ist die Regierung erledigt. Tun sie es nicht, dann haben sie es mit einer scharfen Konkurrenz der Kommunisten zu tun.

Das Ganze ist natürlich ein parlamentarischer Trick, der jenseits von Gut und Böse" seinen Platz hat. Entschuldbar insofern, als Dr. Brüning seinerzeit durch eine ähnliche Methode gerettet wurde, nämlich durch den überraschenden Antrag, durch Annahme der Notverordnung vom 26. Juli über die Mißtrauensartäge zur Tagesordnung überzugehen. Also auf einen Schelm cmderthalbe! Bis diese Zeilen unter die Augen der Leser kommen, stehen wir vielleicht vor einer ganz neuen Lage. Aber man sieht an diesem Schulbeispiel wieder einmal die ganze Raffiniertheit des Parlamentaris­mus.

Eine andere Ueberraschung enthält der Antrag der Deutschnationale v. Eigentlich ein doppelter Antrag: Die Reichsregierung wird beauftragt,durch amtliche Noten den Tributmächten mitzuteilen, daß Deutschland nach der Verstümmlung seiner Grenzen, namentlich im Osten, nach der Leistung eines ungeheuren MMmderchetrags (bis 7. Nov. 1930 nicht weniger als 71 268 525 800 Goldmark!) und nach völliger Erschöpfung seiner Kapitalkraft, nicht mehr in derLageist, die immer weiter ansteigende Zahl erwerbs­loser Volksgenossen zu ernähren und damit die Revision des Versailler Vertrags und der auf ihm beruhen­den Tributlasten verlangt". Zweitens: Durch amtliche Noten allen Mächten, zu eröffnen,daß nach der weitgehnden Auf­klärung der historischen Tatsachen durch unparteiische For­schung das deutsche Volk das im Versailler Vertrag ihm abgepreßte Bekenntnis der Schuld am Weltkrieg widerruf t".

Diesem Antrag, der freilich von der Mehrheit des Reichs­tags wohl abgelehnt werden wird, hätte noch angesügt wer­den können, daß man uns ohne jede Anrechnung auf unser Reparationskonto unter dem unehrlichen Titel von sog. Völkerbunds-Mandaten" Kolonien mit einem Flä­chenraum von 3 Millionen Geviertkilometern und 15 Millio­nen Einwohnern widerrechtlich entrissen Hai. Ihr Wert wurde von englischer Seite auf 136 Milliarden Goldmark berech­net. Ja, neuerdings wurde geschätzt, daß allein die kleine Südseeinsel Nauru Phosphatschätze im Wert von hundert Milliarden Mark birgt.

Auch darf auf die Tatsache hingewiesen werden, daß vor ein paar Monaten der amerikanische Senator Shipstead, ähnlich wie voriges Jahr das sozialdemokratische amerika- niche Kongreßmitglied Berger, eine Entschließung herbei­geführt bzw. beantragt hat, wonach die Regierung in Wa­shington oufgesordert wird, auf die Beseitigung des Ar­tikels 231 (Kriegsschuld) hinzuwirken, jedenfalls den Mäch­ten die Einsetzung einer neutralen Untersuchungskommission zu empfehlen.

Also, das Rad ist im Rollen. Unsere Sache ist es, es nicht aufzubauen, sondern weiter zu stoßen und zu schieben Nur die Wahrheit kann uns frei machen. Inzwischen schrei tet die Zersetzung unserer Finanzen unheimlich weiter Ganz besonders gilt dies von unseren Städten. Der Einsetzung der staatlichen Zwangs Verwaltung über die Reichshauptstadt sind nun auch Stettin, Breslau, Magde­burg, Altona, Dortmund, Gladbach, Hagen, Königsberg, Oppeln, Wiesbaden und Frankfurt a. M. gefolgt. So weit hoben wir es also mit dem vielgerühmtenSelbstverwal­tungsrecht" gebracht! Wenn das Freiherr v Stein wüßte?

Die Arbeitslosigkeit, von deren erschreckender Höhe wir in der letztenWochenschau" meldeten, hat auch den württembergischen Landtag stark beschäftigt. Dabei hat der Wirtschastsmimster Dr. M a i e r eine Uebersicht über die Arbeitsbeschaffung mitgeteilt. Hienach sind iür nicht weniger als 55 große Notstandsarbeiten Unterstützungen des Staats zugesagt worden. Allein für die Notstandsarbeiten der Stadt Stuttgart sind 1,2 Millionen Mark festgelegt. Da­zu kommen die Filderbahnbauten, der Neckarkanal­durchstich in Heilbronn (dessen Rentabilität übrigens sehr zweifelhaft zu sein scheint), größere Straßenbahnbauten, Flußverbesserungen, das zusätzliche Wohnungsbauprogramm, Warenlieferungen an Rußland, landwirtschaftliche Melio­rationen usw.

Wohl weiß man genau, daß alle diese Notstandsarbeuen nur vorübergehend wirkende Notbehelfe sind. Der Wirt­schaft selbst ist damit nicht aufgeholfen. Das gilt namentlich auch von der neuerlichen, vomAllg. Deutschen Gewerk­schaftsbund" beantragten soz.Arbeitsstreckung" oder besser Arbeitszeitverkürzung", d. h. der Einführung der 40-Stunden-Woche. Hiernach soll jeder Arbeitgeber ver-

vzüchtet werden, im Ausmaß der Arbeitszeitverkürzung neue Arbeitskräfte einzustellen. Also allgemeine Kurzarbeit. Das wäre nun recht und schön, wenn keine technischen Schwierig­keiten einer solchen Umstellung gsgenüberständen. Auch würde diese höhere Verwaltungs- und Anlagekosten erfor­dern. Also eine neue Auflage für die Wirtschaft dis sowieso jüngst durch die Erhöhung der Beiträge für die Arbeits­losenversicherung aufs neue belastet wurde. Aber da, wo diese Hindernisse wegfallen, sollte der Versuch gemacht wer­den. Eine Viertel- oder gar halbe Million Arbeitslose we­niger ist immerhin den Scheiß der Besten wert

Der Polen-Skandal muß nün eichlick ^um Bie­gen oder Brechen kommen. Dis Reichsregierung ha; beim Völkerbund, dem berufenenFührcr der nationalen Minderheiten", scharfen Einspruch erhoben. ,W!r haben durch unsere Schwäche, durch unser ständiges Zurückweichen die Polen herausgefordert. Es handelt sich jetzt darum, grundsätzlich mit der Art und Weise zu brechen, wie msterc Dinge bisher angepackt worden sind." (Dr. Urbanek.) Der Völkerbund hat nun das Wort. Läßt er die inzwischen von der polnischen Regierung vorgenommcne Maßregelung zweier untergeodneter Polizeiorgane und die angebotene Buße von. '1700 Mark (!) gelten, dann hat diese Nach- kriegsschöpfung sich selbst das Todesurteil gesprochen.

Sie hat überhaupk nicht mehr viel an Vertrauen zu verlieren. So gut wie ergebnislos verlief die Genfer Weltwirt schaftskoniferenz. Die Herren hätten genau so gut zu Hause bleiben können. Höchstens bot sie

den südeuropäischen Agrarstaaten (Rumänien, Ungarn, Südslawien, Bulgarien u. Polen) die erwünschte Gelegen­heit, in einer Entschließung Vorzugszölle für Ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu fordern. Als ob unser« deutschen Bauern nicht auch an einer schweren und schwer­sten Absatzkrise leiden würde! Mit Recht sagte der deutsche Vertreter, Ministerialdirektor Dr. Posse, daß derartige Forderungenkeinen freundlichen Klano" für Deutschland haben.

Noch übler hat derVorbereitendeAbrüstungs- ausschuß" sich geraucht. Alles was Deutschland beantragt harte: Nennung der ausgebildeten Reserven, Veröffentlichung des gelagerten Kriegsmaterials, Einschränkung des Heeres­haushalts, Verbot gewisser schwerer Waffen usw. wurde glatt abgelehnt. Schließlich wurde noch der Antrag des Grafen Bernstorff, die allgemeine Abrüstungskonferenz auf 2. November 1931 einzuberufen, unter bissigen, persönlichen Ausfällen des Engländers Cecil und untätigem Zusehen-der sogenannten Neutralen abgelehnt. Wenige Treuen, unter ihnen Sowjetrußland und Italien, stellten sich auf unser« Seite. Immer deutlicher heben sich zwei Mächtegruppen ab: Die Satten und die Hungrigen, dieSieger" und die Be­siegten, die bis an die Zähne Gewappneten und die bis aufs Hemd Entwassneten. Und daß wir Deutsche mit unse­ren ehemaligen Verbündeten für Zeit und Ewigkeiten zu diese:. Mächtenminderen Rechtes" verdammt sein sollen, wurde noch überslussigerwöise durch sine französische Ent­schließung klipp und klar bescheinigt. Und dabei tat Eng­land mit, ausgerechnet sin Lord Cecil, der ehemals be­redteste Befürworter der Abrüstung, ein Umfall, der nicht schmählicher zu denken ist. Kein Wunder, daß unter solchen Umständen immer weiteren Kreisen unseres Volks die Frag» sich ausdrängt: Lohnt es sich überhaupt noch, dieser Gesell­schaft anzugehören? Es ist nicht jedermanns Geschmack, ein Aschenbrödel zu spielen - Vit-11.

Der Aufmarsch der Reden

Die Aussprache über den Reichshaushalt hat begonnen

Berlin. 4. Dezember.

Die Umgebung und der Reichstag selbst machen auch heule den Eindruck des Belagerungszustandes. Durch ein großes Polizeiaufgebot ist alles abgesperrt. Präsident Lobe eröffnet die Sitzung um 12 Uhr. Auf der Tagesordnung steht die Fortsetzung der ersten Beratung des Reichshcms- halksplans für 1931, mit der die Notverordnungen und die Rlißtrauensanträge der Deutschnationalen, der Wirtschafts- Partei und der Kommunisten verbunden sind.

Die Aussprache, für die drei Rednerreihen mit etwa 30 Rednern und einer Redezeit von drei Stunden vorgesehen sind, eröffnete Abg. Keil (S.): Die politische Lage in Deutschland stehe im Zeichen hochgradiger Spannungen. Di« Schuldfrage an den heutigen Zuständen sei nicht mit poli­tischem Parteigeraufe zu lösen. Tatsächlich trägt der Krieg die Schuld. (Widerspruch rechts.) Am schwersten leide die Arbeiterschaft unter dem gegenwärtigen Wirtschastsnieder- gang. Die Krise wurde verschärft, indem man die Sozial- Demokratie vom Einfluß in der Reichsregierung ausschaltete. (Zuruf: Sie hat sich doch selbst ausgeschaltet!) Die Sozial­demokraten würden es begrüßt haben, wenn die Notver­ordnung vom Juli aufgehoben und durch ordnungsmäßige Gesetze ersetzt worden wäre. Das wäre möglich gewesen, wenn die deutsche Wählerschaft am 14. September sich in ihrer Mehrheit hinter die Sozialdemokratie gestellt hätte. Die Regierung hat bei der Sozialversicherung und der Dürger- steüer Aendsrungen vorgenommen, die sich mit den Wün­schen der Sozialdemokratie decken. Eine vollständige Auf­hebung der neuen Notverordnung würde schwere Erschüt­terungen zur Folge haben. Gegen einzeln« Bestimmungen werden wir Aenderungen zu erreichen suchen. Mir wollen, daß der Zusammenbruch des kapitalistischen Wirtschafts­systems sich ohne Bürgerkrieg. Erschütterungen und Kata­strophen vollzieht.

Abg. F e d e r - Nat.-Soz.: Der Reichstag hat sich durch seinen Verzicht auf die ordnungsmäßige Erledigung des Haushalts für 1930 selbst seine Existenzberechtigung ab­gesprochen. Auch die Regierung hak keine Berechtigung, da ihr das Vertrauen bisher nicht ausgesprochen worden ist. Um das zu ermöglichen, hat meine Partei setzt einen Ver- trauensantrag vorgelegt. Angesichts des gewaltigen An­wachsens unserer Bewegung wächst die Angst der November- Verbrecher vor dar Abrechnung. Es gibt zwei Dinge, durch die Menschen zusammengehalien werden: Idealismus und gemeinsam begangene Verbrechen. Uns hält der Idealis­mus zusammen, Sie (links) das zweite. (Beifallsklatschen bei den Nationalsozialisten). Weil Ihre Führer nicht wollten, daß Deutschland Sieger im Kriege blieb, haben wir deutsche Ehre und deutsche Erde verloren. Dazu kam das Verbrechen der Inflation. Die deutsche Gelamkverschulduna beträgt heute 5060 Nkitt'arden, wovon 26 Milliarden Auskands- versckmlduna sind. Das bedeutet, daß wir außer den Tributen

jählich noch 214 Milliarden Zinsen an das Ausland zu zahlen haben. Als Oppositionspartei haben wir nicht die Aufgabe, der Regierung die Wege zu zeigen. Wir werden -diese einmal praktisch vorsühren. Trotzdem haben wir uns nie in dieser Richtung versagt. Wiederbolt haben wir die Wegsteueruna der Bank- und Börsenfürsten beantragt, ferner die Eingehung der Krieasaewinne, Voraehen gegen Schiebung Und Wucher und Aufgeben der Erfüllungspolitik. Man bat kein Recht, unsverneinende Politik" vorzuwerfen. Unsere Politik besaht das Lebensrechk des deutschen Volkes. (Beifall bei den Nationalsozialisten). Der Nationalsozialis­mus steht grundsätzlich aus dem Boden des Privateigentums und stellt es unter staatlichen Schutz. Deutschland wird in Zukunft nationalsozialistisch oder kommunistisch sein. Was dazwischen ist, wird zerrieben (Abg. Dr. Dinaeldey (DVP.)' macht einen Zwischenruf). Sie baben gar keinen Grund, uns sozialistische Tendenzen zu unterstellen. (Lebhafte hört- Hört-Rufe und ironischer Beifall bei den Sozialdemokraten.) Der Redner schließt unter stürmischem Beifall der National­sozialisten mit dem Ruf: Deutschland erwache!

Neichsfinanzminisler Dietrich erwiderte dem Vor­redner, er sei mit ihm darin einig, daß das selbständige Ge­werbe vor der Gefahr beschützt werden müsse, von den großen Konzernen aufgefressen zu werden. Der Zinssatz werde sich durch staatliche Verbote nicht herabsehen lassen. Die Zins­senkung werde am besten dann erreicht, wenn Deutschland politisch und wirtschaftlich stabil werde. Das erste M'ttel da­zu sei die Annahme dieses Sparhaushafts. Erfreulich sei, daß auch von den Nationalsozialisten anerkannt werde, daß der verlorene Krieg die Schuld an den heutigen Zuständen trage. Die Frage, ob die Inflation überhaupt abzuivenden war, sei schwer zu beantworten. Sicher sei aber, daß sie nicht verbrecherisch gemacht wurde.

Der Zuschußbedars des Reichs

Berlin, 4. Dez. Nach Abzug der Ueberweisungen an die Länder und Gemeinden betrug der eigentliche Gesamtauf­wand für Reichszwecke im Jahr 1927 7,2, in 1928 8,4, in

1929 8,0 und nach den jetzigen Voranschlägen in 1930 8,5 und 1931 7,5 Milliarden Mark. Von diesen Gesamtausgab e werden in d-^n einzelnen Verwaltungen verschiedene Anteile durch Einnahmen der betreffenden Verwaltung gedeckt. Der dann verbleibende Zuschußbedarf lastet aus üen Sieueru und den anderen Deckungsmitteln und hat daher besondere Bedeutung. Der Zuschußbedarf zeigt eine ähnliche Linie wie die Gesamtausgaben: 1927 7,0, 1928 8A 1929 7,7,

1930 8.2 und 1931 6.0 Milliarden Mark. Dabei ist aber zu betonen, daß Gesamtausgaben wie Zuschußbedarf in 1930 und 1931 auf Schätzungen beruhen.

Nach dem Krieg und besonders nach der Inflation ist der ZuschußbedarfderHoheitsverwaltungenin Reich, Ländern und Gemeinden in vier Jabren um volle

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