Seite 2 — Nr. 1V3
Nagolder Tagblatt «Der Gesellschafter"
Donnerstag, 3. Mat 1928
Württemberg
Ummendorf OA. Biberach, 1. Mai. Lebensrettung. Als das dreijährige Söhnchen des Fabrikarbeiters Hermann am Bachrand spielte, bekam der Kleine das Ueberge- wicht und fiel ins Wasser. Nur durch das beherzte Zugreisen eines in der Nähe arbeitenden Manns, der den Vorgang beobachtet hatte, wurde der Junge vom Ertrinken gerettet.
Leutkirch, 1. Mai. Den Verletzungen erlegen. Gestern früh starb im hiesigen Bezirkskrankenhaus der 52» L-mdwirt und Schreiner Wilhelm Kösler aus Unterzell bei Rot, der tags zuvor von zwei Burschen von der Nachbarschaft (Brüder Oefner) aus geringfügigem Anlaß mit Bierflaschen derart geschlagen worden war, daß er einen Schädelbruch erlitt.
Ravensburg, 3V. April. Arbeitsgemeinschaft. Zu einer Arbeitsgemeinschaft versammelten sich die evang. Geistlichen und Lehrer des Kirchenbezirks Ravensburg in dieser Woche. Oberlehrer T h a m m - Langenargen und Stadtpfarrer E i f e r t - Friedrichshofen hielten gehaltvolle Vorträge über die Gemeinschafts- und Bekenntnisschule. Auch Ähulrat Schöttle-Ulm und Dekan Dr. Ströle- Ravensburg nahmen an der Sitzung teil und griffen in die Besprechung ein.
Meckenbeuren. 1. Mai. Motorradunfall. Der 20 I. a. Landwirtssohn Stohr in Reute unternahm eine Spazierfahrt mit dem Leichtmotorrad seines Bruders. Dabei stieß er hier mit einem Lastkratwagen zusammen. Der junge Mann erlitt schwere innere Verletzungen.
Illingen OA. Maulbronn, 1. Mai. Der Nutzen des Blitzableiters. Bei dem schweren Gewitter am Sonntag berührte ein Blitzstrahl das Pöstamtsgebäude. legte ein über das Dach ragendes Kamin glatt um, ohne, dank des Blitzableiters, weiteren Schaden hervorzurufen
Offenau OA. Neckarsulm, 1. Mai. Diebstahl. In der Nacht auf Sonntag wurde hier in den Keller der Witwe Maria Löser eingebrochen und auf erscbwerte Weise etwa 1 Zentner gesalzenes Schweinefleisch im Wert von 100 Mark gestohlen. Vom Täter hat man noch keine Svur.
Oehringen. 1. Mai. Zwei Todesopfer eines Zusammen st oßes. Am Samstag sind in Heilbronn die beiden hiesigen Vertreter der Firma C. G. Störzbach. die Herren Grötzinger und Eberle, bei einer gemeinsamen Motorradfahrt durch das Auffahren auf einen elektrischen Straßenbahnwagen derart schwer verunglückt, daß der eine sofort, der andere bald nach dem Unfall den Tod fand.
Schwenningen. 1. Mai. Gemeingefährliche Die» b i n. Das Frauenzimmer, das vor mehreren Wochen einige Kinder hier bei ihren Botengängen bestohlen hat, hat ihre Tätigkeit wieder ausgenommen. Am vergangenen Samstag hat sie einem 7 I. a. Mädchen in der Kirchstraße das Portemonnaie aus dem Schürzentäschchen herausgenommen.
. Ulm. 1. Mai. Dortrag von Reichsaußenminister Dr. Stresemann. Am Montag, den 14. Mai, abends 8 Uhr, wird Reichsautzenminister Nr. Stresemann in einem öffentlichen Vortrag in Ulm sprechen.
Mähringen, OA. Ulm, 1- Mai. Brandfall. Gestern nachmittag brach in dem Wagenschuppen des Landwirts Joh- Bauer Feuer aus. das sich rasch auf das ganze Anwesen aus- dehnke, da die Leute im Feld waren. Es brannten ab der Schuppen, eine Scheuer, Stall und Wohnhaus. Fast die gesamte Fahrnis wurde ein Raub der Flammen, nur das Bieh konnte in Sicherheit gebracht werden. Kurzschluß infolge eines durch den Sturm vom Sonntag verursachten Motorschadens wird vermutet.
Mergelstetten, OA. Heidenheim. 1. Mai. Eine Flieger-Huldigung. Ein Flugzeug, das am Samstag mittag über Heidenheim und Mergelstetten flog, warf in der Nähe der Zöpvrihschen Fabrik einen Lorbeerkranz, eine Widmung von Direktor Klemm-Sindelfingen, als Huldigung für die Jubelfirma nieder.
Seihen, OA. Blaubeuren. 1. Mai. Einbruch. Sams-
lag nachmittag wurde bei dem Landwirt Tränkte von der Skeigziegelkmkke Gde. Seißen ein frecher Diebstahl verübt. Während der Besitzer des landw- Anwesens auf dem Felde war, hak sich ein Ilnbekanker zum Hinteren Hauseingang ein- oeschlichen, der unverschlossen war und hat eine wertvolle Taschenuhr mit goldener Kette, sowie 40 Stück Eier gestohlen. Nach dem Täter wird geforscht-
Laupheim, 1. Mai. Brände. In Rot fiel in der Nacht zum Sonntag das Wohn- und Scheunengebäude Pankraz Kistenmaier einem Brand zum Opfer und in der folgenden Nacht brannte das große Viehhaus mit Scheuer des Bräumeisters Benedikt Rupf vollständig nieder. In beiden Fällen liegt Brandstiftung vor. — Aus unbekannter Ursache wurde Wohnhaus und Scheuer des Söldners Henle ein Raub der Flammen.
Aus Stadt «nd Land
Nagold, 3. Mai 1928 Der Adler fliegt allein,
Der Rabe scharenweise;
Gesellschaft braucht der Narr Und Einsamkeit der Weise!
Nachtrag zu den Kandidatenlisten für den Bezirk Nagold
Württ. Bauern- u. Weingürtnerbund
t. Dingler Wilhelm, Landtagsabgeordneter. Calw; 2. Körner Theodor, Landtagsabgeordneter, Herrenberg; 3. Dürr Jakob, Landwirt, Sulz; 4. Helber Wilhelm sen., Landwirt, Altnuifra; ö. Kalmbach Michael, Eemeindepfleger, Egenhausen; 6. Ra user Reinhold, Landwirt, Nagold.
Bolksrechtspartei (Reichspartei für Volksrecht u. Aufwertung)
1. Vauser, Professor, Nagold; 2. Schilling II Konrad, Rechtsanwalt, Stuttgart; 3. Kläger Eotth., Uhrmacher, Nagold; 4. Breitling Christian, Oberlehrer, Stuttgart-Bott- nang. (Auf dem Reichswahlvorschlag der Volksrechspartei stehen an der Spitze die Herren Oberlandesgerichtspräsident Dr. B e st, Darmstadt, M. d. R. / Graf v. Posadowsky, Staatssekretär a. D., Naumburg / Professor Baus er, Reichsparteivorsitzender, Nagold.)
Christlicher Volksdienst für Württemberg
1. Braun Eottl., Landwirt, Mitgl. des Landeskirchentags und der Landwirtschaftskammer, Schopfloch-Freudenstadt; 2. Bischofs Philipp Jakob, Hauptlehrer, Oberreichenbach;
3. Völker Gottfried, Fabrikarbeiter, Ebhausen; 4. Kiefner Hermann, Volksschuldirektor, Nagold; 5. Kirn Christian, Malermeister, Altensteig; 8. Kuder Wilhelm, Prediger, Inspektor des Erholungsheims, Schwarzenberg.
Deutsche Demokratische Partei
Als Nachtrag zu der gestern aufgeführten Liste wurde uns übermittelt: Nr. 6. Bruckner Otto, Hauptlehrer, Heiligenbronn OA. Oberndorf.
Wetter- und Bauernregeln für den Mai
1. Um Philipp und Jakobi (1. Mai) sind die größten ! Wetter und gedeihen die besten Linsen; Philippi — viel friß i, wenig hob i. — 2. In Walpurgisnacht (1. Mai) Regen oder Tau. auf ein gut Jahr bau! — 3. Pankrazi, Servazi, Bonifazi sind drei frostige Nazi, und zum Schluß fehlt nie die kalte Sophie (12.—15. Mai, die Eisheiligen). !
4. Scheint die Sonn' am Urbanitag (25. Mai), wächst gut ' Wein nach alter Sag' und das Korn im Getreide; wenn's ! aber regnet, ist nichts gesegnet. (Traf in 33 Jahren 13 j mal ein.) — 5. An Urbani säe Flachs und Hanf. — 6. Der i Mai kühl, der Juni naß, füllen Scheune und Faß. — 7. j Nasse Pfingsten, fette Weihnachten; Helle Pfingsten, ma- i gere Weihnachten. — 8. Ein Jahr unfruchtbar sei, wenn's j viel donnert im Mai; blühen aber die Eichen Ende Mai, > es ein gut Schmalzjahr sei. — 9. Maikäferjahr ein gutes ! Jahr. — 10. Ein Bienenschwarm im Mai ist wert ein : Fuder Heu; aber ein Schwarm im Juni lohnt kaum der
Müh. — 11. Der dritte Tag im Mai ist ein Wolf, der siebte eine Schlange. — 12. Maientau macht grüne Au; Maienfröste unnütze Gäste.
*
Die Reichsmeßzahl für die Lebenshaltungskosten (Ernährung, Wohnung, Heizung, Beleuchtung, Bekleidung und „sonstiger Bedarf") ist für den Durchschnitt des Monats April mit 150,7 gegenüber dem Vormonat (150,6) nahezu unverändert geblieben. Die Meßzahlen für die einzelnen Gruppen betragen (1913—1914 gleich 100) für Ernährung 151,0, für Wohnung 125,5, für Heizung und Beleuchtung 144,6. für Bekleidung 169,9, für den „sonstigen Bedarf" einschließlich Verkehr 186,4.
Leistungsverbesserungen in der Angesielltenversicherung. Durch das Gesetz vom 29. März 1928 sind mit Wirkung vom 1. April 1928 die Steiger ungssätze für die Beiträge aus der Zeit vom 1. Januar 1913 bis 31. Juli 1921 in den Klassen ? bis ) erhöht und in den Klassen X bis L neu eingeführt worden. Der Steigerungssatz betrügt für jeden Beitrag in der Klasse K: 0,50 RM., 6: 0,75 NM., E: 1,00 RM., v: 1,25 5RM., L: 2.00 RM., Iv 2.50 RM.. O: 3,00 RM.. tt: 4.00 RM.. 5,00 RM. Ferner ist der zum Ruhegeld gewährte Kinderzuschuß von 90 RM. auf 120 RM. jährlich erhöht worden. Renten, die vor dem 1. April 1928 festgestellt sind, erhalten die Leistungs- Verbesserung vom 1. Juli 1928 an, wenn sie dann noch laufen. Die Höhe der neuen Rente wird den Empfängern bei Zahlung der Rente für Juli 1928 mitgeteilt. Vorherige Anfragen sind zwecklos.
Wie verhalte ich mich bei Feuersgefahr? Bei Feuersgefahr gilt es in erster Linie, Ruhe zu bewahren und vernünftig zu handeln. Die Feuerwehr muß sofort alarmiert werden. Brennende Räume schließe man dicht ab. Man muß zwischen sich und dem Vrandherd möglichst viele geschlossene Türen bringen. Sehr wichtig ist, die Tür nach der Treppe stets geschlossen zu halten, damit die Treppe gangbar bleibt. Ist aber die Treppe nicht mehr zu benutzen, so bleibe man zurück. Gefährdete Personen zeigen sich der Feuerwehr am Fenster. Niemals springe man auf Anruf des Publikums herab, sondern man befolge nur die Anordnungen der Feuerwehr. In verqualmten Räumen krieche man auf dem Fußboden, ein nasses Tuch vor Mund und Nase. Brennende Personen hindere man am Fortlaufen. Man werfe sie zu Boden und wälze sie. Die Kleider dürfen nicht abgerissen werden, sondern man umhülle den Körper mit Decken oder Kleidern fest und begieße erst dann mit Wasser. Der Arzt muß umgehend gerufen werden.
Das Mitführen des internationalen Fahrausweises im Inland nicht erforderlich. Seit einiger Zeit wird im ganzen Reichsgebiet von einzelnen Behörden unter Hinweis auf den 8 5 der Reichsverordnung über internationalen Kraftfahrzeugverkehr vom 5. Dezember 1925 das Mitführen des internationalen Fahrausweises im Jnlandsverkehr dann gefordert, wenn an dem Fahrzeug des Nationalitätszeichen „v" angebracht ist. Teilweise sind sogar Bestrafungen ausgesprochen worden. Dieses Vorgehen widerspricht sowohl dem klaren Wortlaut der Verordnung wie zweifellos auch dem Willen des Gesetzgebers. Das Württ. Innenministerium hat sich nunmehr auf Grund einer Eingabe des Württ. Automobil-Clubs mit dieser Frage befaßt und in seinem Erlaß vom 18. April entschieden, daß das Mitführen des internationalen Fahrausweises im Jnlandsverkehr nicht vorgeschrieben ist im Gegensatz zu der Vorschrift, wonach der Kraftfahrzeugführer den Führerschein bei der Benützung des Fahrzeugs auf öffentlichen Wegen bei sich zu führen hat.
verband landrvirkschafklicher Genossenschaften Der Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften in Württemberg e. V. hält am 7. Mai im Siegle-Haus Stuttg. seine 47. Verbandsversammlung ab. Auf der Tagesordnung steht u. a. auch ein Vortrag von Professor Dr. Bockmann-Vonn über „Neue Aufgaben der Kreditgenossenschaften für die Landwirtschaft."
Haiterbach» 2. Mai. Werbeaufführung des Turnvereins Man schreibt uns: Der hiesige Turnverein veranstaltete am letzten Sontag in der Turnhalle eine Werbeaufführung, die glänzend verlaufen ist. Die Turner und Turnerinnen marschierten in stattlicher An-
Iie verlorene.Am
von HenriettevonMeerheimb Roman (Margarete Gräfin von Bünau)
Jahre 1866
10. Fortsetzung (Nachdruck verboten)
„Ehe Königseck mich nicht darum fragt, brauche ich sie dir auch nicht zu sagen."
„Er bittet in diesem Brief um deine Erlaubnis, Herkommen zu dürfen, Vater. Kann ich ihm schreiben, daß du ihn empfangen willst?"
„Er weiß, wo ich wohne. Will er was von mir, mag er sich doch direkt an mich wenden. Was soll das überhaupt heißen, daß er dir heimlich schreibt?"
„Ich bitte dich, den Brief zu lesen."
Man korrespondiert nicht mit einem abgewiesenen Bewerber. Sind das preußische Moden? In meinem Hause paßt mir das nicht."
„Was soll ich denn aber antworten, Vater?"
„Gar nichts. Auf den Wisch gehört keine Antwort. Wenn er trotzdem kommt, ists immer noch Zeit, mich zu entscheiden, ob ich ihn empfangen will. — Und nun hör auf! Ich habe die Geschichte satt."
„Wenn du es nicht einmal der Mühe wert hältst, mir zu sagen, was du eigentlich willst, so wundere dich nicht, wenn ich jetzt ohne deine Zustimmung handle," sagte Gisela trotzig. In diesem Augenblick glich ihr reizendes Mädchengesicht auffallend dem strengen, eigensinnigen Charakterkopf des alten Waldstein.
„Hab ichs noch nicht deutlich genug gesagt?" fuhr der Gras auf. „Nix mehr hören mag ich von der dummen Geschichte. Das habe ich gesagt. Und hat dein edler Herr von Königseck die Dreistigkeit herzukommen, so werde ich ihn fragen, ob er auch ein armes Mädel zur Frau brauchen kann. Denn ehe ich einen Gulden von dem Geld deiner Mutter selig den preußischen Großmäulern in den Rachen werfe, eher —"
„Eher läßt du alles von Lexi verjubeln!" fiel Gisela bitter ein. „Jawohl — das weiß ich! Frage nur Königs
eck, ob er mich oder mein Geld liebt — er wird dir schon zu antworten wissen."
Helle Tränen stürzten plötzlich aus Giselas Augen. Alex trat zur Schwester und wollte den Arm um sie legen, aber sie schüttelte ihn heftig von sich ab und lief hinaus.
„Laß sie laufen!" meinte der alte Graf unwirsch.
„Wenn Weiber anfangen, einem was vorzuheulen, ist es am besten, man kehrt sich gar nicht dran. Eigentlich Hütte ich dem dummen Ding noch gehörig den Kops zurechtsetzen müssen für ihre albernen Redensarten."
„Mir tut Gisela leid," begütigte Alex. „Königseck ist ein netter Kerl — wir haben ihn alle gern in Wien. Natürlich ist die Heirat Unsinn, aber daß sie uns etwas darüber vorheult, kann man ihr nicht übelnehmen . Ich habe damals auch geheult wie ein Schloßkater, als die Franzi vom Burgtheater mit dem schönen Kinsky durchbrannte. So was überwindet man aber wieder. Komm mit in den Stall, Vaterl — die „Fenella" schont vorne links. Ich meine, der Esel von Hufschmied hat sie vernagelt."
Das Gesicht des Grafen klärte sich auf. Er schob seinen Arm in den des Sohnes. In der besten Laune gingen beide in das weitläufige Marstallgebäude hinüber. Von Giselas Kummer war nicht weiter die Rede.
Bei Tisch trug Gisela ein gleichmütiges Gesicht zur Schau, sprach allerdings mit dem Vater fast gar nichts und auch Lexis Späße entlockten ihr kein Lächeln. Sofort nach ihrer stürmischen Unterredung mit dem alten Grafen hatte sie eine Depesche an Königseck aufgegeben, in welcher sie ihn bat, sie morgen nachmittag gegen sechs Uhr auf dem Hradschin zu treffen. Sie war ziemlich sicher, dort von niemand überrascht zu werden, und sie mußte Königseck durchaus allein sprechen, ehe er mit ihrem Vater unterhandelte.
Die Schatten der Häuser fielen schon lang über die Straße, als Gisela am andern Tage den Weg nach dem Hradschin einschlug. Die Steine glühten vor Hitze unter ihren Füßen, denn trotz des leichten Luftzuges und der vorgerückten Stunde war die Temperatur immer noch merkwürdig hoch.
Auf der Nepomukbrücke stand sie erschöpft still und sah einige Zeit in den rauschenden Fluß hinunter. Schiffe glitten vorüber, schwer beladene Kahne, Ruderboote, eilige Segler, deren grauweiße, vielfach geflickte Leinensegel der
warme Wind bauschte. Die Wagen, Karren und Fußgänger, die über die Nepomukbrllcke fuhren und gingen, spiegelten sich deutlich in den Wellen.
Vor der altersgrauen Eeorgskirche am Fuß des Hradschin standen viele Menschen, um die Figuren der zwölf Apostel herauskommen zu sehen und das Glockenspiel zu hören, wenn die Turmuhr die Stundenzahl voll ausschlug. Bald mußte es so weit sein.
Nur wenige Spaziergänger erstiegen mit Gisela die hohe Treppe, die zum Gipfel des Hradschin auf dem die Königsburg liegt, führt. Ihre Knie zitterten vor Aufregung und Anstrengungen; sie hörte ihren eigenen überhasteten Herzschlag. In kurzer Zeit sollte sich ihr Geschick entscheiden.
Jetzt war der letzte Absatz überwunden, und sie stand oben. Ihre Ungeduld trieb sie doch wohl zu früh her, denn von Königseck war noch nichts zu entdecken, nur unbekannte, gleichgültige Fremde besahen mit ihr die unvergleichlich schöne Aussicht.
Eine zartgeschwungene Linie dunkelblauer Bergzüge begrenzte den Blick. Zu Füßen des Hradschin lag das herrliche Prag mit seinen Türmen, Kirchen, vergoldeten Kuppeln. Wallende Nebel stiegen vom Flußbett auf und hingen wie weiße Schleierfetzen an den hohen Schiffsmasten und Brückenpfeilern, bis sie in der stillen Luft langsam wieder zerflossen. Der grünliche Abendhimmel mit den goldumränderten, eilig segelnden Wolken spannte sich darüber aus und spiegelte sich wie ein versunkener Glückstraum tief unten im Bett der Moldau, die ihre glitzernden Wellen eilig Hinrauschen ließ.
„Gisela!"
„Das junge Mädchen fuhr herum. Ihr Auge hatte so tief in all die Schönheit hineingeschaut, daß sie den raschen, elastischen Schritt, der die Treppe haufkam, überhörte. Erne Sekunde starrte sie Königseck, der ihr beide Hände hinhtell, erschrocken an. Sie hatte ihn bisher nie anders als m seiner glänzenden Uniform gesehen, und jetzt kam er M fremd vor in dem dunklen, einfachen Zivil. Aber er war es doch — er! Sie fühlte den festen Druck seiner Hano, sah sein bräunliches, schmales Gesicht mit der feinen, leichl- gebogenen Nase, dem energischen Mund, den großen braunen Augen.
(Fortsetzung folgt)