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Nagolder Tagblatt „Der Gesellschafter
Freitag, den 2S. Dezember 1927.
Aus Stadl undLand
Nagold, 23. Dezember 1927.
Wenn ein Buch aus dem Herzen kommt, wird es ihm gelingen, andere Herzen zu erreichen; alle Kunst und schriftstellerische Begabung fällt dagegen wenig inS Gewicht... Thomas Carlyle.
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8etan«t«achuag des Evangelischen und Katholischen Ober- schnlrats über die Ausnahme in die Lehrer- und Lehrer- innenbildugnsanstalte« im Frühjahr 1928.
Im Frühjahr 1928 werden — wie schon vor einigen Wochen im Anzeigenteil bekannt gegeben wurde — in Klasse I der Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten wieder Schüler und Schülerinnen ausgenommen, die nach einer 6- unter Umständen auch 7-jährigen Ausbildungszeit zur ersten Bolksschuldienstprüfung geführt werden. Zur Feststellung der Begabung und der für den Unterricht nötigen geistigen Reife wird Ende Februar oder Anfang März eine Aufnahmeprüfung in einfacher Form (schriftlich und mündlich) stattfinden. Die zur Prüfung Zu- gelaffenen werden seinerzeit nähere Mitteilungen erhalten. Die Gesuche um Zulassung zu dieser Prüfung find durch das Bezirksschulamt des Aufenthaltsortes, bei Schülern höherer Lehranstalten durch das Rektorat bezw. das Vorsteheramt oder den Schulleiter dem zuständigen Oberschulrat bis spätestens 1. Januar 1928 vorzulegen. Voraussetzung für die Zulassung ist, daß die Schüler und Schülerinnen am 1. Mai 19W das 13. Lebensjahr vollendet und das 16. Lebensjahr nicht überschritten haben. Der Meldung ist anzuschließen', ein Eeburts- und ein Taufschein, ein von einem beamteten Arzt ausgestelltes ärztliches Zeugnis in verschlossenem Umschlag, ein eingehendes Schulzeugnis über Begabung und Leistung, Fleiß und Verhalten, Neigung und Eignung des Schülers oder der Schülerin, zutreffendenfalls auch ein Zeugnis des Lehrherrn oder Arbeitgebers, endlich auf S. 3 der Meldung die Personalien in folgender Ordnung: 1. Vor- und Eeschlechtsname, 2. Geburtstag, 3. Geburtsort, 4. Name und Stand des Vaters, 5. genaue Anschrift vor und nach der Prüfung, 6. besuchte Schulen
(Volksschule in .Jahre, höhere Schule in.
Jahre). Das ärztliche Zeugnis muß nach dem amtlich oorgeschriebenen Formblatt, das von der Buchdruckerei L. Erüningers Nachfolger E. Klett, Stuttgart, Rotebühlstraße 77 zu beziehen ist, ausgestellt sein. Bei den aus höheren Schulen kommenden Schülern ist das letzte Halbjahrzeugnis anzuschließen. — Auch das hiesige Seminarrektorat ist gerne bereit, jegliche Auskunft zu geben.
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Herrenberg, 22. Dez. Unfall. Letzten Dienstag nachmittag ereignete sich bei der Wanderarbeitsstätte ein bedauerlicher Unfall. Zwei Wanderer kamen mit einem Handwagen aus der Stadt und fuhren auf der rechten Straßenseite. Im Augenblick, als ein Opelwagen die beiden überholte, ging einer, ein 57jähriger Wanderer aus Lochweiler links heraus u. wurde von dem Wagen erfaßt und überfahren. Schwer verletzt wurde der Verunglückte ins Krankenhaus eingeliefert. Der Wagen, der infolge raschen Bremsens an das Bankett geworfen wurde, mußte in beschädigtem Zustand abgeschleppt werden.
kleine llachnchlen aus aller well
Der WMerrmgsumfchlag ist so plötzlich gekommen, daß sdkne Auswirkungen schlimmer sind als die ungewöhnlich groHe Kälte. Aus einer ganzen Reihe von Städten wird berichtet, daß durch Glatteis viele llnglücksfälle eingetreten seien und der Verkehr aufs empfindlichste gestört worden sei. In London wurden über 1600 Personen, die bei dem Glatteis verunglückten, zur Behandlung in die Krankenhäuser eingelierfert. Zahlreiche Pferde gingen durch Beinbrüche ein. Den .Brettlhupfern" wurde vielfach das Wcihnachksvergnügen des Schneeschuhlaufs verdorben, doch g:bt es im Schwarzwald, im Allgäu und namentlich in Thüringen und am Riesengebirge noch Gelegenheit, dem Wintersport zu huldigen. Wenn indessen die Kälte noch länger angehalten hätte, so hätte der Verkehr Störungen von unabsehbarer Tragweite erfahren. 3m Hafen von Duisburg
am Rhein-Ruhr-Kanal waren in den letzten Tagen etwa 1000 Schiffe eingebracht worden, die wegen -e- starken Treibeises aus dem Strom flüchten mußten. Eisbrecher mußten ununterbrochen arbeiten. Schiff« mit Oelladung wurden wegen der Feuersgefahr nicht mehr in den Aasen eingelassen. In Thüringen waren in der Nacht zum 21. Dezember in höher gelegenen Orten 25—32 Grud, in manchen Tälern bis zu 36 Grad Kälte gemessen worden.
«in Scheusal. Vor kurzer Zeit war die siebenjährige Tochter der Kassiers Parker an der First National Bank in Los Angeles (Kalifornien) geraubt worden. Die Eltern erhielten die Nachricht, daß das Kind gegen ein Lösegeld von 1500 Dollar freigegeben werde. Der Vater stellte sich mit dem Geld an den bezeichneten Treffpunkt, erhielt sein Kind aber nicht zurück; die Leiche des Kindes wurde kurz darauf furchtbar verstümmelt aufgefunden. Nun erhielt Varker einen weiteren Brief, in dem auch die Ermordung der Zwillingsschwester des ersten Kinds angedroht wurde. Ganz Kalifornien geriet in Aufregung und Wut und alles stellte sich in den Dienst, um die vermeintliche Verbrecherbande unschädlich zu machen. Der Staat setzte eine Belohnung von 75 000 Dollar aus. Der Polizei ist es nun gelungen, den ruchlosen Verbrecher festzunehmen. Es ist ein 17jähriger Kerl namens Edward Hickmann, der bei der Bank angestellt war, aber wegen Unterschlagungen, die der Kassier Parker entdeckte, entlassen worden. Hickmann batte sich dafür an seinem Vorgesetzten rächen wollen. Der Verdacht der Kriminalpolizei fiel bald auf Hickmann, und der Verdacht wurde durch Fingerabdrücke, die man seinerzeit nach seinen Unterschlagungen von ihm genommen hatte, bestätigt.
Letzte Rachrichte«
Der Meckleuburs-Stretttzer Landtag aufgelöst
Neustrelitz, 23. Dez. In der gestrigen von allen 35 Abgeordneten und der Regierung besuchten öffentlichen Sitzung des Mecklenburg-Strelitzer Landtags verlas der Landtagspräfident, Landrat Dr. Roth, eine Erklärung, in der er die Entscheidung des Staatsgerichtshofs vom 17. Dezember bekanntgab und ferner darauf hinwies, daß der Staatsgerichtshof es dem Lande, d. h seinen zuständigen Organen überlassen habe, aus dem Spruch die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Diese Folgerung könne nur sein, daß durch den Spruch des Staatsgerichtshofs dem Landtag die ve> fassungsmäßige Grundlage entzogen sei. Wenn auch kein Zweifel darüber bestehe, daß der Landtag, nach' dem ihm die verfassungsmäßigen Grundlagen entzogen seien, irgendwelche rechtsverbindlichen Akte nicht mehr vornehmen könne, so habe er doch zufammenberufen werden müssen, um die Folgerungen aus dem Spruch des Staatsgertchts- hofs festzustellen. Durch den Spruch sei dem Landtag die Rechtsgrundlage entzogen worden. Er müße daher daraus den Schluß ziehen, das er durch den Spruch des Staatsgerichtshofs sich als aufgelöst zu betrachten habe. Die Arbeit des Landtags sei damit beendet. Darauf wurde die Sitzung geschloffen.
»Deutschland muß «nter alle« Umstünden zahlen-
Paris, 23. Dez. Der Jntranfigeant beschäftigt sich erneut mit dem Bericht Parker Gilberts und schreibt: Europa schulde Amerika 23 Milliarden Dollar, während die deutschen Schulden 33 Milliarden Dollar (?) betrügen. Wenn nur England und Amerika bereit wären, Frankreich und Deutschland den gleichen Schnldenbetrag zu streichen, so hätte Frankreich nichts dagegen einzuwenden. Unter allen Umständen müßte aber Deutschland den Rest seiner Schuld an Frankreich bezahlen, da er zum Wiederaufbau der zerstörten Gebiete benutzt werde. Keine Schuldenlast dürfe verringert werden, ohne daß die anderen gleichfalls heran- gezogen würden. Die Schulden Frankreichs bildeten ein Gesamtkomplex, gleichgültig, ab Sir Mellon das anerkenne oder nicht.
Die deutsch-polnische« Handelsvertragsverhandlungen
Warschau, 23. Dez. Die deutsche Delegation für die Handelsvertragsverhandlungen unter Führung von Dr.
Hermes hat heute abend Warschau zu einer dreiwöchige» Weihnachtspause verlassen. Die Verhandlungen werden am 12. Januar in Warschau fortgesetzt werden. In den bisherigen Besprechungen find, nachdem der Rahmen der kommenden Verhandlungen umriffen wurde, zunächst eine Reihe von Vorträgen zur Behandlung gekommen. Eine wesentliche Rolle spielte hierbei die Möglichkeit der Valorisierung der polnischen Zollsätze. Eine Entscheidung darüber ist von polnischer Seite noch nicht getroffen worden. Bezüglich der polnischen Verordnung über die Maximalzölle, deren Inkrafttreten auf den 1. Februar hinausgeschoben worden war. wird angenommen, daß der Termin im Sinne der bereits fiüher getroffenen Vereinbarungen weiter hinausgeschoben werden wird.
Arbettskrise in Schweden Stockholm, 23. Dez. Die Ankündigung der Aussperrung von 10000 Arbeitern in den Papierfabriken hat in der schwedischen Arbeiterschaft große Unruhe ausgelöst. Auch in den Eisenwerken Schwedens droht ebenfalls die Aussperrung der Arbeiter. Man rechnet mit einem Sympathiestreik der Arbeiterschaft in den lettländischen Enen- betrieben. Die Eifenerzlieferungen an Deutschland würden dadurch gefährdet werden.
Tnrnen und SvM
Zum 14. Deutschen Turnfest in Köln haben sich bereits 3876 Vereine mit 110 264 Turnern, davon 28 516 Turnerinnen, angemeldet. Aus dem 11. Kreis (Schwaben) kommen 182 Vereine mit 3405 Turnern und 634 Turnerinnen, aus dem 12, Kreis (Bayern) 202 Vereine mit 3164 Turnern und 889 Turnerinnen, auS denz 10. Kreis (Baden) 176 Vereine mit 3264 Turnern und 860 Turnerinnen. An den Turnfahrten nehmen 43 505 Turner und Turnerinnen. teil.
Handel und Verkehr
Berliner Dollarkurs. 22. Dez. 4.1875 G.. 4,1865 Br.
6 v. H. D. Reichsanleihe 1927 86.75.
6,5 v. H. D. Reichs-Postschatzanw. 92. - >
Abl.-Rente 1 52.12. !
Abl.-Rente ohne Ausl. 13.25.
Franz. Franken 124.02 zu 1 Pf. St.. 25.40 zu 1 Dollar
Berliner Geldmarkt, 22. Dez. Tagesgeld 6—8 v. H., Monatsgeld 9—9,75 v. H., Warenwechsel 7,375—7,5 v. H., Reportgeld 8,75 bis 9,25 v. H,, Privadiskoni 7 v. H. kurz und lang.
Gefährliche Wellfinanzlage. In einer Rede in Manchesier sagte der bekannte englische Wirtschaftssachverständige Sir George Paish: Die bedeutendsten Sachverständigen der Welt glauben an die Gefahren eines finanziellen Zusammenbruchs in der ganzen Welt, aber es ist noch möglich, die Lag« zu retten. Wir haben alle die gleichen Maßnahmen zu unternehmen und in Uebereinstimmung und aus Grund von Vereinbarungen zu handeln. Wenn in den nächsten 18 Monaten nichts geschieht, dann wird es unmöglich sein, die Lage zu retten, außer durch über- stürz!« Handlungen in einer Zeit der Krisis. Die ganze Welk wird die Zollschranken abbauen müssen. Wir befinden uns in Sicht allgemeinen Freihandels. Die Cntschädigungspolitik gegen Deukschlar.d fügt uns allen einen ungeheuren Schaden zu. Rußland ist für Europas Gedeihen unentbehrlich. Deutschland kann an Rußland nicht in der Weise Waren verkaufen wie vor dem Krieg und muß mit uns auf dem Weltmarkt in Wettbewerb treten, wodurcki die Breite berunteraedrückt werden.
Meder Goldwährung in Italien. Der italienische Ministerrat hat beschlossen, die Goldwährung in Italien wieder einzuführen. Danach gelten 19 Papierlire gleich 1 Dollar, 92.46 Lire gleich einem Pfund Sterling. Eine Goldlira wird 3,66 Papierlire gleichgesetzt. Damit ist die Lira „stabilisiert".
Die Verbandlungen über die italienische Währungsbefestigung wurden in London zwischen dem Direktor der Italienischen Bank, dem Direktor der Bank von England, Samuel Norman-Montague und dem Direktor der Federal Reserve Bank in Neuyork, Benjamin Strang, geführt. Italien wird demzufolge zur Durchführung seiner Währungsbefestigung von verschiedenen Großbanken einen Kredit von 123 Millionen Dollar erhalten.
Funkgespräch Holland—Indien. Am 21 Dezember wunden die ersten Versuche des Funkferngesprächs zwischen der Funkstation Kootwyk (Holland) und Batavia (Niederländisch-Indien) ausgeführt. Der Sprecher in Kootwyk war während seiner ganzen. 90 Minuten dauernden Rede in verschiedenen Sprachen klar verständlich. Nicht ein Wort ging verloren.
Leipziger Baumesse G.m.b. h. Mit dem Sitz in Leipzig wurde die Leipziger Baumesse G. m. b. H. mit einem Kapital von 500 000 Mark gegründet. Beteiligt sind der sächsisch« Staat, die Stadt Leipzig, das Leipziger Messeamt und die Messe- und Aus« stellungs-A.G. Der Verein deutscher Maschinenbauanstaiten und einige Croßfirmen der Bauindustrie haben sich angeschlossen.
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69. Fortsetzung. (Nachdruck verboten.)
„Reden Sie mkr nichts vom eigenen Entschluß", erwiderte die Gräfin aufgebracht. „Dazu besitzt mein Sohn zu viel Ehre und Standesbewußtsein. Er ist eben gezwungen worden, und niemand anders als der Verrückte, der mit feinen sogenannten humanen Ansichten die Weltordnung stürze» möchte, steckt wieder dazwischen. Aber verlassen Sie sich darauf, daß ich alles aufbieten werde, den Streich dieses Tollhäuslers rückgängig zu machen!"
Baumann war darauf bekümmert hinausgegangen. In der Gräfin kochte alles vor Wut. Sie schrieb sogleich a» Horst und versuchte, ihn zum Rückzug zu bewegen. Doch Hvrsts Antwort war fest, klar und bestimmt:
„Mutter, ich liebe Eilig, nur sie wird mein Weib — denk, daß Konrad mich gezwungen habe, oder was du sonst willst, meinen Entschluß macht nichts mehr wanfen."
Nach dieser Antwort verschloß sich die Gräfin in ihr Zimmer, selbst die Kinder bekamen sie tagelang nicht zu Gesicht. Die Wunde, die ihr der Lieblingssohn geschlagen hatte, war noch zu frisch und blutete zu stark, aber sie besaß dennoch die Kraft, sich von ihm loszusagen.
Die letzten Vorgänge auf Tworrau waren Ilse nicht verborgen geblieben, wenn man sie auch nicht in die Fa- milienverhältnifse eingeweiht hatte. Von Eilig Baumann wußte sie genug, um sich die schwüle Spannung im Schloß erklären zu können. Das junge Mädchen war ihr weinend um den Hals gefallen und hatte ihr von Horsts Werbung glückstrahlend erzählt: Sie habe sich zuerst geweigert und sei vor seiner Berührung zurückgebcbt, aber er habe so heiß um Vergebung gefleht, daß sie nicht habe widerstehen können und an seine Brust gesunken sei. Und schon zu Weihnachten solle die Hochzeit sein. Horst habe seinen Abschied gefordert und wolle mit ihr nach Rheinwalden in Oesterreich ziehen. Graf Konrad habe ihm das Gut
in Pacht gegeben, und nach drei Jahren solle es fein Eigentum werden.
Ilse hatte schweigend gelauscht. Sie erriet, wem Cilly ihr'Glück zu verdanken hatte, und ihr Herz schlug höher.
Im August war es gewesen, als sie den Grafen zum letzten Mal gesprochen hatte, und jetzt war es Oktober. Nur auf Umwegen hatte sie von ihm erfahren, und zwar durch keinen Geringeren als Heinz. Dieser hatte ihr geschrieben, daß Graf Limar sein Inkognito gelüftet habe und mit seinem vollen Namen an die Oeffentlichkeit getreten sei.
„Um unsere Sache steht es schlecht", hatte er hinzugefügt, „und es peinigt mich, dich in der Nähe meines erbittertsten Feindes zu wissen".
Die Ereignisse in der Familie halten den Grasen wohl vergessen lassen, es ihr mitzuteilen, und es drängle sie nach einer Aussprache mit ihm.
Aber der Graf verschloß sich mehr denn je in sein Zimmer, und nur jeden Sonnabend sah sie Baumann über den Schloßhof nach dem linken Flügel schreiten, einen dicken Folianten unter dem Arm. Er kam zur Rechnunglegung. Graf Konrad kümmerte sich jetzt also um sein Gut. Im ganzen Dorfe wurde es freudestrahlend besprochen, und wo Ilse hinkam, hörte sic den Namen des Ma- joratsherrn von Tworrau mit Begeisterung nennen. Eine stolze Freude, über die sie sich keine Rechenschaft ablegte, noch abforderte, schwellte dabei ihre Brust.
Eines Tages ließ die Gräfin sie zu sich rufen. Ilse hatte sie fast einen Monat nicht gesehen, und sie erschrack über das vergrämte, bleiche Antlitz der noch immer stolzen Dame.
„Fräulein Römer", redete sie die Gräfin an, „ich teile Ihnen mit, daß Sie jetzt den gewünschten Urlaub erhalten können. Ich beabsichtige, mit meinen Kindern für einige Wochen zu meiner Schwester, der Gräfin Waldstein, auf ein Gut bei Breslau zu gehen und denke. Sie werden nicht gern allein in Tworrau Zurückbleiben wollen."
Ein tiefer Schreck hatte Ilse befallen, und sie war blaß geworden. Die Gräfin sah das.
„Sie bra en nicht zu fürchten, daß sie deshalb Weihnachten nicht nach Hause reisen dürfen. Wenn sie wollen, erhalten Sic auch dann Urlaub." .
„Sie sind sehr gütig!" stotterte Ilse verwirrt.
„Machen Sie sich bereit, in vier Taqen reisen wir, da wir ohnehin zwei Wagen brauchen, können Sie mit zur Station fahren."
Ilse erklärte sich mit allem einverstanden, aber nachher wußte sie nicht mehr, was sie gesprochen hatte. Sie dachte nur immer an eins: „Wie sollst du Heinz fetzt schon geoenübertreten? Mas soll werden, was soll werden —
Die Freude, ihre Lieben so bald Wiedersehen zu dürfen, verging und verschwand darunter.
Wie gebrochen suchte sie ihr Zimmer auf. um Vor- bereitunaen für die Reise zu treffen. Auf dem Tisch lag ein Brief: er war von Heinz. Sie zauderte, ihn zu öffnen. Als sie ibn zu Ende gelesen hatte, atmete sie, wie von schwerem Druck befreit, auf.
Heinz schrieb, daß der Staat ihn nach Aegypten schicke, zwecks Erforschung dort gemachter Ausgrabungen, und daß er unverzüglich abreisen müsse. Er werde jedenfalls erst nach Weihnachten wiederkehren, aber er hoffe, sein Lieb dann noch in Berlin anzutreffen.
Sie schalt sich, sie machte sich bittere Vorwürfe, aber sie konnte die Freude ihres Herzens nicht zurückdrängen. Nach Hause! Nach Hause zur Mutter? O welche Wonne, welche Seligkeit in diesem Gedanken.
Sie schrieb an die Mutter, und packte dann einige Sachen. An Heinz wollte sie von Berlin aus schreiben.
Der nächste Tag war ein kalter Oktoberlag. von jenen rauhen Ostwinden, an denen Oberschlesken so reich ist. begleitet. Der Sturm fuhr pfeifend und heulend durch die Kronen der Bäume und setzte sich in den Mauernischen fest.
(Fortsetzung fotzt.)