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Nr. 241

Gegründet 1827

Samstag, den 15. Oktober 1S27

Fernsprecher Nr. L9

101. Jahrgang

Sn " '.', n« Reichrrit Melchü

Berlin, 14. Okt. Der Reichsral hak in seiner heutigen Sitzung den Entwurf des Reichsschulgesehes mit 37 gegen 31 Stimmen abgelehnt.

Das Reichskabinett trat nachmittags 4 Uhr zur Be­ratung der Besaldungsvorlage und des Reichsschulgesetzes zusammen.

*

Die Ablehnung bezieht sich nicht auf den Entwurf der Reichsrsgierung, sondern auf die Vorlage in der Gestalt, wie sie im wesentlichen nach den preu­ßischen Anträgen von den Reichsratsaus- fchüssen beschlossen worden war. Gegen diese ver­änderte Vorlage stimmten Bayern, Württemberg, die preußischen Provinzen (mit Ausnahme von Berlin und der Provinz Sachsen), Hessen, Thüringen, Mecklenburg-Schwe­rin, Oldenburg, Anhalt und die Hansastädte Hamburg, Bremen und Lübeck. Reichsminister v. Keudell, der in der heutigen Vollsitzung des Reichsrats den Vorsitz führte, erklärte in der Aussprache, daß die Reichsregierung viele der Abänderungen (in den Ausschüssen waren fast 300 Anträge gestellt worden) ab lehne. Die Abstimmung hak überrascht. Das Ergebnis wird darauf zurückgeführk, daß einige Provinzen, die in den Ausschüssen für die Ab- änderungsankräge gestimmt hatten, abgesprungen sind, weil die Schutzfrist für die Umwandlung einer Schule auf fünf Zahre beschränkt worden sei.

Mit der Ablehnung des Reichsschulgesetzes durch den Reichsrat ist die Vorlage nicht etwa erledigt; die Reichs» regierung wird vielmehr, wie das Nachrichtenbüro des

V. d. Z. erfährt, ihren ursprünglichen GesetzenkvM dM Reichstag vorlegen und dabei Mitteilen, daß der Reichsvat diese Vorlage abgelehnt habe. Der gleiche Vorgang hat flch schon einmal in diesem Jahre beim ZuckerzÄl cckgespiekk oer auch vom Reichsrat abgelehnt worden war. Der Reichs­tag nahm trotzdem den Zuckerzoll an und der Reichsrat vsv. Sichtete dann auf «inen Einspruch, fodatz die Zollioorlwge Gesetz wurde.

Wege« Unzuverlässigkeit ausgeschloffen München, 14. Okt. Bei der gestrigen vertrauliche« Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, bei der die Abgeordneten als Hörer zugelassen wurden, wurden die Kommunisten auf Grund einer in der vorigen Session in die Geschäftsordnung aufgenommenen Be­stimmung wegen Unzulässigkeit ausgeschlvs- s e n. Die Bestimmung wurde damit zum ersten Mal ange- wendek.

Englische Warnung an Japan London, 14. Okt. Gegenüber der vom japanischen Kriegs­minister kürzlich ausgesprochenen Erklärung, die japanische Regierung erwäge ernstlich die Entsendung von Truppen aus der Mandschurei nach Peking und Tientsin, falls die innere Lage in China schlimmer werden sollte, wird in der .Times' geschrieben:Das ist eine Möglichkeit, die keine der Mächte, die Handels- und politische Interessen im Fernen Osten ha­ben, mit Gleichgültigkeit betrachten könnte. Der geplante Schritt Japans würde offenbar sehr große und heikle Fra­gen anschneiden, deren übereilte Aufrollung keine Macht wünschen kann."

Tagesspiesel

Der coang. Rcichselkernbund hak in einer Denkschrift an den Reichsminisker des Innern ernste Bedenken der evang. Elternschaft gegen die preußischen Abänderungsanträge zum Reichsschulgesetzentwurf geltend gemacht.

Der LondonerDaily Telegraph" schreibt, es sei ver­wunderlich, daß Frankreich nur 5 500 Mann aus dem Rheinlande zurückziehen wolle, weil sie angeblich schon 2500 Mann zurückgezogen habe? Diese Auffassung siehe mit den letzten Besprechungen im Widerspruch. Die Zurückziehung von 80SS Franzosen sei zugesicherk worden, nachdem jene an­geblicher. 2500 Mann bereits schon einige Zeit zurückgezogen waren.

Die Sowjetregierung hat ihren Gesandten in Paris, Rakowski, abberufen. Sein Nachfolger soll der derzeitige Sowsekgesandke in Japan, Dowgalewsky, sein.

William Green wurde zum Vorsitzenden des ameri­kanischen Arbeikerverbands wiedergewählt.

Politische Wochenschau.

Dichtung und Wahrheit / Was Frankreich durch seine Komödie fertig bringt / Englisch-spanische Ge­heimnisse / Was wird aus Spanisch-Marokko? / Dom europäischen Brandherd Mazedonien / Oesterreichs An- schlußbestrebungen römische und französische Angst­gefühle / Treue zum Reich / Deutschlands Führung in der Sozialpolitik.

Als der Zug der amerikanischen Legionäre an der Place de la Concorde in Paris vorbeizog, kamen aus dem Unterbau des Straßburger Standbilds eine Elsässerin und eine Lothringerin in Tracht hervor, um dem Komman­deur der amerikanischen Gäste denDank Elsaß-Loth­ringens" darzubringen. Wahrhaftig, eine ausgezeichnete Komödie, die nur der Franzose fertig bringt. Mittlerweile muß sich Frankreich sagen, daß bis heute die Vereinigten Staaten dem Versailler Vertrag überhaupt noch nicht bei­getreten sind, somit ganz formell genommen Elsaß- Lothringen eigentlich noch zu Deutschland zählen müßte. Aber was kümmert das Frankreich? Die Komödie von der Place de la Concorde ^wurde in Straßburg und in Verdun weitergespielt, um den Amerikanern die Lüge von den Märtyrerprovinzen" vorzugaukeln, die unsagbar viel in fast einem halben Jahrhundert unter den brutalen Stiefel­tritten des preußischen Militarismus gelitten hätten, bis endlich die herrlichen Amerikaner das gemarterte Volkbe­freit" hätten.

In Wirklichkeit steht es aber heute so, daß dieMär­tyrerprovinzen" sich krümmen und winden unter der kul­turellen Vergewaltigung des Franzosen, der um jeden Preis sieentdeutschen" will und in der Verfolgung dieser Absicht vor keinem Mittel des Unrechts zurückschreckt. Nicht als ob damit gesagt werden wollte, die Elsässer möchten wieder preußisch" werden, aber sie wollen auch nicht französisch werden, wie man es in Paris haben will, jedenfalls wollen ihreAutonomisten" und deren sind es sehr viele ihre völkische Eigenart in Schule und Sprache, in Verwaltung und Rechtsprechung erhalten und respektiert wissen. Frank­reich aber versteht es ausgezeichnet, Stimmung für sich zu machen. Solche Besuche aus Amerika sind ihm höchst will­kommen. Bereits haben sich 1000 Friseure aus Neuyork angemeldet. Fehlen nur noch die Stiefelputzer, die bekannt­lich in der Neuen Welt sich recht guter Einkünfte erfreuen. Und allen wird Frankreich falsche Tatsachen vorspiegeln, und sie werden sie auch zum guten Teil glauben. Von der französischen Liebenswürdigkeit bestrickt, werden sie es auch begreiflich finden und so auch zu Hause meiden, daß das ritterliche und edle" Frankreich alle Ursache habe, wenn es mit der Räumung der Rheinlands zögere. Dis deutschen Barbaren verdienten es nicht besser; auch müsse man vor ihnen wohl auf der Hut sein.

Inzwischen hat auch Chamberlain Paris einen Be­such abgestattet. Worüber die hohen Herren verhandelt ha­ben, bleibt noch Geheimnis. Jedenfalls über Mvsk m, über Tanger und über Mazedonien. Natürlich so wird immer versichert, auch wenn's nicht wahr ist herrschte wieder Uebereinstimmung" in der beiderseitigen grundsätzlichen Auffassung.

Mag sein. Vorher war Chamberlain auf Mal­lorca mit dem spanischen Diktator Primo de Rivera zusammen. Die beiden Staatsmänner hätten da auch über Tanger verhandelt. Spanien sei bereit, gegen angemessenen Ersatz auf Marokko, das ihm unendlich viel Blut und Geld gekostet und bis jetzt herzlich wenig eingetragen hat, zu verzichten. Vielleicht könne Italien das zweifelhafte Erbe antreten, oder Frankreich Syrien gegen den spanischen Teil von Marokko tauschen und was dergleichen Pläne mehr sind. Primo hat das alles nachträglich als Erfindung oder Irrtum erklären lassen. Jedenfalls hat man den Eindruck, daß Spanien keinen allzu großen Wert mehr auf seinen nordafrikanischen Besitz legt, und daß für seine Sicherheit chm die englischen Kanonen von Gibraltar völlig genügen. Zunächst hat Primo eine andere Sorge: die Verfas­sung s f r a a e. die die soeben eröffnet? Nationalversamm­

lung in Madrid lösen soll, natürlich im Sinn des Diktators. Hiernach hat das künftige spanische Parlament so wenig als möglich zu sagen. Die Regierung macht alles.

Was dann die mazedonische Frage betrifft, über die auch in Paris verhandelt worden sein soll, so werden Chamberlain und Briand keine endgültige Lösung gefunden haben. Mazedonien bleibt nach wie vor der Brandherd Europas, auch wenn man jetzt wieder zur Not das Feuer gelöscht hat. Was der Vertrag von Neuilly 1919 ver­brochen hat, war eine sträflicheVivisektion" in dem maze­donischen Slawenvolk. Man hat es zwischen Südslawien, Griechenland und Bulgarien verteilt, aber recht ungleich. Bulgarien, dem die Mazedonier nach Sprache und Blut am nächsten stehen, hat kaum eine Viertelmillion des aufgeteil­ten Volks erhalten. Der größere Teil kam zu Griechenland, der größte zu Serbien. Und das letztere hat die Mazedonier sehr schlecht behandelt. Kein Wunder, daß die bittere Un­zufriedenheit des unterdrückten und gequälten Volks dem schon von der Türkenzeit her gezüchteten Bandenwesen einen neuen Austrieb gab, und daß die Aufrührer ihr Müt­chen besonders an ihren serbischen Peinigern kühlten. Es gab Mord und Totschlag, Brandstiftungen und Grenzver­letzungen. Und es fehlte nicht viel, so wäre es zum Krieg gekommen. Da legten sich Frankreich und England, die in erster Linie Neuilly auf dem Gewissen haben, ins Mittel. Man hat sich wieder etwas beruhigt. Aber wie lange?

Eine andere offene Wunde am europäischen Körper derselbe eitert ja an mehreren Stellen ist Oesterreich. Das ist auch ein so unglückseliges Staatsgebilde, das nicht recht leben und nicht sterben kann. Auf dem Sofioter- Kongreß verlangte die Oesterreichische Völker­bundgesellschaft eine grundlegende Untersuchung der politischen und wirtschaftlichen Lage Oesterreichs. Der An­trag wurde aber scharf vom italienischen und erst recht vom französischen Vertreter bekämpft. Letzterer ließ sich zur Not dazu bewegen, einen Kompromißbeschluß anzunehmen, der lediglich eine Untersuchung der österreichischen Wirtschafts­not und der im Rahmen der Friedensdiktate möglichen Ge­genmittel vorsieht.

Man sieht daraus, wie die Zerren in Rom und Paris aus dem Häuschen geraten, sobald eine Sache angeschnitten wird, die irgendwie, auch nur von der Ferne, mit dem Anschlu ß" etwas m tun hat. So muß Oesterreich, das durch denblutigen Freitag" in feiner Gesundung um ein gures Stück wieder zurückgeworfen wurde, weiter versuchen, sich selber zu helfen. Darum können wir unseren Bruder an der schönen Donau nur wünschen, daß die augenblicklich in London geführten Anleiheverhandlungen zu einem guten Abschluß kommen.

Reichskanzler Dr. Marx, der im Nebenamt bekanntlich auch Minister der besetzten Gebiete ist, machte eine Reise nach den Nheinlanden und der Pfalz. Der herzliche Empfang, der ihm überall zuteil wurde, bewies, wie stark und innig unsere dortigen Brüder am Reich hängen und wie dankbar sie für alles sind, was vom Reich aus zu ihrer baldigen Befreiung unternommen wurde. Andererseits aber machte der Reichskanzler die schmerzliche Erfahrung, daß die zugesagten Erleichterungen nur in spärlichem Maß erfüllt wurden.

Seit Dienstag tagt in Berlin es ist zum 37. Mal der Verwaltungsrat des Internationalen Ar­beitsamts. Ein erfreulicher Beweis für die Tatsache.

daß Deutschland in seiner internationalen Wertschätzung von Jahr zu Jahr gewinnt. Wenigstens muffen Freund und Feind zugeben, daß wir Deutsche auf dem großen Gebiet oer Sozialpolitik, der Sozialversicherung, wie auch der Sozialreform, an der Spitze aller Staaten marschieren, und daß die Völker hierin mehr von uns lernen können, als wir von ihnen. Noch sind wir nicht am Schluß dieser Riesenarbeit angelangt. Aber wir haben z. B. dem gewal­tigen Gebäude der Sozialversicherung dieser Tage mit der Arbeitslosenversicherung das Dach aufgesetzt. Dabei ist es bedeutsam, daß Reichsarbeitsminister Dr. Brauns bei der Begrüßung die Herren in Berlin an das Wort des Geheimrats Dr. Vorsig erinnerte:lieber der Lebensarbeit des Unternehmers steht die Mahnung: Eigentum verpflichtet!"

Vüktlembekg

Skutlgark. 14. Okt. Württemberg stimmt de, Besoldungsvorlage unter Vorbehaltzu. Bei der gestrigen Beratung der Besoldungsvorlage im Reichsral hak Württemberg der Borlage unter Vorbehalt zugestimmt. Bor der Abstimmung hatte der Bertreter Württembergs folgende Erklärung abgegeben: Die württ. Regierung ist mit der Reichsregierung und den übrigen Ländern darin einig, daß eine gerechte Erhöhung der Besoldungen der Beamten mit Rücksicht auf die Verteuerung der Lebenshaltung unbe' dingt geboten ist. Es wäre aber Pflicht der Reichsregierung gewesen, vor Einbringung der Besoldungsvorlage mit deii Ländern und Gemeinden Fühlung zu nehmen und zu prüfen, in welchem Umfang eine Erhöhung der Besoldungen möglich ist und inwieweit zurDeckung des Mehraufwands Mittel zur Verfügung stehen. Denn Länder und Gemeinden befinden sich in der Zwangslage, die Besoldungen, die das Reich seinen Beamten gewährt, auch für ihre Beamten zu übernehmen. Da nun in Württemberg wie in anderen Län­dern eine dauernde Deckung dieser Mehrausgaben des Lands und der Gemeinden nicht vorhanden ist, so stimmt die württ. Regierung dem Gesetz nur in der Erwartung zu, daß die Reichsregierungen den Ländern und Gemeinden die nötigen Einnahmequellen erschließen wird.

Die Württ. Baugewerkschafisberufsgenoffenschast hielt am 11. Okt. hier ihre 43. ordentliche Hauptversammlung ab. Nach dem Geschäftsbericht waren in 8156 Betrieben 103 S71 pflichtversicherte Personen tätig. Außerdem waren 3412 Unternehmer freiwillig versichert. An Entgelt wurden ins­gesamt 64 918 060 RM. nachgewiesen. Mit 10 070 620 Arbeitstagen hat die Beschäftigung im Baugewerbe den Umfang des letzten Vorkriegsjahrs 1913 (10 500 000 Arbeits­tage) nahezu wieder erreicht. Von den 1826 angezeigten Unfällen waren 309 durch Gewährung von Heilbehandlung und Rente, weitere 71 lediglich durch Gewährung von Heil- behandlung zu entschädigen. Für diese und die weiteren Unfälle aus früheren Jahren zusammen, also für 2268 Unfälle waren 1075 Entschädigungsfeststellungsbescheide zu erlassen. Die umzulegenden Gesamtaufwendungen betrugen 925 412,78 RM. Wegen Nichteinhaltung der Unfallver­hütungsvorschriften mußten 61 Geldstrafen verfügt werden. Bei der mit der Berufsaenossenickast verbundenen Zweig-