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Nr. 216
Gegründet 18S7
Freitag, den 16. September 1927
Fernsprecher Nr. 2S
101. Jahrgang
Tagesfpiegel
Abrüstung, Abrüstung...!
Belgiens Wiederwahllabgelehnt / Italien hat genug für den europäischen Friede« getan
Das Reichskabmekk hak am -5. September die Vorlage über die Besoldungsreform beraten, jedoch noch keinen endgültigen Beschluß gefaßt. Es soll ermöglicht werden, daß die Besoldungscrhöhung allgemein prakkisch schon am 1. Oktober wirksam wird.
Nach dem Bericht des Reichspostmiaisters wird die infolge der Gebührenerhöhung im laufenden Rechnungsjahr zu erwartende Mehreinnahme von 146 Millionen Mark durch bevorstehende Mehrausgaben, namentlich durch die Sesoldungserhöhung großenteils aufgebrauchk. Es bleibe nach wie vor ein großer Aehlbelra«. Außerdem müsse die Reichsposi eine Anleihe von 174 Millionen aufnehmen. Die Finanzlage werde nach der Besoldungserhöhung sehr ernst bleiben. Die Lebenshaltungskosten hasten sich von 150 v. H. im Juli auf 146,6 im August, also um 2,3 v. h. vermindert. — Dann wird man hast die Postgebühren von neuem erhöhen müssen, und so fort.
In diplomatischen Kreisen wird von einem Umschwung der türkischen Politik gesprochen, die merklich sich von Sowjek- mßland, mit dem ein Neukralitäks-, wenn nicht Freundschafks- verkrag abgeschlossen war, abwende and sich England und Rallen nähere. — Ein weiterer Erfolg der langsam und geräuschlos, aber sicher vorgehenden EinkreisungspoWK Englands gegen Sowjetrnßkand.
Warum ist Oesterreich wirtschaftlich auf einen Anschluß angewiesen?
Bekanntlich war die österreichische Industrie in den ersten Nachkriegsjahren ziemlich kühl für dev Aw- schlußgedanken gestimmt. Ja sie glaubte sogar, daß eine Aufhebung der Zollgrenzen gegen das Deutsche Reich ihr erhebliche Nachteile bringen werde.
Heute aber denkt sie anders, und es ist außerordentlich lehrreich, daß gerade die Industrie unseres Nachbars an der Donau, wie zahlreiche Kundgebungen aus dem Haupt- seibande der Industrie und den Handelskammern zeigen, neuerdings sich an die Spitze der Anschlußarbeit stellen.
And dies aus sehr triftigen Gründen. Denn je länger, desto mehr zeigt die Entwicklung dieses Zwergstaates, der durch den unsinnigen Vertrag von St. Germain aus seinen ehemaligen recht günstigen Wirtschaftsbeziehungen zu den jetzigen verselbständigten Nachfolgestaaten herausgerissen wurdet daß er auf die Dauer mit mathematischer Sicherheit rirtschaftlich zugrunde gehen muß.
Man überlege sich nur einmal die Zahlen des Außenhandels! Der Gesamtwert der Einfuhr des Jahres 1925 »trug 2811 Mill. Schilling, der der Ausfuhr aber nur 1955 Millionen. Die Verpflichtungen aus dem Defizit der Handelsbilanz kann Oesterreich bei der Fortdauer der Passivität der Zahungsbianz sebstverständich nur durch weitgehende lleberschuldüng und Ueberfremdung im Land selbst und durch Abstößen seiner zahlreichen Beteiligungen im Ausland befreiten.
Wohl hat Oesterreich einige Steinkohlen- und Braun- kchlenlager (besonders in Steiermark und Kärnten), auch Nsi-, Kupfer- und Zinkerzlager und ist außerordentlich reich alt Graphit in Steiermark und Ni-derösterre'ch versorgst luch seine Wasserkräfte mit insgesamt 3,7 Mill. DS. md nicht zu verachten. Aber die eigene Produktion an Rohstoffen steht in keinem Verhältnis zu seinem Bedarf. 2 v beziffert sich die eigene Kohlenerzeugung auf nur 12
H- des Bedarfs. Somit müssen 88 v. H. Kohlen aus dem Au-.iand eingeführt werden.
Fast ebenso bedenklich sind die Verhältnisse aus dem Ge- üei der Lebensmittelversorgung. Es ist wahr, )ie österreichische Landwirtschaft hat seit dem Zusammenbruch 1919 ganz respektable Fortschritte Zu verzeichnen. So lst die Jnlandsernte an Weizen von 139 000 Tonnen im Lahr 1919 aus 290 000 Tonnen im Jahr 1925 gestiegen; an Roggen von 229 000 aus 550 000, an Gerste von 83 000 auf -91000, an Kartoffeln von 544 000 auf gar 2 028 000. an Zuckerrüben von 75 000 auf 493 000 Tonnen. Und diese rrstaunliche Steigerung ist um so höher zu werten, als sich der landwirtschaftliche Boden zu weitaus größtem Teil in den Händen von Kleinbauern und Mittelbesitzern befindet, während der rationellere Großgrundbesitz nur sehr gering in der Landwirtschaft vertreten ist. Trotzdem erfordert aber die Ernährung der österreichischen Bevölkerung noch a u ß e r- 'rdenklich große Zuschüsse an den wichtigsten Brotgetreiden aus dem Ausland. Ledig- -kh in K a r t o ff e l n, die übrigens im österreichischen Haushalt nicht die große Rolle wie etwa in Norddeutschland spielen, kann Oesterreich heute, bis auf italienische Frühjahrseinfuhren, völlig als Selbstversorger gelten. Auch dürfen wir nicht übersehen, daß neben 38 v. H. Waldungen 10 v. H. des österreichischen Bodens unproduktiv (Alpenhochland) sind. Auch sind von der Anbaufläche mit 52 v. H. nicht weniger als 27 v. H Wiesen und Weiden. So kann man sagen, daß von 4 Oesterreichern nur einer aus eiaenem Grund und Boden ernährt werden kann.
Diesen Mißständcn und Miß'.'-nchästniflen können Vorzugszölle nicht obhelsen; auch nicht der, übrigens bereits allgemein wieder amor-cb-ve T-stn einer „Donau-
Vom Völkerbund
Wieder mannhafte ungarische Werke
Genf, 15. Sept. Im Abrüstungsausschuß fand gestern der ungarische Vertreter General Tancos wieder die richtigen Worte. Er sagte, der Zustand, Laß im Völkerbund die einen lichten, die andern davon ausgeschlossen seien (d. h gerichtet werden), müsse aufhören. Wenn die eine Seite behaupte, um ihrer Sicherheit willen dürfen Deutschland, Oesterreich, Ungarn und Bulgarien nicht rüsten, so müsse er fragen, wer denn Ungarn im Fall eines Angriffs schützen würde? Wenn aber der Völkerbund genüge, um Ungarn zu schützen, so müsse er auch für die andern genügen. Ungarn werde jeder Regelung, dem Genfer Protokoll nur einem pflichtmäßigen Schiedsgerichtsverfahren .zustimmen unter der Bedingung, daß nicht nur die im Krieg unterlegenen Staaten, sondern sämtliche Mächte zur Durchführung der Abrüstung gezwungen werden, zu der sie sich durch die Annahme der Völkerbundssatzungen verpflichtet haben.
Der Italiener General de Marinis erklärte zum polnischen Antrag, wenn die Gewißheit bestünde, daß durch den Antrag das Ansehen des Völkerbunds nicht beeinträchtigt würde, so würde Italien dafür stimmen.
Nansens Lchiedsgecichtsankrog
Der norwegische Vertreter Nansen legte einen Entwurf folgenden Inhalts vor: Die Staaten verpflichten sich, Streitfragen, üher die innerhalb eines gewissen Zeitraums diplomatisch oder gerichtlich keine Einigung erzielt werden kann, einer schiedsgerichtlichen Regelung durch den Haager Schiedsgerichkshvf zu unterwerfen. Hiezu gehören insbesondere Streitfragen juristischer Art über die Auslegung von Verträgen (z. V. Versailler Vertrag), über übernommene Entschädigungsverpflichtungen (Daweslast), Festsetzung der Höhe dieser Entschädigungen usw. Andere Streitfragen, wo eine Uebereinkunft durch den Völkerbundsrat nicht erreicht werden kann, werden einem Ausschuß von Schiedsrichtern unterworfen, der nach gegenseitiger Uebereinkunft zwischen den beiden Parteien gebildet wird. Falls diese Uebereinkunft nicht zustande kommt, kann der Völkerbund den Schiesrichter- ausschuß bilden und die Rechtsfrage stellen. Das Urteil ist die schiedsgerichtliche Entscheidung ist anzunehmen und binnen sechs Monaten durchzuführen. Dieses Abkommen berührt in keiner Weise die Rechte und Verpflichtungen der unter- zeichnenden Staaten, sowie andere schiedsgerichtliche Ab- machungen, die bereits bestehen oder in Zukunft eingegangen werden.
Nansen sprach den Wunsch der norwegischen Regierunc aus, daß die Versammlung .zu einer entscheidenden Entschließung komme, die allein eine wirkliche Abrüstung ermöglichen könnte.
Bernstorff fordert Sicherheit durch Schiedsgericht und Abrüstung
Für die deutsche Abordnung ergriff Reichstagsabg. Gral Bernstorff das Wort. Er sei erstaunt, daß man versuche, den Begriff „Sicherheit" umzudeuten. In der Note, die Clemenceau am 16. Juni 1919 Deutschland übergeben habe, sei der Begriff „Sicherheit" klar und maßgebend dahin bestimmt worden, daß die Entwaffnung Deutschland; den ersten Schritt zur allgemeinen Herabsetzung und Be schränkung der Rüstungen darskelleu soll, die die verbündeter Mächte als eines der wesentlichsten Mittel zur Verhütung -es Kriegs durchzuführen suchen. Die Herabsetzung unk Beschränkung der Rüstungen sei eine der Absichten de« Völkerbunds. Graf Bernstorff wies daraus hin, die Völker- bundsversammlung habe 1926 die Sicherheit Br hinreichend begründet gehalten, um eine vorbereitende Ab rüstungskonferenz einzuberufen. Es sei unverständlich, waruw die „Sicherheit" aus einmal wieder als ungenügend
k o n f ö d e r a t i o n", sondern nur der Anschlug an das Deutsche Reich. Für uns im Reich aber bedeutet solcher Anschluß — wir urteilen hier nur vom wirtschaftlichen, nicht politischen Standpunkt aus — nickt etwa um die Aufnahme «eines kraftlosen Ballastes", sondern um die praktische Ausnützung bedeutender wirtschaftlicher Kräfte (man denke nur an die Wasserkräfte!) und um die Gewinnung einer „Ausfallplattform gegen den Südosten, dessen Erschließung zu den größten Zukunftsaufgaben einer gesamtdeutschen Wirtschaft überhaupt gehört".
Neuestes vom Tage
Die MfivdvÄg -er Skmdocherren in Preuße«
Berlin, 15. Sept. Seit dem 1. Januar 1924 sind bisher von Preußen an die ehemaligen Standesherren 2,2 Millionen ausgezahlt worden. Die preußische Staatsregierung steht aus dem Standpunkt, daß eine Regelung nach , dem Scheitern eines Reichsgesetzes nur auf dem Wege einer I
angeieyen werden solle. Die Sicherheit nehme immer mehr zu, wie auch der Holländer Laudon anerkannt habe, trotzdem habe die Abrüstung seit dem Versailler Vertrag noch nicht den geringsten Fortschritt gemacht. Der klare Wortlaut des Abs. 6 des Art. 8 der VölkertninLssatzunge» ^erlange ferner die volle Veröffentlichung des Rüstungsstands der Länder. Dies sei niemals geschehen. Man muß -er West jetzt zeigen, daß man wirklich ehrlich abrüsten wolle. Mit dem polnischen Antrag m der jetzigen Form sei er einverstanden. Die Sicherheit müsse durch Schiedsgericht und Abrüstung verbürgt sein.
Lord Ouslow (Englündech wandte sich gegen Paul Boncour, -er D-r das Genfer Protokoll eingetreten war. England könne der Wiederaufnahme einer Besprechung des Genfer Protokolls seine Zustimmung nicht erteilen. Die moralische Abrüstung habe zwifellos Fortschritte gemacht.
*
Französischer Versuch, das Genfer Protokoll wieder ins Leben zu rufen
Paris, 15. Sept. Havas meldet, die französische Abordnung werde im 3. VSlkerbundsmrsschutz (für Abrüstung) einen Antrag einbringen, der die Fragen der Sicherheit und der Abrüstung miteinander verbinden und der vorbereitenden Abrüstungskonferenz vorgelegt werden soll. Weder irgendein Gedanke noch der Wortlaut de; Genfer Protokolls, dem nun einmal Frankreich und zahlreiche „andere" Staaten .zugetan seien, sollen dabei ausgeschlossen sein. — Es wird abzuwarten sein, was England dazu zu sagen haben wird.
Verschleppung der Danziger Beschwerden
Der Juristenausschuß des Völkerbunds hat die Beschwerde Danzigs gegen die Anlegung eines polnischen Munitionslagers aus der Westerplatte in unmittelbarer Nähe der Stadt, die Polen vom Rat früher gestattet war. dahin beantwortet, daß der Rat zugegeben habe, daß Ratsbeschlüsse bei Vorliegen neuer Tatsachen auch nachprüfbar seien. Aus Formgründen (!) wird jedoch Danzig gezwungen, ein neues Verfahren vor dem VMerbundskommissar in Danzig zu beginnen.
Belgien dvrchgefallen
Gens. 15. Sept. In -heutiger Vormittagssitzu-ng stand der belgische Antrag auf der Tagesordnung, Laß em unständiges Ratsmitglied unmittelbar wiedergewählt werden könne, wenn seine Amtszeit abgelcmfen sei, was auf Beiden zutrifft. Da dem Antrag die Völkerbundssatzung entgegen- steht, wäre eine Zweidrittelmehrheit erforderlich gewesen. Für den Antrag waren aber nur 29 von 48 Stimmen, er ist also abgelehnt. *
Rom, 15. September. Au dem Vorschlag des französischen Sozialisten Paul-Boncour, den europäischen Frieden gemeinsam vertraglich zu sichern (namentlich durch em Ost-Locarno), erklärt der „Popolo d'Jtvlia", die Mitwirkung Italiens sei bei einem Fernbleiben Englands unmöglich. Durch sin freundliches oder auch nur neutrales England werde die Sicherung des europäischen Friedens M Frage gestellt. Der französische Generalstab habe sich Polen, der Tschechoslowakei, Südslamien und Rumänien gegenüber verpflichtet, und es sei begreiflich, daß die sr<m- wsische Regierung diese Verpflichtungen erleichtern wolle, iber Italien habe keine Ursache, dabei mitzumachen. Dre Sicherung der Brennergrenze würde mit der Verpflichtung zu einer Waffenhilfe Br Polen usw. zu teuer erkauft sem. Die Sicherung des Rheins (im Locarno-Vertrag) lei das Höchstmaß dessen, was Italien zur Sicherung -es europäischen Friedens beitragen könne. — Italien stellt sich also auf den englischen Standpunkt.
Abfindung möglich ist und zwar soll eine Ablösung in Höh« von 12,5 Prozent in Frage kommen. Wie das '„Berlinei Tageblatt" hört, ist damit zu rechnen, daß die preußisch« Staatsregierung nunmehr dem am 11. Oktober zufammen- cretenden Landtag auf dieser Grundlage einen Gesetzent- purf unterbreiten wird.
Flolcenparace vor vem Rv»a-spröstd^nien Swinemünde, 15. Sept. Das Flottenflaggschiff „Schleswig-Holstein", auf dem sich Reichspräsident v. Hindenburg, Admiral Zenker, Reichswehrminister Dr. Geßler, Generäl Bleidorn und Vizeadmiral Mommsen befanden, stach gestern vormittag in See. Auf der Höhe von Misdror, kam die deutsche Flotte in Sicht, salutierte und fuhr in langer Kiellinie am Flaggschiff vorbei. Beteiligt waren di« Linien- schiffe „Sckflesien". „Hessen" und „Elsaß", die Kreuzer „Berlin", „Amazone" und „Nymphe", die beiden Torpedobootsflottillen und eine Minensuchflottille. Anschließend fanden Hebungen der Flotte, Tauchbootssicherungen, mar- Aerte Nebel fahrt usw. statt. Die Marineleitung hatte den Ayoddampfer „Roland" gemietet, um ihren Gästen, höheren Militärs, Mitgliedern des Reichstags und des Reichsrats, der Presse usw. die Besichtigung zu ermöglichen. Nach-