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Mit äen illustrierten Unterhaltungsbeilagen .Zeterftunäen« unä „Unsere Heimat"
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Nr. ISS
Gegründet 1827
Samstag, den 16. Juli 1927
Fernsprecher Nr. LS
101. Jahrgang
Krawalle in Wien
W'-en, 15. Juli. Im Januar d. I. ivar es bei einer Kundgebung des nationalen Frontkämpferbunds in Schattendorf (Burgenland) zu einem Zusammenstoß mit dem republikanischen Schutzbund, der ebenfalls eine Kundgebung veranstaltete, gekommen, wobei ein sozialistischer Arbeiter und ein Knabe erschossen und vier Arbeiter und ein weiterer Knabe verwundet wurden. Die Schüsse waren aus den Fenstern eines Gasthauses abgegeben worden. Der Fall wurde gestern vor dem Schwurgericht in Wien verhandelt. Angeklagt waren drei Vurgenländer. Die Geschworenen verneinten die Schuldfragen, indem sie gemäß den Aussagen der Angeklagten annahmen, daß sie nur Alarmschüsse abgeben wollten, um die Frontkämpfer vor dem Herannahen der Schutzbündler zu warnen. Das Gericht sprach demgemäß die Angeklagten frei. Vor dem Gerichtsgebäude hatte sich abermals eine Menschenmenge eingesunden, die das Urteil teils mit lauten Pfuirufen, teils mit stürmischen Heilrusen aufnahmen. Die Polizei konnte die Menge indessen zerstreuen.
Heute früh nun sammelten sich Tausende von Arbeitern, darunter viele Frauen, und marschierten vor die Universität, vor das Rathaus und das Parlamentsgebäude. Ein Sturm auf die Universität
wurde von den Studenten und einer kleinen Wache a b - geschlagen. Die Angreifer begnügten sich dann, die Fenster einzuwerfen. Ernster wurde die Lage am Rathaus und am Parlament. Die Wachen waren dem Andrang gegenüber zu schwach. Da fiel ein Schuß, angeblich aus einem Haus. Das Haus wurde gestürmt. Die Polizei wurde angegriffen und machte nach mehreren. Schreckschüssen von den Schußwaffen Gebrauch. Aus Veranlassung des sozialistischen Bürgermeisters befahl der Polizeipräsident, von der Waffe nur Gebrauch zu machen, wenn die Polizei selbst bedroht sei.
Gegen Mittag rückten Abteilungen des Republikanischen Schutzbunds an, um Mischen der Polizei und den Aufrührern zu vermitteln. Die Schutzleute wurden in die Nebenstraßen und die berittene Polizei ganz zurückgezogen. Run wurde ein
Sturm auf die Polizeiwache
gegenüber dem Rathaus unternommen. Die etwa 50 Schutzleute mußten flüchten und darauf wurde das Innere der
Wache zerstört und das Gebäude in Brand gesteckt. Auch die Wachtstube in der Lindenfeldgasse wurde gestürmt. Hier gab es die ersten Toten.
Am Schmerlingplatz in der Nähe des Parlaments wurde ein Baugerüst an einem vierstöckigen Haus eingcrissen, wobei viele verletzt wurden. Mit den Latten usw. wurde teils ein Bombardement gegen die Polizei eröfsnet, teils eine Barrikade gegen das Parlamentsgebäude errichtet.
Gleichzeitig richtete sich die Wut der Demonstranten gegen das Gebäude der großdeukschen .Wiener Neuesten Nachrichten", das gestürmt wurde. Sämtliche Möbel und das Expeditionsmaterial wurden auf die Straße geworfen und verbrannt. Bon den Redaktionsräumen konnte die wütende Menge durch die vereinten Anstrengungen der Redakteure, des Geschäftspersonols und der Polizei ferngehalten werden. Im Haus wurde Feuer gelegt, doch konnte der Brand von der Feuerwehr gelöscht werden.
Die Aufregung steigerte sich immer mehr, namentlich als inzwischen auf dem Schmerlingplatz auch der Iustizpalafi gestürmt
worden war. Das Innere des Gebäudes wurde verwüstet. Möbel, Akten, Grundbücher usw. wurden zu den Fenstern hinausgeworfen und verbrannt. Bald schlugen Flammen aus den Fenstern heraus, immer höher stieg das Feuer in den Stockwerken und schließlich prasselten die Flammen unter dem Dach vor. Die anrückende Feuerwehr wurde wiederholt zurückgetrieben.
Auf die Vorstellungen verschiedener Politiker, darunter des Präsidenten des Nationalrats, sandte der Polizeipräsident stärkere mit Karabinern bewaffnete Polizeiabteilungen nach dem Rathaus und zum I u st i z p a l a st, rvo die Demonstranten Barrikaden errichtet hatten. Man hörte nun ein langes Gewehrgeknatter. Im Rathaus wurden ein Magistratsbeamter und ein Arbeiter erschossen, fünf schwer verletzt. Unter dem Schutz der Polizei konnte dann auch die Feuerwehr am Iustizpalast zur Löschung des Brandes eingreifen.
Der Kamps war auf ein verhältnismäßig kleines Stadtgebiet, in dem die vorgenannten Gebäude liegen, beschränkt; in den übrigen Stadtteilen blieb es ruhig, nur im Bezirk Josephstadt soll ebenfalls geschossen worden sein. Im Parlamentsgebäude fanden Verhandungen zwischen der Regierung und den Sozialdemokraten statt- Die Zeitungen sind nicht ausgegeben worden.
Zuspitzung der Lage in Wien
Wie», 15. Juli. Es scheint der Eindruck berechtigt, daß die Gefahr des Bürgerkrieges über Wien schwebt. Nach längerem Zögern hat der Polizeipräsident in die Tumulte eingegriffen. Bon ungefähr 2 Uhr ab wurde das Gebiet beim Iustizpalast und Parlament, sowie die Umgebung des Rathauses mit Gewehrsalven gesäubert. Das Schießen dauerte etwa °/« Stunden, und es dürsten 20 Salven in die zusammengeballte Menschenmenge gefeuert worden sein. In den Höfen und Räumen des Parlaments liegen Tote und Verwundete in unbekannter Zahl. Die Räumung des Platzes vor dem Justizpalast allein soll etwa 20 Tote ergeben haben. Die Erbitterung ist gegenseitig sehr groß.
Um dem Blutvergießen wenigstens einigen Einhalt zu gebieten, wurde gegen 3 Uhr nachmittags die Weisung erteilt, daß die Schutzbunvleute abziehen. Der Straßen- und Stadtbahnverkehr ist eingestellt. Gegen Mittag konnte eine regelmäßige Zugverbindung nicht mehr erfolgen, well das Zugpersonal die Arbeit niederlegte, um zu den Schutzbundabteilungen zu stoßen. Die Der- waltungszüge wurden zum großen Teil von Ausländern gestürmt: in den großen Privatbetrieben ist die Arbeit ebenfalls eingestellt. Um 4 Uhr nachmittags dauerte die Schießerei immer noch an. In der Gegend vom Parlament versuchen die Arbeiter feste Barikaden zu errichten. Auch das Rathaus ist verbarrikadiert ; ein Teil des Justizpalastes wird ein Raub der Flammen werden.
Politische Wochenschau.
„Die bewaffnete Macht Deutschlands darf keine Land' oder Marineluftstreitkräfte umfassen." Also steht's geschrieben in Artikel 198 des „Bersailler Vertrags". Das haben wir auch pünktlich und redlich eingehalteu. Später ist einer begrenzten Zahl von Reichswehroffizieren gestattet worden, sich in der Sportstiegerei zu betätigen. Und wohl dieses sportliche Interesse, vielleicht auch der Zufall hat einige nach Englan d zu Privatausflügen beurlaubte und mit den ordentlichen Reisepässen ausgestattete Offiziere veranlaßt, einem militärischen Schausliegen in Hendon anzuwohnen. Sie waren weder vom Luftministerium noch sonst von einer englischen Staatsbehörde hiezu eingeladen. Wso reine Privatleute, die genau so wie jeder andere in- vder ausländische Besucher ihr Eintrittsgeld bezahlt hatten.
Macht nichts. In Frankreich schrie man trotzdem über Verletzung des Versailler Vertrags. Nicht bloß des Artikels 198, sondern auch des Art. 179, wo Deutschland sich verpflichtet, „in keinem fremden Land irgend eine Mission des Landheers, der Seemacht oder der Luststreitkräfte zu beglaubigen". Das tue aber Deutschland, weil es plane, Militärattaches der Botschaft in London beizugeben. England hat nämlich seiner Botschaft in London einen Militär- und einen Marineattache „akkreditiert" und dabei die deutsche Regierung ersucht, auch ihrerseits dasselbe in London zu tun. Dabei gehen England und auch Italien mit Recht von der Annahme aus, daß „Militärattaches" keine „militärische Missionen", d. h- dauernd abkommandierte Instruktionsoffiziere zu einem fremden Heer sind.
Man sieht, auch hier ist von dem Erhabenen — und die „große Nation" nimmt ja für sich die Großzügigkeit in Anspruch — zum Lächerlichen nur ein kleiner Schritt. Lächerlich ist auch, ja sogar bösartig, wenn unlängst der belgische Kriegsminister Brocqueville die vollständig verlogene Behauptung in die Welt hinausschleuderte, in Belgien sei man recht gut über die Machenschaften der deutschen Reichswehr unterrichtet: sie beurlaube ihre Mannschaften teilweise schon nach 6 Monaten, aber auch nach 3 und 6 Jahren, also im direkten Gegensatz zum Versailler Vertrag, der eine zwölfjährige Dienstzeit vorschreibe und Deutschland die Bildung von Reserveformationen untersage. Als die deutsche Regierung den verantwortlichen Kriegs- Minister um Nennung seines Gewährsmanns ersuchte, kam von Belgien ein abschlägiger Bescheid.
Der Mann wird wissen, warum er schweigt. Nichtsdestoweniger hat der französische „Temp s" dem Außenminister Briand die Nachahmung dieser „belgischen Politik der Verteidigung" empfohlen. Das glauben wir gern. Denn dann hat Frankreich wieder einen neuen Vorwand gegen die deutsche Forderung der Räumung der Rheinlande. Wir haben unsere Entwassnungsverpflichtungen nun restlos erfüllt. Am 8. Juli hat die Kommission Pawelsz über vie erfolgte Zerstörung der 34 Betonunter st ände im Osten ein Protokoll ausgenommen. Am 9. Juli hat der Reichstag das uns ausgezwungene Kriegsgeräte- gesetz angenommen. Deutschland kann heute gegenüber Frankreich mit noch mehr Recht als Gretchen sagen: „Ich habe schon so viel für dich getan, daß mir zu tun fast nichts mehr übrig bleibt." Es wäre also allerhöchste Zeit — das geben englische und sogar französische Blätter zu —, daß man endlich mit Artikel 431 und mit Locarno Ernst machen wollte. Aber Professor Dr. Hesnard von der fron- Mischen Botschaft in Berlin beruhigt uns mit dem famosen Trost: „Die Verständigung kann nur langsam und all - -nählich vor sich gehen." Also „Geduld", nur nicht „drängen" und nicht „fordern". Inzwischen Hausen noch 70 268 Soldaten, darunter nicht weniger als 56 569 Franzosen, in unseren schöenn Rheinlanden. Kann man da dem deutschen Volk übel nehmen, wenn es allmählich ungemütlich zu werden droht? Auf der einen Seite spricht man uns als „Großmacht" an und räumt uns aus diesem Grund einen ständigen Ratssitz im Völkerbund ein, auf der andern Seite gewährt man uns nicht die elementarste Forderung aer „Souveränität", deren sich sogar der geringste mittelamerikanische oder afrikanische Kleinstaat erfreuen darf.
Ja, nicht nur das. Wo wir gehen und stehen, hält man uns wie einen gefährlichen Köter an der Leine. So z. B. in der M a r i n e p o l i t i k. Nach dem Krieg hat man uns, wie Rußland und Österreich, aus der Reihe der Seemächte erbarmungslos gestrichen. Wir dürfen nur noch 6 Groß- karnpfschifst (England hat deren 47!), 12 Kreuzer, 24 Torpedoboote mit zusammen 15 000 Mann Bemannung haben. Pie andern durften lustig draus losrüsten, bis es den Verewigten Staaten und ihrem Präsidenten Coolidge end- uch zu dumm wurde. Schon 1921 versuchte eine Washing- wner Seeabrüftungskonferenz das Wettrüsten zu stoppen. Gelang ihr aber nur bezüglich der Großkampfschiffe. Jetzt WU auch bezüglich der andern Schifisarten Maß und Ziel gesetzt werden. Aber diese Coolidge-Konferenz in Gens kwnmt nicht recht vom Fleck. Sie tagt jetzt in -er vierten Woche, und dabei streiten Washington und London um die "^emachtgleichheit". Der Brite will sie zwar seiner angel- wchstschen Schwester zugestehen, aber so wie „er sie auffaßt". Wenn es so weiter geht wie bisher, so scheitert die Drei- machtekonferenz oder aber gibts eine „Ausrüstung", also genau das Gegenteil von dem, was man wollte.
InFrankreich ging es recht unruhig zu. Dem sonst
allgewaltigen Poincare wollte seine eigene Gefolgschaft nicht mehr recht parieren. So in der von der Regierung vorgeschlagenen Wahlrechtsreform. Es bandelt
sich um die Rückkehr zum Einmannwahlkrsis und die gleichzeitige Absage an die Listenwahl, wie letztere z. B. in Deutschland zu finden ist. Nun geschah das Merkwürdige, daß Poincare seinen Entwurf mit Hilfe der linken Opposition durchbrachte, während die Rechte versagte. Dasselbe drohte bei der Beamtenbesoldungsvorlage. Hier wäre es sogar beinahe zu einer Regierungskrise gekommen. Die Mehrheit der Kammer wollte eine Rückwirkung der Erhöhung, während Poincare aus finanziellen und währungspolitischen Erwägungen die Rückwirkung bekämpfte. Aber die Kammer hat im letzten Augenblick vor Poincare kapituliert und dieser sitzt wieder fest im Sattel.
Auch der englische Ministerpräsident Baldwin kam mit einem Resormplan in die Klemme. Derselbe betraf das Oberhaus, dem Lloyd George seinerzeit fast alst Rechte genommen hatte. Das sollte größtenteils wieder rückgängig gemacht werden. Die Liberalen und auch ein großer Teil der Konservativen, also die eigene Partei Bald- wins, von der Arbeiterpartei ganz zu schweigen, protestierten und schrien über ein „Attentat auf die Demokratie Englands". Baldwin, „der Kluge", zog daraus rasck die Vorlage zurück und erklärte, sie sei kein Entwurf, sondern mir eine Art von "inem Fühler gewesen, um die Stimmung das hohen Unterhauses kennenzulernen. Ein wirklich nach- ahmenswerters Rezept für andere Regierungen, deren Vorlagen durchfallen sollten.
Unser Reichstag ging am Samstag in die Ferien. Allerdings mit einem Mißklang, der doppelt wehe tut, weil es sich dabei um ein tieferschütterndes Ereignis handelte.
Wir meinen die fürchterliche, in Deuftckland bis heute geradezu unerhörte Wetterkatastrophe im Muglitz- und Gottleubatal: 185 Tote und ein Sachschaden von etwa 100 Millionen Mgrk. Es wird wohl keinen Deutschen gebender bei diesen Hiobsnachrichten aus dem sächsischen Erzgebirge nicht von innigstem Mitgefühl für die Heimgesuchteu ergriffen wurde.
Ueberhaupt diese Unwetter allüberall in den deutsches Landen! Auch unser liebes engeres Vaterland kann darüber Nagen. Man denke an das Unglück im oberen Nagoldtal. Schon freuten wir uns über den raschen Rückgang der Erwerbslosigkeit, da stylen sich neue Sorgen ein, ernste Warner vor dem Uebermut, der nach den Sternen greises will.
Neuestes vom Tage
Der Reichsschulgesehentwurf
Dersiu» 15. Juli. Zur Beratung des Reichsschulgesetzes werden diejenigen Abgeordneten, die als Vertreter ihrer Fraktionen die parlamentarischen Vorverhandlungen über das Schulgesetz geführt haben, in Berlin erwartet, wo sie Gelegenheit haben werden, sich mit Vertretern der Regierung zu besprechen. Die „Tägliche Rundschau" betont noch einmal, daß die beiden oolksparteilichen Minister ausdrücklich erklärt haben, sie müßten ihrer Fraktion die Stellungnahme zu dem Entwurf in voller Entschließungssreiheit überlassen..