MITTWOCH, 2 3. JUNI 1954

Naguibs Otliziere veruneilt

KAIRO. Ein Militärgericht in Kairo hat am Dienstag 11 ägyptische Offi­ziere vom Leutnant bis zum Major, die der Verschwörung zum Sturz der Regierung und zur Errichtung einer kommunistischen Herrschaft in Ägyp­ten beschuldigt wurden, zu Gefäng­nisstrafen zwischen einem Jahr und 15 Jahren verurteilt. Drei weitere angeklagte Offiziere wurden freige­sprochen, zwei aus der Armee ausge­stoßen.

SPD macht nicht mit

FRECHEN. Der SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer wandte sich am Montag auf einer Wahlkundgebung in Frechen bei Köln gegen die am Vortage von Bundeskanzler Dr. Adenauer erhobene Forderung, die Opposition solle angesichts der Welt­lage mit der Bundesregierung in der Außenpolitik Zusammengehen. Ollen­hauer sagte, es könnte Dr. Adenauer so passen, daß die Opposition eine Po­litik unterstütze, die gegen den Willen der SPD betrieben worden und jetzt gescheitert sei.

Erhard: Kurz vor der Lösung

BONN. Bundeswirtschaftsminister Erhard erklärte am Dienstag vor der Presse in Bonn, daß die inter­nationalen Verhandlungen über die Verwirklichung der Konvertibilität in ein entscheidendes Stadium getreten seien und Lösungen unmittelbar be­vorstünden. Er glaube, daß schon auf der nächsten Tagung des OEEC-Mi- nisterausschusses am 17. Juli in Lon­don für die freie Austauschbarkeit der Währungengrünes Licht gesetzt werden könne.

Dr. Müller: Neugliederung endgültig

Unterschriftensammlung desHeimatbundes Badnerland bedeutungslos / Staat.Gerichtshof

Vonunserer Stuttgarter Redaktion

STUTTGART. Ministerpräsident Gebhard Müller hat die vomHei­matbund Badnerland angestrebte Sammlung von Unterschriften für ein Volksbegehren nach Artikel 29 des Grundgesetzes im Sinne der Wieder­herstellung des alten Landes Baden als bedeutungslos hingestellt und vor der Landespressekonferenz am Diens­tag gesagt, er sehe keinen Grund, durch eine besondere Aufklärung der Bevölkerung der von Oberlandesge­richtspräsident I. W. Zürcher ein­geleiteten Aktion entgegenzuwirken.

Der Ministerpräsident wiederholte seine Rechtsauffassung, daß mit der Ausführung des Artikels 118 des Grundgesetzes, nach dem sich die Bil­dung des Südweststaates vollzogen habe, die Neugliederung des Südwest­raums endgültig sei, da dieser Artikel, wie sich aus seiner Entstehungsge­schichte einwandfrei ergebe, nur eine Sonderbestimmung zum Artikel 29 des Grundgesetzes enthalte.

Es sei zwar im allgemeinen ein Wagnis, über den Ausgang von Pro­zessen zu prophezeien, aber in diesem Falle glaube er mit Bestimmtheit, daß das Bundesverfassungsgericht, wenn es angerufen werden sollte, zum glei­chen Ergebnis kommen werde. Im übrigen, fügte Dr. Müller hinzu, werde die allgemeine Neugliederung nach Artikel 29 so viele Probleme aufwer­fen, daß der Bundestag über die be­reits vollzogene Neugliederung im Südwestraum nur froh sein werde.

Der Sonderausschuß, der unter dem

Vorsitz des ehemaligen Reichskanz­lers Dr. Luther die Bundesländer bereist, um für den Bundestag und den Bundesrat Material zur Neuglie­derung des Bundes zu sammeln, wird voraussichtlich vom 21. bis zum 25. September in Stuttgart weilen. Zum Zweck des Besuches sagte der Mini­sterpräsident, er nehme an, der Aus­schuß wolle sich ein Bild machen, ob die Ausführung des Artikels 118 ge­lungen sei.

Im weiteren Verlauf der Pressekon­ferenz widerlegte Dr. Müller die Dar­stellung des Bundestagsabgeordneten Hilbert, der Bundeskanzler habe un­mittelbar nach den Bundestagswahlen eine nochmalige Aufrollung der badi­schen Frage befürwortet, worauf Dr. Müller die SPD und die FDP/DVP aus Sorge um den Weiterbestand des Süd­weststaates von der Notwendigkeit einer großen Koalition überzeugt habe. Dr. Müller sagte dazu, die badi­sche Frage sei in der von Hilbert ge­nannten Besprechung überhaupt nicht berührt worden, also könne sich der Bundeskanzler auch nicht in dem ei­

nen oder anderen Sinne zur badischen Frage geäußert haben.Die Äußerun­gen Hilberts sind zu interessant, um wahr zu sein.

Der Ministerrat von Baden-Würt­temberg hat sich über den Entwurf für ein Gesetz über den Staatsge­richtshof geeinigt und ihn dem Land­tag zur Verabschiedung weiterge­leitet.

Der Staatsgerichtshof soll nach Artikel 69 der Verfassung vor allem entscheiden bei Streitigkeiten über die Auslegung der Verfassung oder über die Rechte und Pflichten der obersten Landesorgane (Regierung und Parla­ment), ferner bei Zweifeln über die Vereinbarkeit eines Landesgesetzes mit der Verfassung, wenn ein Viertel der Mitglieder des Landtages oder der Regierung das beantragt. Die im Re­ferentenentwurf vorgesehene Bestim­mung, nach der jier Staatsgerichts­hof schon nach der zweiten Lesung eines Gesetzentwurfes soll angerufen werden können, wurde vom Minister­rat nicht genehmigt, der Staatsge­richtshof soll auch keine Gutachten erstatten dürfen.

Klerus darf nicht abseits stehen

Kanzler wünscht mehr politische Betätigung der Geistlichen

Die letzten Parolen vor der Wahl

Prominente bereisen Nordrhein-Westfalen

DÜSSELDORF. Das Aufgebot der prominenten Redner zeigt die letzte Wahlkampfwoche in Nordrhein-West­falen an. In Essen kündigte Bundes­wirtschaftsminister Prof. Ludwig Er­hard die baldige Aufhebung der De­visenzwangswirtschaft in Europa an. Bundesminister Jakob Kaiser er­klärte in Gelsenkirchen, der Gesamt­deutsche Block/BHE sei als Interessen­gruppe heute überflüssig, ebenso auch das Zentrum.

Der FDP-Vorsitzende Dr. Thomas Dehler wandte sich in Essen gegen .billige politische Geschäfte mit dem Christentum und kritisierte besonders die Verbreitung von Flugblättern mit der Wahlparole:Ihr müßt christlich Wählen. Der künftige Vorsitzende des

Kesselring: Recht getan

TRAUNSTEIN. Im Schwurgerichts- «rozeß gegen den des Totschlags ange- ilagten 44jährigen ehemaligen Gene- Vhlleutnant Theodor Tolsdorff sag­te am Dienstag Generalfeldmarschall *. D. Albert Kesselring als Zeuge ius. Zu Tolsdorffs Erklärungen, er nabe am 3. Mai 1945 den Hauptmann Franz H o 1 z h e y erschießen lassen jnüssen, um die Fortsetzung des Wi- lerstandes nicht zu gefährden, erklärte Kesselring, er würde Tolsdorffabge- Setzt oder vor ein Kriegsgericht ge­keilt haben, wenn er nicht weiterge- rampft hätte.

geplanten Koordinierungsausschusses für Verlautbarungen der Bundesregie­rung, Dr. Otto Lenz (CDU), sagte in Opladen, wenn jeder Industriekonzern für sich werben könne, müsse man es auch dem Staat erlauben. Dr. Erich M e n d e (MdB/FDP) schlug in Opladen vor, künftig alle Landtags- und Kom­munalwahlen an einem Tag jeweils zwei Jahre nach den Bundestagswahlen zu veranstalten. Der FDP-Landesvor- sitzende Dr. Friedrich Middel- h a u v e lehnte in Lippstadt ein Zu­sammengehen mit der SPD auch auf Landesebene ab.

75 000 DM Geldstrafe für Fotoverbän­de. Das seit über zwei Jahren laufende Kartellverfahren gegen die maßgeben­den Verbände der deutschen Foto Wirt­schaft wurde jetzt vom Frankfurter Amtsgericht mit Strafbefehlen über ins­gesamt 75 008 DM abgeschlossen.

Lohnverhandlungen gescheitert. Die Verhandlungen über eine Beilegung des Lohnstreiks in der Metallindustrie Nordwürttemberg-Nordbadens sind ge­scheitert.

25 700 abgelehnte Flüchtlinge. 25 700 abgelehnte Zuwanderer aus der sowje­tischen Besatzungszone und Ostberlin werden zur Zeit von den Dienststellen des Berliner Senats betreut.

Postwertzeichen werden ungültig. Die SonderpostmarkenVerkehrsunfallver­hütung,Jugendmarken 1952,50 Jah­re deutsches Museum München und

BAD BOLL. In einer Diskussion in der evangelischen Akademie Bad Boll forderte Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer am Montagabend eine stärkere politische Betätigung des Kle­rus beider Konfessionen. Er sagte:Der Klerus darf in dieser Zeit nicht ab­seits von der Politik stehen. Ich würde es begrüßen, wenn es auch Geistlichen gestattet würde, als Abgeordnete am politischen Leben teilzunehmen.

Dr. Adenauer sprach sich ferner da­für aus, daß die Geistlichen beider Konfessionen während ihrer Ausbil­dung besser mit den Fragen der Poli­tik, der Wirtschaft und des Sozial­wesens vertraut gemacht würden. Die evangelischen Landesbischöfe von Würt­temberg, D. Dr. Martin H a u g , und D. Julius Bender, Baden, sowie der Ge­neralvikar der Diözese Rottenburg, Dr. Hagen, vertraten die Ansicht, daß sich die Geistlichen um ihrer Aufgabe als Seelsorger willen nicht als Politi­ker betätigen sollten. Dabei wurde auch die Gefahr einer Verkündung von Parteimeinungen von der Kanzel herab erwähnt. Staatsrat M e i n z o 11, Mün­chen, wies darauf hin, daß die baye­rische evangelische Landeskirche ihre

Kleine Weltchronik

Deutsche Verkehrsausstellung Mün­chen 1953 sowie die Liebig- und Rot- Kreuz-Gedenkmarken verlieren mit dem 30. Juni ihre Gültigkeit.

DGB gegengeprüfte Hauswirt­schaftsgehilfin. Die Hauptabteilung Frauen im Bundesvorstand des Deut­schen Gewerkschaftsbundes bedauerte am Dienstag den vom Bundesarbeits­minister im März herausgegebenen Er­laß, in dem diegeprüfte Hauswirt­schaftsgehilfin als Lehrberuf aner­kannt wird.

Tanker brennt im Hamburger Hafen. Mit drei Löschzügen und zwei Feuer­löschbooten mußte die Hamburger Feu­erwehr- bei Alarmstufe 3 im Hambur­ger Hafen eingreifen, wo am Dienstag-

Pfarrer für die Zeit ihrer politischen Tätigkeit beurlaube.

Die Diskussion fand zum Abschluß einer zweitägigen Tagung über die Zu­sammenarbeit der Konfessionen statt, die von der katholischen Akademie Hohenheim und der evangelischen Aka­demie Bad Boll veranstaltet worden war.

PRESSESTIMMEN

Kanone gegen Kanone

Nach Meldungen derBasler Nachrichten ict vor einigen Tagen das erste sowjetische Atom­geschütz in der Sowjetzonenrepu­blik eingetroffen. Das Blatt be­merkt hierzu:

Das Geschütz, das angeblich auf ei­nem Spezialwagen nach Deutschland transportiert wurde, ist das erste einer Serie von neun Alomgeschützen, die in Deutschland stationiert werden sol­len. Vorläufig befindet sich dieses an einem geheim gehaltenen Ort in Meck­lenburg. Es hat ein stärkeres Kaliber als das amerikanische dieser Art. Es wiegt über 110 Tonnen, ist fest statio­niert und hat eine Reichweite von 45 km. Das sowjetische Modell hat, wie in Ostberlin betont werde, .einige auf­fällige Vorzüge vor dem US-Model

Adenauer verrät Unruhe

Die unabhängige Londoner "Ti­mes befaßt sich mit der deutsch­französischen Frage und äußert die Befürchtung, der sich in der französischen Europa-Politik an­bahnende Wandel werde die Stel­lung Dr. Adenauers schwächen. Das Blatt schreibt:

Die Gegner des Bundeskanzlers zei­gen Unzufriedenheit mit dem geduldi­gen und offensichtlich fruchtlosen Zu­warten des Kanzlers auf eine franzö­sische Entscheidung, ob der Bundesre­publik der Beitritt zur westlichen Al­lianz gestattet werden solle oder nicht. Zum Wochenende hat Dr. Adenauer zum ersten Male auch selbst sein# Verärgerung über dieses Zögern ge­zeigt. Die Bundesrepublik ist dadurch nicht nur zur Passivität auf wehr- und außenpolitischem Gebiet verdammt, sie wartet auch vergebens auf die Wieder­herstellung ihrer Souveränitätsrechte, wie sie im Bonner Abkommen zuge­sagt wurden. Dies hat zweifellos auch zu innenpolitischer Beunruhigung ge­führt.

Bonn wartet aut MarschaSI Papagos

Fünftägiger Besuch des griechischen Regierungschefs

BONN. Der griechische Ministerprä­sident Feldmarschall Alexander Pa­pagos wird am 30. Juni zu einem fünftägigen Staatsbesuch in der Bun­deshauptstadt eintreffen. Es ist das erste Mal, daß ein griechischer Regie­rungschef Deutschland besucht. Der 71jährige Feldmarschall will in Be­gleitung seiner Gattin, des griechischen Außenministers Stephanopulos und des Koordinationsministers Kap- s a 1 i s den Staatsbesuch des Bundes­kanzlers vom Frühjahr dieses Jahres erwidern.

nachmittag ein Tanker in voller Aus­dehnung in Brand geraten war.

Kampf gegen Mau-Mau kostet viel Geld. Im neuen Haushaltsplan von Ke­nia sind acht von insgesamt 22 Millio­nen Pfund Sterling (über 260 Mill. DM) für den Kampf gegen die Mau-Mau-Be- wegung vorgesehen. Voraussichtlich wird dieser Betrag aber nicht ausrei­chen.

Preissegen über deutsche Garten­bauer. Auf der internationalen Garten­bauausstellung in Valenciennes (Frank­reich) ist die Gemeinschaftsschau des deutschen Gemüse-, Obst- und Garten­baus mit einem großen Ehrenpreis und einem Silberpokal ausgezeichnet wor­den. Außerdem erhielten 15 deutsche Aussteller acht 1. Preise, drei 2. Preise, zwei 4. Preise und zehn Ehrenpreise.

Papagos und seine Begleitung wer­den bei ihrem Eintreffen auf dem Flugplatz Köln-Wahn vom Bundes­kanzler, Vizekanzler Franz Blücher, den Bundesministern Schäffer und Erhard sowie von Staatssekretär Hallstein begrüßt. Die griechischen Gäste werden im Hotel auf dem Pe­tersberg wohnen und sich noch am Nachmittag in die Besuchsliste de* Bundespräsidenten eintragen. Am Abend gibt der Kanzler ein Galadiner im Palais Schaumburg, um bei dieser Gelegenheit auch die ersten politischen Besprechungen zu führen, die am fol­genden Tag offiziell fortgesetzt wer­den.

Ferner finden Verhandlungen mit dem Bundeswirtschaftsminister über die deutsch-griechischen Handelsbezie­hungen stat,t.

Hagelabwehr mit Raketen

MÜNCHEN. Im Landkreis Rosenheim sollen zum erstenmal nach dem Krieg# wieder versuchsweise Raketenstationen zur Abwehr von Hagelunwettern ein­gerichtet werden. Der Landwirtschafts­ausschuß des bayerischen Landtags er­suchte am Dienstag die Staatsregierung Rosenheim als Versuchsgebiet zu er­klären, ausreichende Mittel bereitzu­stellen, über die Technische Hochschul« München die Forschung der Hagelab­wehr durch Raketen zu fördern und beim Bund für Erlaß des Raketen-Ein- fuhrzolles einzutreten.

OerlDe

ROMAN EINER EHE VON ANNE 0AY

Copyright by Cosmopress, Genf,

durch Verlag v. Graberg & Görg, Wiesbaden

(6. Fortsetzung)

Folgsam ließ sie sich ein paar Schritte führen, aber dann, ganz selbständig, blieben Ihre Beine stehen:Charles, vielleicht stirbt ein Mensch, weil wir... Sie hatte Angst, weiterzusprechen. Krampfhaft suchte sie nach den richtigen Worten, doch sie wußte bereits, daß er sie nicht begreifen würde. Ihre Hand streckte sich flehend nach ihm aus:Charles, wir gehören zusammen, aber ich kann nicht anders, ich muß fort; jetzt gleich, sonst ist es vielleicht zu spät.

Er rührte sich nicht. Unbeweglich stand er da und sah sie an; seine Augen wurden zu zwei schmalen Schlitzen, sein Mund war zu­sammengepreßt. Doch dann richtete er sich steif auf, nun hatte er begriffen!

Suzanne zitterte, ihr Herz klopfte zum Zer­springen.

Du wünschst also, abzureisen? Bitte, wie du willst. Seine Stimme war eiskalt. Er wandte sich um und ging auf das Portierpult zu; auch sein Rücken hatte etwas feindlich Fremdes.Die Rechnung! befahl Monsieur de Beaulieu und schritt steif zum Aufzug.

Ich mache einen Fehler, dachte Suzanne, als sie bereits die Koffer gepackt hatte und reisefertig im Zimmer stand.

Und sie dachte es wieder beim Einsteigen in den Wagen

Ich mache einen Fehler ... sang auch der Motor, und sie sah zu dem Profil an ihrer Seite, das wie versteinert auf die von den Scheinwerfern weiß beleuchtete Straße blickte.

Ich mache einen Fehler, dachte sie später vor einer Bahnschranke, die den Weg ver­sperrte. Ich muß es ihm erklären, er muß es verstehen. Ich bin Arzt, er muß lernen, daß ich Pflichten habe, denen auch er sich zu

fügen hat. Ich werde ihn mir heranziehen, natürlich mit sehr viel Geduld und Verständ­nis:Charles, in drei Tage fahren wir wieder an die Cöte d'Azur zurück, ich verspreche es dir, und dann werden wir beide froh sein, soo froh!

Es sollte tröstend klingen, aber es klang sehr arm.

Du hast in allem vollkommen recht, er­widerte Herr de Beaulieu höflich und blickte vor sich auf die Straße.

V. Kapitel

Lisette Pasquier sah ihren Vater er­schrocken an, jetzt erst hatte sie richtig be­griffen. Seit gestern war Mama krank, aber Papa würde sie schon wieder gesund machen. Oder war das vielleicht nicht so sicher?

Nun, zum ersten Mal, hatte sie Angst. Es lag etwas in der Stimme des Vaters, in seiner Haltung und in der Berührung seiner Hand, das in ihr unklar diese Furcht hervorrief.

Komm mit Antoine in einer Stunde in die Klinik, sagte Professor Pasquier,ich möchte euch bei mir haben. Er wandte sich um und ging mit schweren Schritten die Stufen hin­unter.

Lisette sah ihm nach und nun war die Angst wirklich da, eine Angst, gegen die man nichts tun konnte, die einem die Kehle zuschnürte, wenn man den Vater so die Treppe hinuntergehen sah, mit unsicheren Schritten, krampfhaft schwer, als schleppe er eine Last mit sich.

Ich soll Antoine abholen! Und sie war froh, irgend etwas zu tun zu haben. Sie lief durch das Gartentor, dann die Avenue Victor Hugo hinauf. An der Ecke bog sie ein und rannte über den Hof des Gymnasiums, vor­bei an dem allmächtigen Pedell.

Die Fenster des Klassenzimmers waren offen, es war so still, daß man von draußen die Autos tuten hörte.

Dreißig Buben beugten sich über ihre Hefte, sie dachten nur daran, daß es die letzte mathematische Arbeit vor den großen Ferien sei. Da wurde leise die Tür geöffnet,

und drciuig Buüenköpte hoben sich: erstaunt sahen sie auf das Mädchen, das zögernd an der Wand entlang bis nach vom ging.

Lisette war bis zur Tafel gekommen. Ge­niert blieb sie stehen und blickte den Pro­fessor an.

Ich möchte meinen Bruder, Antoine Pas­quier, abholen, sagte sie leise.

Monsieur Ripert, Professor für Mathema­tik, wunderte sich; ein Mädchen in einer Knabenschule, so etwas kommt nicht alle Tage vor! Sein Anzug war abgenützt und ein wenig zu groß; schlotternd hing er an der schmächtigen Gestalt.

Aha, das ist also die kleine Pasquier! Aber sie kann doch nicht einfach ihren Bruder abholen, leider darf ich das nicht gestatten, es ist schriftliche Prüfung. Die beiden sehen sich ähnlich, es scheinen Zwil­linge zu sein .. .

Meine Mutter ist erkrankt", sagte die kleine Pasquier

So, so! natürlich, Mütter und Tanten erkranken am häufigsten während der Mathe­matischen. Sie hat veilchenblaue Augen, veilchenblau klingt zwar absurd, aber ...

Vater erwartet uns in der Klinik. Sie können ja in der Klinik St. Joseph duRoule antelephonieren.

St Joseph du Roule... 7 Ripert horchte auf. Ich hatte einen Kriegskameraden, der dort früher Arzt war. Maurice hieß er. Ob er jetzt wieder in der Klinik arbeitet? Th könnte einmal hingehen ...

Wenn Sie anrufen, wird man Ihnen be­stimmt sagen, daß meine Mutter krank ist.

Wie bitte... ? Ach so! Nein, es wird schon stimmen, Sie können beide gehen.

Monsieur Ripert blickte den Kindern nach. Wie ähnlich sie sich sehen!.

Im Galopp liefen die Geschwister die Treppe hinunter.

Phänomenal, daß du mich aus der Mathe­matischen herausgeholt hast. Sehr anständig von dir, ich wäre bestimmt hineingesaust.

Mutter ist krank, sagte Lisette.

Na ja, ich weiß, aber doch fein, daß du gerade jetzt

Nein, Tintin, Mutter ist sehr krank und Vater will, daß wir gleich kommen.

Antoine stutzte: wenn ihm Lisette Tintin sagte, dann war sie besonders lieb. Vielleicht war Mutter so arg krank, daß sie besonders lieb sein wollte ... ?

Stumm gingen sie die Straße hinunter. An der Porte Mailott blieben sie stehen und warteten, bis sie den Platz überqueren konnten.

Kommen wir zurecht? fragte Antoine.

Zurecht? Zu was? Wieder spürte Lisette die Angst wachsen:Vater wollte, daß wir in einer Stunde bei ihm sind.

Oben, im Gang, roch es nach Spital. Beide blieben vor Vaters Zimmer stehen, dann traten sie ein. Niemand war da.

Siehst du, wir sind rechtzeitig gekommen, sagte Lisette. Sie sahen sich an und war­teten, sie warteten auf etwas, das ihnen die Kehle zuschnürte.

Im kleinen Vorraum neben dem Opera­tionssaal stand Professor Pasquier und auch er wartete. Manchmal sah er durch die Glas­wand hinüber in den anschließenden Saal. Von Zeit zu Zeit hörte er ein paar kurze Worte. Er kannte die Stimmen, obwohl sie durch die weißen Masken verändert klangen:

Tupfer . . . Tupfer . . . Tupfer . . . eins... acht... drei... Tupfer!

Der kleine Herr mit dem grauen Spitzbart hatte das Gefühl, als stünde er dort selber mit den anderen weißen Gestalten unter dem Scheinwerferkegel, so genau konnte er auch von hier aus, nur durch die paar An­ordnungen, die drüben erteilt wurden, der Operation folgen.

Er kannte jede Phase; hundert mal hatte er sie ausgeführt, hundert mal mit den glei­chen, sicheren Griffen, den gleichen Befehlen: Tupfer ... eins ... drei... sechs ...

Er wußte, welche Instrumente diese Zahlen bezeichneten, und er wußte schon alles, er wußte es ganz genau, aber er wollte es nicht wissen. (Forts, folgt)