BERICHTE AUS DEUTSCHLAND
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Als „schönste Frau Deutschlands" soll die am 19. Juni Im Kurhaus in Baden- Baden zur „Miss Germany 1954“ gewählte 19jährige Regina Ernst aus Bremen nun in hong Beach (Kalifornien). an der Wahl der „Miss Universum“ teilnehmen. Bild: dpa
Eine neue Welt im Sprechzimmer
Krankheiten und Patienten haben sich gewandelt / Bericht vom Deutschen Ärztetag
HAMBURG. Auf dem 57. Deutschen Ärztetag wurden am Sonntag und während der voraufgegangenen Fachsitzungen die ernsten Probleme der Wandlungen im Gesundheitswesen von tausend deutschen Ärzten erörtert.
Ein gefährliches, ein alarmierendes Wort ist vor wenigen Wochen in die Öffentlichkeit geschleudert worden: es ist die Frage, ob die Ärzte noch unser Vertrauen haben. Sie wurde bereits durch eine Umfrage des Soziologischen Seminars der Kieler Universität beantwortet, noch ehe tausend deutsche Mediziner zum 57. Deutschen Ärztetag ln Hamburg zusammentraten. Nach dieser Umfrage stehen der Professor und der Arzt an erster Stelle des gesellschaftlichen Ansehens.
Das ist nicht nur ein Vertrauensbeweis, es ist ein Bekenntnis der Menschen, daß der Mann im weißen Kittel mit dem Hörrohr in der Brusttasche eine der letzten und stärksten Stützen in dieser wirtschaftlich gesunden, aber seelisch kranken Zeit geblieben ist. Die Menschen, die früher nach dem Arzt riefen, stöhnten unter Fieber, hatten eine Lungenentzündung oder einen vereiterten Blinddarm.
Das Gros der Patienten in den Wartezimmern von heute aber leidet an nervösen Beschwerden. Herzflattem,
Kreislaufstörungen und vielen ähnlichen Erscheinungen im zwielichtigen Grenzgebiet zwischen Gesundheit und Krankheit. Nachkriegsnot, Entwurzelung, Unruhe und Lebensangst haben Krankheitsbilder heraufbeschworen, die zu anderen Zeiten kaum bekannt waren. Der Patient von 1954 ist ein anderer als der von 1914.
Die Ärzte haben sich auf diese Wandlung’ einstellen müssen. Sie mußten erkennen, daß ihr reich assortiertes Heilmittelarsenal nutzlos ist, wenn es nicht durch die Kraft der ärztlichen Persönlichkeit ergänzt wird. Die Kranken mit dem „modernen“ Leiden, wie sie Dr. Ferdinand Hinrichs auf dem Hamburger Ärztetag nannte, verlangen und brauchen wieder den Zuspruch, den Rat und die seelische Hilfe des Arztes.
Außerdem erheischen die sich immer mehr verwischenden Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit eine vorbeugende Gesundheitspflege, wie sie früher der Hausarzt innerhalb der Familien betrieb. Der Hausarzt ist tot, seitdem 80 Prozent aller Bewohner der Bundesrepublik der sozialen Krankenversicherung angehören. Und eine vorbeugende Gesundheitsvorsorge, eine Beratung des Menschen, der noch nicht krank ist, seine Gesundheit jedoch be-
Kreuzzug gegen den Teufel
Billy Graham, der Welt erfolgreichster Prediger kommt in diesen Tagen nach Deutschland
Im Anschluß an seine dreimonatige erfolgreiche Londoner Missionsreise hat sich der amerikanische Evangelist und Prediger Billy Graham nun auf den europäischen Kontinent begehen. Am 27. Juni wird er im Berliner Olympia-Stadion sprechen. Werden Grahams Predigten das religiöse Leben Europas nachhaltig beeinflussen? Billy Graham selbst gibt hierauf folgende Antwort.
BERLIN. „Ich bin nicht gekommen, um
e igland zu reformieren. Aber ehe drei onate um sind, werden wir alle Zeugen einer großen religiösen .Renais- p*nce‘ sein!“ Es gab viele Reporter und Vertreter der anglikanischen Kirche, die mgläubig waren, als der ehemalige Far- merssohn und heutige Chef der Aktiengesellschaft „Billy Graham Evangeli- itischer Bund“ seine erste Pressekonferenz mit dieser Prophezeiung eröffnete.
Nun, Billy Graham hat sein Verspre- *en voll und ganz gehalten. Über 1,7 Millionen Engländer kamen, um den -erfolgreichsten Massenprediger der Welt“ zu erleben, weitere Millionen hörten und sahen ihn in entlegenen Kirchen und Versammlungslokalen über den Lautsprecher oder auf dem Fern- »ehschirm. Sie wurden Zeuge eines Wunders, von dem der gefürchtete Leitartikler des „Daily Mirror“, Cassandra, beschämt sagte: ..Ich hätte es niemals tür möglich gehalten, daß einfache, zu Herzen gehende Bibelworte uns Engländer so verdammt hart prügeln könnten!“
Mit seltener Virtuosität kämpft und wettert Billy Graham gegen die Gottlosigkeit, gegen Sünde und Haß. Und •r zog die „kühlen“ Engländer in seinen Bann. Insgesamt 34 586 Männer und Frauen bekannten sich in aller Öffentlichkeit zu Gottes Wort, traten vor die Rednertribüne und ließen ihre Personalien in Karten eintragen, die Grahams Assistenten an die jeweiligen inständigen Kirchengemeinden weiterleiteten. Was die englischen Pastoren Dicht für möglich gehalten hatten: Die Gotteshäuser füllten sich.
Der junge, sympathische Mann vertritt keine bestimmte kirchliche Richtung. Er will lediglich die Menschen zu Gott zurückführen. Daß er dieses Wunder kraft seines schlichten, verständli- then Wortes zustande brachte, ist heute
überall Gegenstand religiöser Diskussionen.
„Als ich nach England eingeladen wurde, warnte man mich vor der .angelsächsischen Reserviertheit*. Dennoch füllten Menschen aller Gesellschaftsschichten und Temperamente Abend für Abend unsere Großveranstaltungen, besonders jene beiden Abschlußpredigten im regennassen White-City und Wembley - Stadion mit ihren 67 000 bzw. 120 000 Sitz- und Stehplätzen, die nicht ausreichten, um die Massen zu fassen. Nicht einmal während der Londoner Olympiade im Jahre 1948 war das Wembley-Stadion so voll.“
„Gewiß, die Gotteshäuser sind in den letzten Jahrzehnten immer leerer geworden. Tatsächlich sind heute weniger als 10 Prozent der Bevölkerung Kirchengänger. Das klingt entmutigend und hat vielfach zur Folge, daß sich die Geistlichkeit hilflos fühlt gegenüber einer Welle von Materialismus, Rationalismus und Säkularisation.“
„Seit Kriegsende ist aber allenthalben doch so etwas wie ein ständig wachsender Hunger nach Geistigem und ein Suchen nach Gott festzustellen. Nicht nur in Amerika und England. Die A- und H-Bombe haben dem Rationalismus in intellektuellen Kreisen eine Niederlage zugefügt und bei der großen Masse das Gefühl der Unsicherheit verstärkt. Für die meisten Menschen hat das „Zeitalter des Fortschrittes“ seinen Glanz und Reiz verloren. Der Mann auf der Straße wird das Gefühl nicht los, daß sich die Menschheit geradezu selbstmörderisch dem Abgrunde nähert. Er beginnt nach Dingen zu suchen, die ihm Hoffnung, Glauben und Sicherheit zurückgeben sollen.“
„Überall stellte ich fest, daß sich diese schwelenden Fragen machtvoll an die Oberfläche drängen. Man fängt an, sich wieder über Religion zu unterhalten.
Worte wie Gott, Christus und Evangelium erscheinen sogar wieder in den Schlagzeilen der Presse; etwas, was seit Jahrzehnten nicht mehr der Fall war!“ Billy Grahams letzte Pressekonferenz auf englischem Boden war so ganz anders als die erste. Sie endete mit einem Dankgebet. Graham bereist nun den Kontinent. Seine Missionsreise wird ihn durch mehrere Länder führen: zuerst Helsinki, dann Stockholm, Kopenhagen, Amsterdam,Düsseldorf,Berlin und Paris.
M.t dem Auftreten des amerikanischen Evangelisten Billy Graham im Berliner Olympiastadion kündigt sich eine kirchliche Kundgebung von seltenen Ausmaßen an. Schon jetzt sind bei dem vorbereitenden Komitee aus den Kirchengemeinden Berlins so viele Vorbestellungen auf Karten eingegangen, daß das Olympiastadion mit seinen 80 000 Sitzplätzen kaum ausreichen wird, alle Besucher zu fassen. Bild dpa
droht fühlt, ist innerhalb der Einheitskrankenkasse theoretisch nicht möglich.
In der Praxis zeigt sich aber, daß das Finanzkollektiv der Krankenkasse dem zwischen Krankheit und Gesundheit Schwebenden den Weg zum Arzt erleichtert. Das Zusammentreffen der seelisch bedingten Krankheiten mit den Richtlinien der Krankenkasse hat, nach dem Wort von Dr. Hinrichs. „im ärztlichen Sprechzimmer eine neue Welt geschaffen“. Der Patient darf nur Forderungen an seine Kasse stellen, wenn er ernstlich krank ist. Er muß sich also bei allen Zweifeln über seinen wahren Gesundheitszustand zumindest im Unterbewußtsein schwerkrank fühlen. Es liegt nun im Wesen dieser modernen Leiden, daß sie sich verschlimmern, wenn der Patient in trüber Stimmung ist, sich ängstigt und um die Zukunft sorgt.
Es fällt dem Arzt dann besonders schwer, die Verkrampfung, in die sich der seelisch Leidende hineingesteigert hat, wieder zu lösen. Eine heilsame Aufmunterung, ein tröstender Zuspruch werden leicht als Böswilligkeit des Arztes ausgelegt, die Krankheit und das Recht auf eine Versorgung auf Kosten der Allgemeinheit nicht anzuerkennen.
Die Ärzte stellten deshalb immer wieder die Frage, ob die soziale Krankenversicherung in der Form, in der sie heute existiert, noch eine Berechtigung habe. Sie forderten aus vielen Gründen eine Neuordnung des Krankenwesens und eine Anpassung an die bestehenden Lebens- und Gesundheitsverhältnisse. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient werde immer mehr ein Dreiecksverhältnis Arzt — Patient — Kasse. Darin aber sehen sie die größte Gefahr für die Volksgesundheit. Dr. Herbert L. Schwader
„Wilder“ Hungerkünstler
WANNE-EICKEL. Die Erfahrung, daß man ohne Gewerbeschein nicht einmal
Keinen „Blauen Dunst“ können die Autofahrer in Zukunft den yerkehrs- polizisten mehr vormachen, wenn sie an gehalten und auf Alkoholeinfluß untersucht werden. Mit diesem Kunstbeutel werden Atemproben vorgenommen. Das neue Gerät besteht aus einer Glasröhre, die mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt ist. Der Atem eines Kraftfahrers, dessen Blutalkoholspiegel das gesetzliche Maß überschritten hat, färbt diese Flüssigkeit grün. Der Hauptzweck der neuen Erfindung wird darin liegen, festzustellen, ob eine genaue Blutuntersuchung notwendig ist.
Bild: Keystone
hungern darf, mußte ein Hungerküns.- ler in Wanne-Eickel machen. Er halte sich mit drei Flaschen Selterwasser und drei Tafeln Schokolade in einer Holzkiste zwei Meter tief unter der Erde eingraben lassen und wollte dort acht Tage aushalten. Das Ordnungsamt Wanne-Eickel stellte fest, daß nur sein Manager einen Wandergewerbeschein besitzt. In der folgenden Nacht mußte er seine Hungerkur abbrechen und unter behördlicher Aufsicht an die Erdoberfläche zurüekkehren.
Arbeit nördlich des Polarkreises
Deutsche Expedition in die Polarlichtzone
GÖTTINGEN. Das Institut für Ionosphärenforschung in der Max-Planck- Gesellschaft ist bereits jetzt mit den Vorbereitungen für dag internationale geophysikalische Jahr 1957/58 beschäftigt. Das Institut beabsichtigt, für die Dauer von 13 Monaten eine Expedition auszurüsten, die von einer temporären Station in der „Polarlichtzone" oder noch nördlich davon in Richtung zum Pol aus Beobachtungen vornehmen soll. Nach Möglichkeit soll die Station auf dem gleichen Längengrad wie Lindau liegen.
Wie Dr. Dieminger, der Direktor des Institutes, mitteilte, ist an Kingsbay auf Spitzbergen gedacht, das eine Reihe von günstigen Voraussetzungen für die Errichtung der Station und die Arbeit der deutschen Wissenschaftler bieten würde. Spitzbergen ist jedoch norwegisches Hoheitsgebiet, und es ist zur Zeit noch nicht entschieden, ob die norwegische Regierung ihre Zustimmung zu diesem Projekt erteilen wird.
Bereits in den nächsten Monaten werden die ersten internationalen Besprechungen über die Organisation des geophysikalischen Jahres in Den Haag und in Rom aufgenommen werden. In welchem Ausmaß eine deutsche Beteiligung möglich ist, hängt selbstverständlich davon ab, welche Sondermittel für diese Aufgaben zur Verfügung gestellt werden. Inzwischen kann jedoch festgestellt werden, daß die Finanzierung der Station des Lindauer Institutes als gesichert anzusehen ist. Neben Mitteln der deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft stehen
auch Gelder von anderer Seite und de* Institutes selbst zur Verfügung, so daß damit die schwierigste Hürde genommen sein dürfte.
Eine endgültige Entscheidung muß jedoch recht bald fallen, da das Institut für Ionosphärenforschung allein mit einer zweijährigen Bauzeit für die Geräte und Instrumente rechnet, die mitgenommen und in der Station aufgestellt werden sollen. Auch über di* Transportfrage sind bereits Verhandlungen aufgenommen worden. Es ist vorgesehen, die gesamte Expedition mit allem Zubehör auf dem Vermessungsschiff „Gauß“ des deutschen hydrographischen Instituts in den Norden zu transportieren. Auf einen Monat w : rd der Aufbau der Station veranschlagt.
Voraussichtlich zwei Wissenschaftler und vier Techniker des Lindauer Institutes werden dann 13 Monate nördlich des Polarkreises arbeiten. Etwa einen Monat werden anschließend die Abbauarbeiten dauern, so daß die Expedition insgesamt 15 Monate in Anspruch nehmen wird.
Der Direktor des Instituts für Ionosphärenforschung der Max-Planck-Gesellschaft Dr. Dieminger. ist Mitglied des deutschen vorbereitenden Ausschusses für das internationale geophysikalische Jahr und Mitglied der deutschen CCIR-Delegation. Er nahm an der Vollversammlung des CCIR (Conseil con- sultatif international des radiocom- munications) in London teil und wurd* zum Vorsitzenden der Arbeitsgrupp* für Solar-Terrestrische Beziehungen bestimmt.
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Zum 80. Geburtstag von Walter F. Otto
Als nach Kriegsende die Universität Tübingen wieder eröffnet und Walter r. Otto als Gastprofessor hierher berufen wurde, da hatte er das biblische Alter schon erreicht. Aber man kannte die bewundernswerte Frische des großen Humanisten, in dessen volles •chwarzes Haar sich auch heute erst wenige graue mischen, und wußte, was Btan von seiner ungebrochenen geistigen Energie erwarten durfte. Sein Kommen war um so erwünschter, als damals (und bis zur Berufung von W. khadewaldt) das gräzistische Ordinariat noch nicht wieder besetzt war. Wie
S shr Otto alle Erwartungen erfüllt, ja bertroffen hat, wissen alle zu würdi-
t en, die seinen Fachvorlesungen und eminarübungen und vor allem auch ••inen vielbesuchten Publika am „Dies •cademicus“ gefolgt waren oder sich bn Leibnizianum von ihm in die Ge- "ankenwelt der Antike einführen lie- en. Den größten Geistern zugewen- •t, besaß er, selbst enthusiastischen leistes, ergriffen von jeder echten Jröße, in ungewöhnlichem Maße die Fähigkeit, andere zu begeistern, ob er Sun über Homer und Hesiod, Pindar tod Kallimachos, Sokrates und Platon •prach oder die großen attischen Tra- Ciker sowie die Meister der alten Ko- ptödie, Aristophanes, Plautus, Terenz Behandelte. Daß Probleme des europäischen Humanismus und insbesondere die Götter der Griechen, zumal Apollon und Dionysos, aber auch grundsätzliche Fragen nach dem We- *en der antiken Religion, des Mythos Bnd der Mythologie einbezogen, klärend und deutend erfaßt wurden, Bängt mit seinem Hauptarbeitsgebiet Jnd seinem organisch sich aufbauen- flen Entwicklungsgang als Gelehrter •asammen.
Ottos Einkehr in Tübingen bedeu- **te die Heimkehr in die Universität,
an der er, der gebürtige Hechinger, einst sein Studium begonnen hatte, und zwar als Theologe. Aber bald ging er zur klassischen Philologie über, wo ihm der unvergeßliche Wilhelm Schmid strenger Lehrer und väterlicher Freund wurde. Der junge Student und der Professor fanden sich auch in der Kunst der edlen Musica zusammen, die für beide Lebenselement war und dauernd blieb. Schmid, der die große Begabung Ottos früh erkannte, bewog ihn, nach Bonn zu übersiedeln, wo er bei dem Dreigestirn Usener, Bueche- ler und Loeschcke eine reichere und tiefere Ausbildung finden könne in dem Gesamtbereich der griechischen und lateinischen Philologie und der davon untrennbaren Archäologie. Ottos ganzes Schaffen zeigt, wie fruchtbar diese Bonner Zeit sich ausgewirkt hat. Zunächst überwog Buechelers Einfluß und lenkte zum Studium des Lateinischen und der italienischen Dialekte. 1898 wurde Otto Mitarbeiter am „Thesaurus linguae Latinae“ in München, wo er sich 1905 habilitierte. Aber die strenge sprachliche Zucht verband sich bald — und hier schlug Useners Vorbild durch und lenkte Ottos Anfänge auf ein fruchtbares Feld — mit religionsgeschichtlichen Fragestellungen. Ausgezeichnete Beiträge in Fachzeitschriften warfen neues Licht auf römische Gottheiten, Feste, Kulte.
In Wien, wohin Otto 1911 als Extraordinarius berufen war, entstand die Arbeit über „Römische Sagen“. Darin trat er der herrschenden Meinung, das phantasiearme Rom habe sich nach griechischen Mustern eine halbgelehrte Mythen- und Sagenwelt erst künstlich zurechtgezimmert, mutig entgegen und bahnte eine Entwicklung an, die Dezennien später sein Frankfurter Schülerkreis fortführen sollte. Dahin war Otto, nach einem Ordinarienjahr in
Basel, 1914 berufen worden, und hier hat er 20 Jahre lang mit größtem Lehrerfolg gewirkt. Namen wie Franz Altheim und Carl Koch und die von Otto begründeten „Frankfurter Studien“ legen beredtes Zeugnis ab. Nicht bedeutungslos ist es, daß Otto die schöne Reihe der „Religiösen Stimmen der Völker“ im Diederichsschen Verlag als Herausgeber leitete. Denn daß das Vergleichen nicht nur den Blick für religiöse Urphänomene weitet, sondern gerade auch für das Spezifische der einzelnen Kulturreligionen schärft, das war dem einstigen Schüler Useners nicht fremd, und so hat er sich als Forscher weit umgetan Im Bereich alter und neuer Religionen, ohne einer methodisch ungezügelten Allerweltsvergleicherei zu verfallen. Das 1923 erschienene Buch „Die Manen“ geht zwar von den Römen aus, um Urformen des Totenglaubens zu erkennen, bezeichnet sich aber schon im Untertitel als „Untersuchung zur Religion der Griechen, Römer und Semiten und zum Volksglauben überhaupt". Diese weitblickende Aufgeschlossenheit hat Otto auch bewogen, Leo Frobenius den Weg an die Frankfurter Universität zu ebnen und die Widerstände seiner Fakultät zu überwinden, die dem kühnen Völkerkundler mit Skepsis begegnete: auch Fakultäten können, wie flgura zeigt, irren!
Immer stärker rücken nun aber die Griechen und ihre Götter in den Mittelpunkt von Ottos geistigem Ringen. Ein Aufsehen erregender Berliner Vortrag des damals 51jährigen „Die altgriechische Gottesidee“ bahnt den Wendepunkt an und führt zum Höhepunkt seines Schaffens, der mit den mehrfach aufgelegten großen Werken „Die Götter Griechenlands“ (1929) und „Dionysos, Mythos und Kult“ (1933) erreicht ward. Hier ist nun jene geistesgeschichtliche Deutung gewonnen, die uns ein würdigeres Bild der Göt
ter im Spiegel des griechischen Geistes vermittelt, als es die „historische Methode“ mit ihren Mitteln erarbeiten konnte. So nahe ihr Otto zunächst von Bonn stand, unter dem frühen Erlebnis Nietzsches und der dauernden Tiefenwirkung Hölderlinscher Gedankengänge gewann er eine neue Sinndeutung der Griechengötter, die aus der Ehrfurcht vor ihnen erwuchs, aus dem Glauben an sie als höchste geistige Realitäten, als seiende Mächte gleichen Ranges, wie es die ewigen Werke ihrer Kunst, ihrer Dichtung, ihrer Weisheit seien. Diese Werke Ottos, die auch vom hinreißenden Zauber einer vornehmen, wahrhaft künstlerischen Darstellungsgabe getragen sind, wird auch derjenige zu den Höchstleistungen unserer Wissenschaft zählen, der seinen methodischen Standpunkt nicht in vollem Umfang zu teilen vermag. Wie stark ihre Wirkung in der Fachwelt war, zeigt sich allenthalben, und weit über sie hinaus reicht ihre Wirkung extra muros und bringt eine Vertiefung des humanistischen Gedankens. Otto selbst hat in manchen Schriften und Reden — ich nenne nur „Der europäische Geist und die Weisheit des Ostens“, „Der junge Nietzsche“, „Griechische Göttermythen bei Goethe und Hölderlin", „Das Vorbild der Griechen“ — unermüdlich und mit Erfolg (auch in dem von ihm herausgegebenen „Jahrbuch für geistige Überlieferung“) für eine der Stütze des Christentums nicht bedürftige Erneuerung des europäischen Humanismus gewirkt.
Daß dieser große Gelehrte und Lehrer, der eine Künstlernatur und ein gütiger Mensch von bezwingender Schlichtheit des Wesens ist, zu uns kam, aus Königsberg, wo er seit 1934 gelehrt hatte, und hier lehrt, ist eine Gunst des Schicksals für unsere Universität und das geistige Leben unseres Landes. Daß Otto, der selbst seinen ganzen Bücherbesitz verloren
hatte, auch im Interesse der Büchernot unserer Nachkriegsstudenten sidl energisch für die Arbeit der „Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft“ einsetzte, sei nur noch erwähnt als eia Sonderfall seiner Hilfsbereitschaft für unsere akademische Jugend.
Möge es ihm noch geraume Zeit vergönnt sein, in gewohnter Geistesfrisch* und verschont von Altersgebresten unter uns zu wirken: der Dank wird nicht ausbleiben. Möge aber auch ein anderer Wunsch sich erfüllen: daß sich ein Verleger finde, der die frühen Aufsätze und das zerstreute Einzelgut von späteren Broschüren zu einem Bande „Kleiner Schriften“ zusammenfaßt und zu neuer Wirksamkeit bringt!
Prof. Dr. Otto Weinreich
Kulturelle Nachrichten
Für ein „Deutsches Haus“ in der Pariser „Universitätsstadt“ der Studenten, die Citä Universitaire, wurde im Beisein des französischen Hohen Kommissars Botschafter FranSois-Poncet und des Chefs der deutschen diplomatischen Mission, der Grundstein gelegt.
Die Naturtheater Reutlingen und Hayingen, Kreis Münsingen, eröffnten am Wochenende ihre diesjährige Spielzeit. In Reutlingen wurde Wilhelm Hauffs „Lichtenstein“ in dramatischer Neubearbeitung von Heiner Mey, Dramaturg am Landestheater, gespielt.
Der „deutsche Filmpreis 1954“ wurde anläßlich der Eröffnung der IV. internationalen Filmfestspiele Berlin im Gloria-Palast am Kurfürstendamm von Bundesinnenminister Dr. Schröder festlich verliehen. Als „bester deutscher Spielfilm 1954“ wurde „Weg ohn Umkehr“ mit dem Wanderpreis der „Goldenen Schale“ ausgezeichnet. Den Preis als beste Schauspielerin erhielt Ruth Leuwerik.
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