„Sozialdemokratie oder keine Demokratie“
Ollenhauer auf dem südwestdeutschen Parteitag in Reutlingen / Kritik an der Außenpolitik
„Marx in die Ahnenreihe“
Der SPD - Bundestagsabgeordnete Fritz Erler, der auf dem Landesparteitag am Sonntag über grundsätzliche Anliegen referierte, befaßte sich mit der Fortentwicklung seiner Partei. Da die gesellschaftliche und wirtschaftliche Struktur in der Mitte des 20. Jahrhunderts wesentlich anders sei wie vor 100 Jahren, müsse die S daldemokratie ihre Zielsetzung una Organisation ebenso wie ihre Begriffe und Schlagworte der neuen Umwelt anpassen. Marx dürfe zwar niemals aus der sozialistischen Ahnenreihe gestrichen werden, in der Treue zu seinem Lebenswerk sollte die SPD aber mit der gleichen wissenschaftlichen Objektivität, wie Marx dies einst getan habe, die Gesellschaftsstruktur der Neuzeit untersuchen.
Erler nannte als das letzte Ziel seiner Partei: Gegen jede Art von Ausbeutung kämpfen. Die SPD vertrete grundsätzlich keine Gruppeninteressen, sondern die Belange all derer, die keine Privilegien zu verteidigen hätten.
Der ordentliche Parteitag des SPD- Bezirks Südwest in Reutlingen vereinigte nach dem Zusammenschluß der drei südwestdeutschen Parteibezirke zum ersten Male den neuen vergrößerten Verband. Vor den Delegierten legte daher der Fraktionsvorsitzende der SPD und Vorsitzende des Finanzausschusses im baden- württembergischen Landtag, Dr. h. c. Alex Möller, die Grundsätze dar, von denen sich die Fraktion nach dem Zusammenschluß der Länder im Stuttgarter Landtag habe leiten lassen.
Seinen Ausführungen stellte Möller voran, daß die gesamten Möglichkeiten des politischen Wirkens im Lande abhängig und begrenzt seien von den finanzpolitischen Maßnahmen des Bundes. Nehme der Bund eine zu hohe Quote des Steueraufkommens für sich in Anspruch, so stehe für wichtige landespolitische und kommunalpolitische Aufgaben eben entsprechend weniger Geld zur Verfügung. Gegenwärtig sei die Konstruktion der Finanzverfassung für Bund, Länder und Gemeinden — also für alle Beteiligten — unglücklich. Möller setzte sich für eine echte „Steuerverbundwirtschaft“ ein, die den Bund nicht einseitig bevorzuge.
Als Grund für das Verbleiben der Sozialdemokratie in der Regierungskoalition nach der Bildung des Südweststaates und nah dem Rücktritt Reinhold Maiers gab Möller an, daß der Aufbau des Landes bei der Kräfteverteilung im Parlament nur über eine Beteiligung an der Koali-
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REUTLINGEN (Eig. Bericht). Der erste Vorsitzende der SPD, Erich Ollenhauer, kritisierte am Samstagabend in der Reutlinger Jahn- Turnhalle aufs schärfste die bisherige Außenpolitik der Bundesregierung. Die sogenannte „Politik der Stärke“, wie sie der Bundeskanzler vertrete, habe völlig Schiffbruch erlitten. Zur innenpolitischen Entwicklung bemerkte der SPD-Vorsitzende: „Entweder wird die neue deutsche Demokratie Sozialdemokratie sein oder sie wird im Zuge der Zeit nicht bestehen können“.
Die SPD vertrete seit 45 und noch heute konsequent die Ansicht, daß die Spannungen in der Welt durch Verhandlungen gemildert werden müssen. Das sei keine Hilfsstellung für die Sowjets, sondern realistische Politik. Jetzt setze sich allmählich
tion mitbeeinflußt werden konnte. In diesem Zusammenhang stellte der Fraktionsvorsitzende fest, daß nach Auffassung seiner Partei nach den Sommerferien zuerst das Landesverwaltungsgesetz bearbeitet und erst dann die Beratung einer künftigen Gemeinde- und Kreisordnung möglich sei.
Besonderes Interesse fanden die Ausführungen Möllers, der als Vorsitzender des Finanzausschusses einen Einblick in diese Dinge besitzt, über die Aufblähung des Behördenapparates. Möller teilte nämlich mit, daß zwar die Regierung in Stuttgart nur über zwei Drittel des Ministerialper- sonals der ehemaligen drei Länder
Den Tätigkeitsbericht der Bezirksgruppe Südwest erstattete der Landesvorsitzende Erwin S c h ö 11 i e. Er hob hervor, daß auch in einer Koalition, die ja keine Ehe auf Dauer, sondern nur eine Zweckgemeinschaft sei, jede Partei ihre Eigenständigkeit bewahren müsse.
Die Entwicklung der Bezirksorganisation habe hinsichtlich des Mitgliederstandes leider rückläufige Tendenz aufzuweisen. Von Ende September 1952 bis Ende Dezember 1953 sei die Zahl der Mitglieder von 38 899 auf 36 793 zurückgegangen. Der Anteil der Frauen betrage jetzt 14 Prozent; Arbeiter stellten 44 Prozent der Mitglieder, Angestelle 21 Prozent, Rentner und Hausfrauen 18 Prozent.
Der Bundestagsabgeordnete Paul aus Stuttgart forderte in der Diskussion eine stärkere Erfassung der Frauen durch die Partei. Dr. Gotthilf Schenkel, Eßlingen, unterstrich, daß die christliche Ethik stets das Leitmotiv der SPD bleiben müsse, die das Ziel habe, den „göttlichen Willen auf der Erde zu verwirklichen“.
Unter den Teilnehmern an dem Parteitag befanden sich die baden- württembergischen Minister Dr. Hermann Veit, Fritz Ulrich und Er- min Hohlwegler, sowie der Regierungspräsident Dr. Wilhelm Schön- e c k und der Bundestagsabgeordnete Professor Dr. Carlo Scbmid.
In einer einstimmig angenommenen Entschließung begrüßte der Parteitag
überall in der Welt die Erkenntnis durch, daß internationale Verhandlungen durch Drohen mit der militärischen Stärke hur gefährdet würden. Man müsse sich doch darüber klar sein, daß Deutschlands Existenz mit der Verhinderung eines neuen Weltkriegs stehe oder falle. Für diese Verhinderung müßten deshalb die politischen Kräfte eingesetzt werden. Das sei für Deutschland wichtiger, als daß ein dritter Weltkrieg gewonnen wird.
Die Konzeption Dr. Adenauers biete aus diesem Grunde, so behauptete der SPD-Vorsitzende, nicht die Sicherheit, die der Kanzler verspreche und die von einer anderen Politik erwartet werden könnte. Die SPD werde daher auch der EVG hartnäckigen parlamentarischen Widerstand entgegenstellen. Im übrigen habe die EVG nach der Entwicklung in den Nachbarstaaten kaum mehr Aussicht auf Verwirklichung.
verfüge, daß aber daneben in den vier Regierungspräsidien möhr Personal vorhanden sei als zuvor in den Ministerien aller drei Länder und der Landesbezirksverwaltung Nordbaden zusammen. In der Frage der Regierungsbezirke sei die SPD neben ihrer Kritik am Personalbestand ferner der Auffassung, daß die Grenzen nicht nach den ehemaligen ziemlich zufälligen Landesgrenzen ausgerichtet werden sollten.
Für die kommenden Landtagswahlen setzte sich Alex Möller dafür ein, daß jeder Abgeordnete sich in einem Wahlbezirk den Wählern stelle. Die „Bequemlichkeit der Landesliste“ sei von Übel.
Vor seinen 3000 Zuhörern führte Ollenhauer dann aus, daß Freiheit und Gleichberechtigung mit den Nachbarnationen nur von einem Volk gefordert werden können, das diese Maximen im eigenen Hause verwirklicht habe. Die Freiheit sei bei den bürgerlichen Parteien nicht gewährleistet. Sie werde gefährdet nicht nur im offenen Kampf, sondern durch die Atmosphäre von „Muffigkeit und Dumpfheit". Schon wieder werde die Furcht als Mittel der Politik verwendet.
Das wichtigste Ziel einer westdeutschen Außenpolitik müsse die Wiedervereinigung mit Mitteldeutschland bleiben. Davon werde eine westdeut- Regierung auch nicht durch den erfolglosen Ausgang der Berliner Konferenz entbunden. Sie müsse im Ge-
Schöttle wiedergewählt
Der bisherige erste Bezirksvorsitzende Erwin Schüttle wurde von den Delegierten mit 260 von insgesamt 281 Stimmen wiedergewählt. Zweiter Vorsitzender wurde Alex Möller mit 265 und dritter Rudolf G e h r i n g mit 243 Stimmen.
genteil nun mit verdoppelter Anstrengung danach streben, die deutsche Wiedervereinigung auf der Tagesordnung der internationalen Politik zu halten. Zur Saarfrage bemerkte Ollenhauer, der Begriff „Euro- päisierung“ sei eine Art „politisches Penicillin“ und werde als „neues Etikett für eine schlechte Sache“ gebraucht.
Auf der Großkundgebung sprachen neben Ollenhauer der Bezirksvorsitzende Erwin Schüttle sowie Reutlingens Oberbürgermeister, der SPD- Landtagsabgeordnete Oskar Kalbfell. Schöttle wies darauf hin, daß weite Kreise der westdeutschen Bevölkerung jetzt, nachdem es ihnen besser gehe, vergessen hätten, daß sie ihr Wohlergehen letzten Endes den Bemühungen der Sozialdemokratie verdanken. Kalbfell forderte einen großzügigen und modernen Ausbau des Schulwesens, da hier bereits der Kampf um die innere und äußere Freiheit beginne.
Kleine, Weltchronik
Audi Dänemark hebt Visumzwang auf. Dänemark hat am Samstag — wie am Vortage seine skandinavischen Nachbarn Schweden und Norwegen — den Visumzwang für Besucher aus der Bundesrepublik aufgehoben.
Lenin-Orden für die Ukraine. Zum 300. Jahrestag der Vereinigung der Ukraine mit Rußland verlieh das Präsidium des Obersten Sowjets der Ukraine den Lenin-Orden.
Malan 80 Jahre alt. Der südafrikanische Ministerpräsident Malan ist am Samstag 80 Jahre alt geworeden.
Rhee erhielt schwache Mehrheit. Die liberale Partei des südkoreanischen Staatspräsidenten Rhee hat bei den Parlamentswahlen eine schwache Mehrheit von 33 Sitzen erreicht.
Ungewöhnliche ’ Schneefälie. In einem Teil des Alpen-Gebietes ist wieder Winter geworden. Der Brenner-Paß und Südtirol haben am Samstag zum
Schöttle: Koalition — eine Zweckgemeinsdiaft
die Aussprache in der Partei, die dazu beitrage, Weg und Ziel der modernen Sozialdemokratie in der modernen Gesellschaft zu bestimmen. Die Delegierten versprachen, sich dafür einzusetzen, daß die SPD die wissenschaftlichen Erkenntnisse der gesellschaftlichen Entwicklung bei ihren Entscheidungen beachtet.
Vertriebene sind besorgt. Die Entwicklung in der Saarfrage werde von den Heimatvertriebenen mit ernster Sorge verfolgt, sagte der Vorsitzende des Bundes vertriebener Deutscher, Dr. Linus Kather (CDU) am Samstag vor Heimatvertriebenen in Freiburg. Jede Aufgabe des Rechts auf die Saar schaffe ein Präjudiz für die Oder- Neiße-Linie. Die Heimatvertriebenen könnten aber niemals ihre Heimat preisgeben.
Balke auf Amerikareise. Auf Einladung des Generalpostmeisters der Vereinigten Staaten ist Bundespostminister Balke nach den USA gereist, um die Neueinrichtungen für rationelle Betriebsführung im amerikanischen Post- und Fernmeldewesen zu studieren.
Hilferuf aus Brasilien. Der brasilianische Bischof Pietrulla hat in Münster eine Rundreise durch die Bundesrepublik begonnen, auf der er für die not- leidende Bevölkerung seiner Diözese sammeln will.
Landespolitik im Rahmen des finanziell Möglichen
Rechenschaftsbericht des SPD-Bezirks Südwest / Möller: Personalaufblähung
WIK 1 SCHAU
Für 3,5 Milliarden DM
HEIDENHEIM. Bundeswinschatiö- minister Professor Dr. Ludwig Erhard erklärte am Samstagabend vor Mitgliedern der Industrie- und Handelskammer in Heidenheim, wenn sich die' deutsche Ausfuhr weiterhin so günstig entwickle, wie es zur Zeit der Fall sei, könne 1954 mit einem Überschuß von 3,5 Milliarden gerechnet werden. Auch der Inlandsmarkt laufe ohne nennenswerte Störungen. Zur Zeit habe die Bundesrepublik auf allen Märkten eine aktive Bilanz. Der Minister sprach sich erneut für die Konventierbarkeit der Währungen aus und betonte, daß eine Radikalkur in dieser Frage notwendig sei, um die Länder aus ihrer Abschirmung herauszuholen. Die Europäische Zahlungsunion sei an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit.
Erhard vertrat die Ansicht, daß ein freier Währungsaustausch eine neue Phase der wirtschaftlichen Entwicklung einleiten werde, die mit dem Beginn der freien Marktwirtschaft im Jahre 1948 verglichen werden könne. Auch eine weitere Ausdehnung der deutschen Liberalisierung, die derzeit 93 Prozent betrage, sei notwendig. Schließlich müsse mit einem stufenweisen Abbau der Zölle in Europ» endlich ernst gemacht werden.
Günstige Entwicklung der Lebensversicherungen
HAMBURG. Das Neugeschäft der Lebensversicherungsunternehmen im Bundesgebiet hat sich auch im vergangenen Jahr günstig entwickelt. Wi» der Vorsitzende des Verbandes der Lebensversicherungsunternehmen, Generaldirektor Dr. F r e 1 s (Göttingen), am Samstag auf der Jahrestagung de* Verbandes in Hamburg mitteilte, wurden 1953 rund 3,7 Millionen Versicherungen mit einer Versicherungssumme von 5,1 Milliarden DM abgeschlossen. Das entspricht wertmäßig einer Zunahme gegenüber dem Vorjahr um fast zehn Prozent. Dabei stieg der Anteil der Großlebensversicherung an der Gesamtversicherungssumme des Neugeschäfts auf 70 Prozent gegenüber 68 Prozent im Jahre 1952. Die durchschnittliche Versicherungssumme erhöhte sich beim Neuzugang im Groß- lebensgeschäft von 4237 DM auf 4671 D-Mark, in der Kleinlebensversicherung von 585 auf 615 DM.
Dr. Frels erklärte die Erhöhung der Versicherungssumme mit dem Wunsch vieler Versicherungsnehmer, ihren Versicherungsschutz dem steigenden Lebensstandard in der Bundesrepublik anzupassen.
siebten Male seit Frühlingsanfang Schneefälle gemeldet.
Audi Ärzte kritisieren. 500 Ärzte der Bundesrepublik kritisierten in Bad Kts- singen bei einer Arbeitstagung de# Verbandes der Ärzte Deutschland# (Hartmannbund) die Auswirkungen der Steuerreform. Es sei untragbar, daß der Arzt als Ireier Beruf nicht nur da# Risiko der eigenen Lebensversorgung habe,' sondern auch noch eine wesentlich höhere Steuerlast zu tragen hab« wie die Beamten.
Fallschirmjäger unter sich. Die baden- württembergische Kameradschaft de* Traditionsverbandes ehemaliger Fallschirmjäger traf sich am Wochenend# in Konstanz. Der Verband hat kein# politischen Ziele, sondern widmet sich dem Vermißtensuchdienst.
Entente cordiale. Der französisch* Außenminister Bidault feierte anläßlich des 50. Jahrestages der Entente cordiale die von allen Umstürzen unberührt gebliebene französisch-britisch# Freundschaft.
ROMAN VON MARY BVRCHELL
Copyright by Di. Paul Herzog, Tübingen — Durcii Verlag v. Graberg & Gärg, Wiesbaden Berechtigte Übertragung: H passow-Kernen
(28. Fortsetzung)
Doch ein rascher Blick aufs Datum beruhigte Ke. Geraldine hatte unverzeihlich lange, gewartet, ehe sie dafür sorgte, daß dieser Brief die richtige Empfängerin erreichte, und Stephen mußte ihn geschrieben haben, ehe er im Besitz ihrer Nachricht gewesen war. Dann würde es wohl sein erster freundschaftlicher und besorgter Brief auf die Mitteilung von Ihrem Unfall hin sein.
Und dann war ihr, als träfe sie schon der •rste Satz wie ein Schlag vor den Kopf.
„Liebste Thea“, schrieb Stephen in seiner krausen, aber durchaus leserlichen Handschrift. „willst Du meine Frau werden?“
Es dauerte mehrere Minuten, ehe sie sich soweit gefaßt hatte, daß sie weiterlesen konnte. Mochte Lin denken, was er wollte, wenn er sie so mit dem zerknüllten Blatt zwischen den Fingern dasitzen sah. Irgendwo tief im Innern sagte ihr eine Stimme, sie dürfe sich nicht so völlig gehen lassen — die Verwunderung und Betroffenheit und Freude nicht so offen zeigen, die dieser eine Satz in ihr hervorgerufen hatte. Noch stärker an sich zu halten vermochte sie nicht. Glücklicherweise schien Lind- say in diesem Augenblick mit etwas beschäftigt, was draußen in der Landschaft vor sich ging.
„Diese Frage wird Dich wohl ziemlich unerwartet treffen“, schrieb Stephen, „und es mag Dir komisch Vorkommen, daß ich sie stelle, ehe ich Dir sage, mit welcher Bestürzung und Besorgnis wir von Eurem Unfall gehört haben. Aber in Tat und Wahrheit geht mein Antrag vor, Liebste — schon rein chronologisch, denn
ich wußte schon lauge vor dem Unfall, daß ich Dich zur Frau wollte. Ich wollte Dich schon am Abschiedsabend fragen — ach, überhaupt schon an so manchem Abend vorher! Jetzt bin ich mir wegen dieser Unterlassung richtig böse. Aber Du hast immer wieder betont — so rührend eindrücklich betont, Schatz —, daß Du auf eigenen Füßen stehen willst und kannst, deshalb fürchtete ich, wenn ich vom Heiraten spräche. Du könntest dies nur als Mitleid und Besorgtheit um Deine Zukunft auffassen Hättest Du Dir und der Welt einma] bewiesen, daß Du Dich ganz unabhängig fortbringen könntest, dann würdest Du eher geneigt sein, mich anzuhören. Auf jeden Fall wollte ich Dir die Möglichkeit geben, Dich ohne praktische Erwägung zu entscheiden
Aber wie sehr wünsche ich jetzt, ich hätte damals gesprochen! Beim Gedanken daran, daß Du einsam und krank daliegst, werde ich schier rasend. Ich versuchte, meine Mission rückgängig zu machen und die Erlaubnis zur sofortigen Heimkehr zu erwirken, sowie ich von Deiner Lage erfuhr (und die Nachricht von Lind erreichte uns leider auch mit einer Verspätung von vierzehn Tagen, weil Mutter und ich dauernd unterwegs waren und die Post in New York auf uns wartete), leider ohne Erfolg. Meine Firma lehnte es ab, statt meiner jemanden andern zu schicken, nachdem alles umständlich für meine Person arrangiert worden war. Von ihrem Standpunkt haben sie freilich recht. Aber das macht mir alles so viel schwieriger, weil ich nicht mündlich mit Dir redln kann
Und so bitte ich Dich, Liebste: versuch Dir vorzustellen, ich sage das alles so, wie ich es sagen würde, wenn ich jetzt vor Dir stünde und Dir in die Augen schaute. Ich möchte, daß Du meine Frau wirst — habe es von Anfang wollen. Jetzt, wo Du krank bist, möchte ich das Recht haben, für Dich zu sorgen, darum hat es keinen Sinn, länger zu warten. Ich hoffe, was ich Dir früher geschrieben habe, wird Dich davon überzeugen, daß ich versuchte, Deinen Willen nach Unabhängigkeit zu respektieren und mich abwartend zu verhalten. Aber jetzt
muß sich jemand Deiner annehmen, und dieser Jemand darf niemand anderer sein als ich.
Mutter schreibt Dir ebenfalls und macht Dir den Vorschlag, nach Deiner Entlassung aus dem Spital in unser Häuschen zu Emma überzusiedeln, und als Deine Familie zu betrachten und uns die Verantwortung für Dich in jeder, also auch in önanziellei Beziehung zu überlassen. Sie wird diese Dinge viel taktvoller zu sagen wissen als ich. Von mir sollst Du nur wissen, daß ich Dich liebe und heiraten möchte.
Schreib mir, sobald Du kannst, Liebste — oder telephoniere mir, wenn das vom Spital aus geht. Aber sage nicht nein, weil ich nicht weiß, was das bedeutet.
Innige Grüße an Dich — aber für Lin (der Teufel hole ihn) keine guten Wünsche, bevor ich weiß, ob er an dem Unfall schuld ist oder nicht Dein Stephen “
Mit großer Sorgfalt legte Thea den Brief wieder zusammen, als käme es darauf an, ihn genau wieder so zu falten, wie Stephen dies getan hatte. Dann steckte sie die Blätter wieder in den Umschlag, warf einen schnellen Blick auf Lin, um sicher zu sein, daß er auch weiterhin von etwas anderem abgelenkt blieb, und zog dann Mrs. Dorleys Brief hervor. Dieser war viel kürzer, aber, wie der von Stephen, ging er geradezu aufs Ziel los.
„Mein liebes Kind“, schrieb Mrs. Dorley, „die Nachricht von Eurem Unfall hat mich in große Angst und Sorge gestürzt, doch hoffe ich, daß dieser Brief Sie bereits als Rekonvaleszentin antrifft. Sie hätten bestimmt früher von uns gehört, wären wir nicht gerade unterwegs gewesen, als Lins Brief ankam: doch dies ist nun nicht mehr wichtig
Stephen hat mir angedeutet, in welchem Sinne er Ihnen schreibt, und so sollen Sie denn auch von meiner Seite wissen, daß ich mir nichts Lieberes denken kann, als Sie zur Schwiegertochter zu haben. Selbstverständlich will Ich Sie in keiner Weise beeinflussen, well diese Frage allein Sie und Stephen angeht. Doch würde ich mich von ganzem Herzen freuen, wenn Sie miteinander einig würden.
Was ich ausdrücklich hervorheben möchte, Ist, daß wir Sie schon ganz zu unserer Familie
zählen; sollte es zu Unstimmigkeiten zwischen Ihnen und Geraldine kommen — oder sollten Sie aus anderen Gründen keine Lust haben, zu ihr zurückzukehren, so betrachten Sie bitte unser Heim als das Ihre und richten Sie sich bei uns ein, sobald man Sie aus dem Spital entläßt. Ich schreibe gleichzeitig an Emma und bereite sie auf Ihr Kommen vor. Ferner gebe ich ihr die Anweisung, Ihnen von dem Geldbetrag, den ich ihr zurückgelassen habe, zur Verfügung zu stellen, was Sie davon brauchen. Bitte verzeihen Sie meine Offenheit in dieser Geldfrage, doch ich würde mir Gewissensbisse machen, wenn Sie bloß aus falscher Zurückhaltung unsererseits in Not und Bedrängnis gerieten.
Machen Sie sich es also gemütlich bei uns, liebes Kind, ob Sie nun Stephens Werbung annehmen oder nicht: ich hoffe, wir werden früher als vorausgesehen zurück sein und Ihnen die Genesungszeit angenehm zu machen suchen. Werden Sie bald gesund und grüßen Sie mir Lin. Ich schreibe ihm ein andermal
Mit herzlichsten Grüßen. Ihre „
Jeanette Dorley.
lachdem sie den Brief gelesen, starrte sie h lange darauf nieder, als enthielte er ner noch etwas, das ihre Aufmerksamkeit selte. Von einer Minute zur anderen ver- ob sie die Rückkehr zur Gemeinschaft mit i, der ein Recht hatte, wenigstens andeu- gsweise zu erfahren, was die Briefe ent" lten. Was sollte sie ihm aber sagen? wie 1 sollte sie vor ihm geheimhalten? Wenn re Schwester ihm schrieb, ehe sie noch von Heirat erfahren, und dabei auf Stephens rzensangelegenheiten zu sprechen käme, ter normalen Umständen würde sie zwar Reicht nichts davon verlauten lassen, doen sie Thea so dringend eingeladen hatte, rde sie ihm wohl den Grund dieser Einung genauer darlegen wollen Väre es indessen nicht viel besser und ver- lftiger, sie sagte ihm nichts und er " re vielleicht nie etwas von der tragiscnen nplikation? Denn tragisch mußte man sie inen, dies erkannte Thea letzt mit