Die russische Bergpredigt
L. N. Tolstois „Dos Licht scheinet in der Finsternis“ in Stuttgart
Am 20. November 1910 ist der russische Graf Leo N. Tolstoi auf der kleinen Bahnstation Astapowo wie ein Pilger nach dem Unerreichbaren gestorben. Er hatte seinen großen Besitz Jasnaja Pol- Jana, Frau und zwölf Kinder freiwillig verlassen. Seit dreißig Jahren hatte ihn der Zwiespalt zwischen seiner Lehre und seinem Leben unaufhörlich gequält. Das Wort des Jesus der Evangelien hatte ihn, der so wie alle Aristokraten Rußlands seine Tage verbrachte mit Lesen, Schreiben, Veranstaltung von Bällen und Jagden, Tennis- und Krok- ketspielen, wie einen der Jünger des Herrn tief getroffen und erleuchtet: „Verkaufe alles, was du hast und gibs den Armen ... und Deiner ist das Reich Gottes.“
Die Geschichte seiner Bemühungen um die Verwirklichung des jesuanischen Wortes erzählt das Drama (ein unvollendetes Nachlaßwerk) „Das Licht scheinet in der Finsternis“. Mag es auch kein Drama weder im naturalistischen noch im Sinne eines Diskussionsstückes sein, Jedenfalls ist es das gewaltigste und erschütterndste Bekenntnisdrama der ganzen modernen Literatur und läßt alles hinter sich, was vorher ein Ibsen und nachher ein Shaw an aufrührerischen Stücken wider und für die Möglichkeiten des Christentums in der Moderne geschrieben haben.
Heute, 1954, hören wir Tolstois Bekehrung und Erleuchtung nicht mehr ästhetisch und theologisch allein, da seine Lehre Lenin auf eine Weise in Rußland verwirklicht hat, die den Grafen erschauernd zum Vorläufer und zum Widerpart des sowjetischen Kommunismus stempelt. Der Wallfahrtsort Jasnaja Polnaja, wohin die Tolstowzy einstens pilgerten, haben die Sowjets zu einer Vorhalle der Kreml-Diktatur erklärt. Das ist eines von vielen Rätseln, die aus Rußland kommen.
Was hat der Nikolaj Iwanowitsch des Stückes geglaubt? Der, über den Frau, Kinder und Verwandte den Kopf schütteln, da sie ihn nicht verstehen können und nicht wissen, ob er ein Verrückter oder ein Heiliger ist? 1,15 legt er sich im Gespräch mit dem ihm heimlich ergebenen Priester der orthodoxen Kirche fest: Er entpuppt sich als verspäteter Liberaler, der Renan und Strauß und das Christentum der Vernunft gegen die Dogmen der Kirche ins Feld führt. An den Wundern, am Kreuz und an der Auferstehung bezeugt sich ihm nichts, gar nichts, alles was der Kindeseinfalt entgegensteht, bringt nur die Menschen von der eigentlichen Wahrheit der Jesu-Verkündigung ab und verwirrt sie. Die Vernunft gebietet, solche altgewohnten Vorstellungen, solche „abgeschmackten, ungeheuerlichen Dinge“, mit der die Kirche ihre Gläubigen versorgt, endlich abzutun. Das Licht, das in diese religiöse Finsternis leuchtet, ist das Gesetz Jesu, „die Lehre von der Liebe und der Wahrheit“. Tolstoi verquickt also den älteren westeuropäischen Liberalismus mit einer mystischen Liebesreligion. Auf alle Einwände der geliebten und verzweifelten Gattin, das sei doch kein Christentum, antwortet er immer nur mit der unbelehrbaren Erleuchtung des Sektierers, ihr versteht das nicht, ihr wollt euch um die Entscheidung drücken, die das nur buchstäblich zu erfüllende Wort Jesu verlangt. Die Autorität, die ihn leitet, ist das eigene Gewissen und aus den Worten der Bergpredigt trifft ihn mit unversöhnlicher Schärfe das Gebot der lutherischen Nächstenliebe: „Und die Hauptsache ist, daß mein Leben nicht mir und das deinige nicht dir, sondern Gott gehört, der uns gesandt hat und der von uns verlangt, daß wir nach seinem Willen leben sollen ...“ Und daraus folgt mit der Härte des zweimal zwei ist vier: Alle Menschen sind meine Brü
der, sind Gotteskinder. Die Familie steht mir nicht näher als einer meiner leibeigenen Bauern. Wenn die Bauern 12 und mehr Stunden schuften, um der gräflichen Familie ein Leben in Luxus und Freude, in Kunst und Schönheit zu ermöglichen, dann handelt der, der dies als gottgewollte Ordnung hinnimmt, tief unchristlich, tief unbrüderlich, tief egoistisch. Ihm ist noch nicht aufgegangen, was das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg fordert (I, 20).
Daraus folgt: Alles Eigentum ist Diebstahl. Jesus aber gebietet, wir sollen keine Diebe sein, nicht vom Geraubten leben. Um der Wahrheit willen, Nikolaj Iwanowitsch will seinen ganzen Besitz unter die Bauern aufteilen, denen er eigentlich gehört, weil sie die Winzer im Weinberg sind. Mit diesem Vorsatz erfüllt er zugleich das oberste Gebot der Hingabe des eigenen Lebens für den Nächsten. Nikolajs resolute Schwester holt in ihrer Not die Kirche zur Hilfe. In II, 12 weist Pater Gerassim auf die Autorität der Kirche und der Väter hin und wirft dem Sektierer Hochmut und Eigendünkel vor. Die Szene läuft anders aus als die in den Brüdern Ka- ramasoff des Dostojewski: Nikolaj schlägt den Einwand des Paters, daß Eigentum kein Diebstahl sei und von der Kirche gesegnet werde, nieder mit dem Selbstbewußtsein, das ihm das Jesuswort gibt: kein Reicher kann ins Gottesreich kommen, und er selbst wolle vollkommen sein, wie der Vater im Himmel.
„Ich bin kein Heiliger, ich habe mich nie für einen ausgegeben — ich bin ein ehrliches Wesen, das immer und von ganzem Herzen gewünscht hat, ein guter Diener Gottes zu werden.“ Diese Worte überliefert, kurz vor Tolstois Tode gesprochen, die Tochter. Auch der Nikolaj des Stückes ist kein jesuaniseher Heiliger. Auch er bleibt in Qual und Zwiespalt stehen. Das „Widerstehet nicht dem Bösen“ übt er praktisch aus, indem er sich um die letzte Folgerung drückt: den Besitz bekommt die Frau, er selbst wohnt weiter im Hause und demütigt sich, und übt das
Handwerk eines Tischlers aus. Sein Jünger, ein Fürstensohn, erduldet, was ihm selbst zu leiden versagt ist Boris verweigert den Militärdienst. Jesu Gebot: „Du sollst nicht schwören“, wird ohne theologische Nebenbestimmung wörtlich ernst genommen! Wer Soldat wird, ist aufgefordert zu töten. Darum ist aller Militärdienst — vaterländische Begründungen schwinden vor der göttlichen Wahrheit in Nichts hin — ein Teil des Bösen, das die Welt verfinstert. Lichtpunkte sind alle die, die dies erkannthaben und nun, ohne Gewalt anzuwenden, durch einfachen Protest sich der Strafe stellen. Der arme Boris wird ins Irrenhaus gesteckt. Nikolaj sieht verzweifelt, wohin seine Lehre führt. Er hat ein Licht angezündet in den Seelen. Wird es leuchten, wirds verlöschen? In seinen Schlußworten gibt er selbst den Zweifel kund, er weiß nicht mehr, ob seine Auffassung vom Evangelium ein Irrtum oder Gottes Wille ist.
Das Stuttgarter Staatsschauspiel hat die besten Kräfte für das figurenreiche Stück eingesetzt. Wem die Schaubühne mehr ist als eine Vergnügungsstätte, wird den Schauspielern, dem Spielleiter und Bühnenbildner Dank sagen für drei Stunden der tieferen Besinnung. Die Stimme Tolstois hat Hans Mahnke in schlichter Rede und untheatralischer Gebärde einzig möglich ertönen lassen. Es kommt hier doch nicht auf die Gestaltung eines zerrissenen tragischen Charakters an, sondern, daß das Wort des sektiererischen Evangelisten deutlich und würdig gehört werde. Mila Kopp als die Gattin Alexandra Iwanowna war die eigentliche Gegenspielerin, der Widerstand gegen die unreale, geistige Erleuchtung des Gatten, die Mutter, die aus dem beleidigten und gequälten Wesen ihrer Bestimmung heraus um ihre Liebe, um ihre Kinder ringt und bangt und so zu der eindrucksvollsten Gestalt des Stückes geworden ist. Die Jüngerschaft konnte Heinz Reineke als Boris nicht ganz in Jene überzeugende Tiefe führen, die durch erlebtes und geredetes Wort und Gebärde allein besticht.
Die Schaubühne hatte mit der Aufführung dieses Stückes wieder einen großen Tag. em
Kulturelle Nachrichten
Noch immer befinden sich 378 Professoren und Studenten der Sowjetzone in Zuchthäusern oder in Zwangsarbeitslagern Sowjetruß- lands, erklärte Dieter Spangenberg, Berlin, der Leiter des Amtes für gesamtdeutsche Fragen des Verbandes deutscher Studentenschaften vor der Mitgliederversammlung des Verbandes im Kloster Andechs (Oberbayern). Spangenberg wies auf den „erschrek- kenden Rückgang“ der „Solidaritätssammlung“ hin, aus der Lebensmittel. Medikamente und Bücher an Studenten der Sowjetzone gesandt werden. 1953 hätten etwa 1200 Studenten als politische Flüchtlinge sein Amt durchlaufen. Fünfzig Prozent von ihnen hätten von Berlin aus an einen Studienplatz in der Bundesrepublik vermittelt werden können. Bei einem großen Teil der übrigen seien Schwierigkeiten bezüglich der Anerkennung des Reifezeugnisses aufgetreten.
Das neue Gebäude der Erzbischöflichen Akademie Paderborn ist seiner Bestimmung übergeben worden, Erzbischof. Jäger forderte das Habllita- tlons- und Pr o m o11onsr e eht für die Philosophisch - Theologische Falkultät in Paderborn.
Der französische Bühnen- und Film- schauspieler Jean Marals teilte mit, daß er die Hauptrolle in einem neuen Beethoven-Film übernehmen werde. („Beethoven ist für mich der größte Deutsche“.) Die Regie werde wahrscheinlich Jean Cocteau übernehmen. Wegen der musikalischen Leitung seien Verhandlungen mit Professor Wilhelm Furtwängler im Gange, der wahrscheinlich die Berliner Philharmoniker dirigieren werde. Der Film ist als deutsch-französische Koproduktion geplant, bei der von deutscher Seite unter anderen Dieter Borsche mitwirken soll.
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