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Nagolder LagblallDer Sejellschafter"

Der Geniestreich

Leon Daudet au» der Haft entlaste«

Varl», 27. Juni. Dir. im Gefängnis La Tante zur Berbühung ihrer Strafen untergebrachten Leon Daudet, der Geschäftsführer der Action Francmse, Delest, und der Ge- »eratsekretSr der kommunistischen Partei S^mard, sind am Samstag mittag aus Grund einer Täuschung des Gefäng- «sdirektor entlassen worden. Ueber die Art und Weise, wie man die Mystifikation, durch die Daudet aus dem Ge- stingnis befreit wurde, durchführte, wird folgendes an- ben: Gegen 1 Uhr mittags begab sich ein Camelot du in das Ministerium -es Innern- Elf andere Mit­glieder der royalistifchen Jugendorganisation verteilten sich auf eff Cafes, di« in der unmittelbaren Nähe des Ministe­riums gelegen sind, und verlangten sämtlich gleichzeitig die Televhonoerbindung mit dem Ministerium des Innern, um die Telephonleitungen zu blockieren. Der Camelot, der sich ins Ministerium des Innern begeben hatte, ließ sich von dort aus eine Verbindung nach dem Gefängnis geben und de« Gesängnisdirektor ans Telephon bitten, dem er mit- leikte: »Im Ministerrat ist die Freilassung von Leon Dau­det, Delest, dem Geschäftsführer derAction Francaise" und dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Se- mard beschlossen worden. Ich bitte Sie, um Kundgebungen zu vermeiden, die drei Inhaftierten sofort unauffällig aus dem Gefängnis zu entlassen." Der Unterdirektor des Ge- fängnisses, der dieses Gespräch entgegennahm, gab seiner Verwunderung darüber Ausdruck, daß man den Kommu­nisten freilassen wolle; über die Freilassung Daudets war er nicht erstaunt. Der Camelot du Roi antwortete ihm in energischer Weise:Sie haben sich darum gar nicht zu küm­mern. Es liegt ein formeller Beschluß der Regierung vor.

Tie haben den Befehl, den ich Ihnen erteilt habe, sofort

Politische Zusammenstöße im H»de-Park

London, 27. Juni. Im Hyde-Park kam es gestern am späten Nachmittag zu Zusammenstößen zwischen Kommu­nisten und Faschisten. Dank dem Eingreifen der Polizei wurden jedoch ernste Vorkommnisse verhütet und die Menge zerstreute sich langsam.

Verschärfung der Lage in China

London, 27. Juni. DerSunday Wörter" meldet aus Hankau, daß Delegierte der Hankauer Regierung und der Kuomintang-Partei in Tschengtschau eine Unterredung hat­ten. Es sei beschlossen worden, den Vormarsch auf Peking fortzusetzen. Der Korrespondent teilt außerdem mit, dckß Ge­neral Tschangkaischek gegenwärtig große Anstrengungen inache, um General Feng als Bundesgenossen zu bekommen. Sofort nachher gedenke er, nicht nur aus Peking, sondern auch auf Hankau zu marschieren. Tschangkaischek sei außer­ordentlich beunruhigt, weil augenblicklich in Kanton und Ningpo ein kommunistischer Aufstand drohe. Außerdem sei einer seiner Generale namens Bangson von den Hankau- truppen geschlagen worden. In der Provinz Honan droht ferner ein Aufstand, weil die dortige Bauernschaft eine ge­wisse Agrarreform wünscht.

Nach einer Meldung desDaily Telegraph" haben die Japaner in der Mandschurei ihre Truppen verstärkt und be­reits begonnen, an einer Stelle Schützengräben auszuheben.

Aus Tokio wird berichtet, daß die dortige Geschäftswelt die ckstnesische Boykottibowegung mit großem Ernst anfieht. Die Chinesen beabsichtigen wahrscheinlich, den Boykott so lange durchzuführen, bis Japan seine Truppenverstärkungen aus Tientsin zurückgezogen hat.

Storm's Schimmelreiter

ist in einer reizenden Geschenkausgabe zu 90 ^ gebunden vor­rätig in der Buchhandlung Zaiser, Nagold.

der Royalisten

ausruführen. Sie werden in Kürze Aufklärung erhalten. Für den Augenblick begnügen Sie sich damit." Hierauf wollte der Direktor des Gefängnisses sich vergewissern und rief das Ministerium an. dessen elf Leitungen besetzt waren, so daß er nur eine Verbindung und zwar die mit dem Ca­melot d Roi erlangte. Der Direktor erklärte, man habe soeben vom Innenministerium telephoniert und dH, Frei­lassung von Daudet und Semard angeordnet. Er möchte sich vergewissern, ob die Nachricht richtig ist. Der Camelot du Roi antwortete:Ich selbst babe den Befehl des Mi­nisters übermittelt, beeilen Sie sich. Ich bin der Unter­direktor seines Prioatkabinetts und wenn der Befehl nicht sofort ausgeführt wird, werde ich dafür verantwortlich ge­macht. Das kann zu Unannehmlichkeiten führen, denn die Presse ist bereits von der Tatsache unterrichtet." Daraufhin begab sich der Direktor sofort in die Zelle Daudets, der sehr überrascht war, vor Erregung zu weinen begann und den Gefängnisdirektor umarmte. Dieser forderte Daudet auf, möglichst schnell seine Kleider zu packen und das Gefängnis zu verlassen. Darauf begab er sich mit der gleichen Nach­richt in die Zelle von Delest. Jnzwifchen hatten die Ca­melots du Roi vor dem Gefängnis eine Kraftdroschke oor- Mhren lassen. Der Gefängnisdirektor begleitete die beiden Entlassenen bis zur Schwelle des Gefängnisses. Sie be­stiegen das Auto und fuhren in Richtung des Boulevards Arago davon.

kabinettsrat über Daudets Befreiung Paris. 27. Juni. Zur Beratung über die Affäre Daudet ist in aller Eile ein Kabinettsrat unter dem Vorsitz von Poin- care zusammenberufen worden.

Württemberg

Der ev. württ. Kirchengesangtag

ep. Stuttgart. 27. Juni. Ein frischer Zug geht gegen­wärtig durch die evang. Kirchenmusik. Alte, längst ver­gessene Schätze kamen neu ans Tageslicht, wieder erschlos­sen dank der neuen Sangesfroudigkeit, die sich in den Kir­chenchören und bei ihren Leitern regt. Als lebendiges Zeug­nis dafür darf der Württembergische Kirchengesangstag gelten, der zur Feier des 50jährigen Jubiläums des Württ. Kirchengesangvereins in Stuttgart statfand

Bei der Begrüßungsversammlung am Samstag nach­mittag, die unter Leitung des stellvertretenden Bereinsoor- sitzenden, Dekan Vöhringer-Ulm, stand, machte es einen besonders ergreifen den Eindruck, daß einer der Gründer, der fast 80jährige Prof. Hegele aus Cannstatt, und der ebenfalls um den Verein hochverdiente, betagte Dekan a. D. Pezold von Kirckheim persönlich zugegen sein konnten. Als Vertreter des Landeskirchentags sprach dessen Präsi­dent, Generalstaatsanwalt Rücker, dem Verein den Dank des württ. Kirchenoolks aus. Unter Mus.-Dir. Mezgers meisterhafter Leitung kamen verschiedene Werke schwäbi­scher Meister und Gründer des Vereins durch Stuttgarter Chöre zum Vortrag. Am Abend folgte eine Aufführung des Händel'schen Messias in der Stiftskirche durch den Verein für klassische Kirchenmusik unter Leitung von Mar­tin Hahn. Die Aufführung, die am Sonntag abend wie­derholt wurde, verdient großes Lob.

Nachdem die Stuttgarter Bevölkerung am Morgen des Festsonntags durch Kurrendesingen auf den Straßen festlich begrüßt worden war, fanden in allen evang. Kirchen der Stadt liturgische Festgottesdienste statt. Beim Gottesdienst in der Stiftskirche, a ndem auch Kirchenpräsident O. Dr. v. Merz teilnahm, hielt der als religiöser Schriftsteller und Erzähler ..ihm bekannte Stadtpfarrer v. Hessel­bacher aus Baden-Baden die Festpredigt. Im Festsaale der Hochschule für Musik fand nach den Gottesdiensten die

__ Dienstag, 28 3u«t Ll- 27

Begrüßung durch hohe staatliche, städtische und kirchliche Behörden statt. Ihre musikalische Weihe erhielt die Feier durch Bach'sche Werke, die Pfarrer Werner als Solist und Prof. Dr. Keller an Orgel und Flügel vortrug.

Zu einer gewaltigen Bolkskundgebung gestaltete sich am Rachmittag das von bestem Wetter begünstigte Choral- singen auf dem stimmungsvollen Stuttgarter Marktplatz, an dem 3500 Sänger und viele Tausende von Zuhörern teiinahmen. Die ausgezeichnet disziplinierten Vorträge der über 70 Kirchenchöre, die durch Kirchenmusikdirektor M e z- ger aus Stuttgart in hervorragender Weife geleitet und durch eine Bläsermusik des Jns.-Regts. 13 unter Obermusik­meister Müller unterstützt wurden, verschafften den mäch­tigen Chorälen eine weitreichende, überwältigende Wir­kung. Ergreifend war, wie zum Schluß die ganze riesige Menschenmenge dasNun danket alle Gott" anstimmte.

Am Sonntag abend fand in der Stadthalle eine gesellig« Feier mit Ansprachen, geistlichen Gesängen und Volkslie­dern statt. Ein« Mitgliederversammlung am Montag mit einem Vortrag von Kantor Stier aus Dresden über kir­chenmusikalische Erneuerungsarbeit und eine gottesdienst­liche Feier in der Markuskirche, bei der Bachs Kantate »Wie der Regen und der Schnee" durch Mitglieder der Hochschule für Musik unter Leitung von Pros. Kempsf erstmals ausgeführt wird, bildet den Abschluß des erheben­den Kirchengesangfestes.

Stuttgart, 28. Juni.

Aufwertung. Der Bezirksrat Stuttgart-Amt beschloß vorbehaltlich der Zustimmung der Amtsversammlung die in der Inflationszeit an die Oberamkssparkasse zurückbezahlten Schulden der Oberamkspflege grundsätzlich mit 15 v. H. ihres Goldmarkwerks aufzuwerten, die einzelnen Schuldenposten jedoch noch einer Nachprüfung zu unterziehen-

Reichstagung der Verwaltungsbeamten von kranken- «mstalten. Die Vereinigung der leitenden Verwaltungs­beamten von Krankenanstalten Deutschlands hält vom 25. bis 28. Juni hier ihre 21. ord. Hauptversammlung ab, die aus dem ganzen Reich stark besucht ist.

Finanzstattstik für das Rechnungsjahr 1926. Nach einem Erlaß des Innenministeriums und des Finanzministeriums ist nunmehr sicher damit zu rechnen, daß auch die Gemeinden unter 2000 Einwohnern ohne Ausnahme für 1926 eine Auf­stellung ihrer gesamten Einnahmen und Ausgaben nach be­sonderem Vordruck fertigen müssen. Weiter steht bereits fest, daß in die Stattstik für das Rechnungsjahr 1926 di« bis zum 30. Juni 1927 vollzogenen Einnahmen und Aus­gaben aufzunehmen sind.

Bom Konsulatswesen. Der zum Königlich Rumänischen Honorarkonsul bei dem Königlich Rumänischen Honorar- Generalkonsulat in München ernannte Hermann Äumer Ist für das württ. Staatsgebiet vorläufig anerkannt und zugelassen worden.

Goldenes Jubelfest des Württ. Ingenieur-Vereins. Der Württ. Ingenieur-Verein, württ. Bezirksoerein des Ver­eins deutscher Ingenieure- feierte in diesen Tagen sein 50- jähriges Bestehen. Am Sonntag vormittag war eine große Festversammlung im Landesgewerbemuseum, an der zahl­reiche Ehrengäste teilnahmen. Aus Anlaß des Jubiläums wurden zu Ehrenmitgliedern ernannt Dr. Maybach, Kom­merzienrat Dick- Cßlinaen. Direktor Dr. Kiktel, der Prof, der Techn. Hochschule Stuttgart Bantlin, Kommerzienrat Dr. S ch e u s s e l e n-Oberlennmaen, Dr. G m i n d e r-Reut- lingen. Ehrenzeichen wurden verlieben an Mitglieder, die sich in stiller Weise, aber in treuer Pflichterfüllung, ausge­zeichnet haben, und "M"r a-n <^tta Binder, Ing. Kienzle, die Professoren der Techn. Hackschule Stuttgart, Widmaier, Maier und Baumann, Ziv.-Ing. Toaks, Oberbaurak Stek- ker. Fabrikant Stahl, Fabrikant Krutina und Ober-Ing. Lindt. Nach Bekanntgabe dieser Ehrungen und Auszeich­nungen wurden zahlreiche Glückwunschansprachen gehalten. Den Festvortrag hielt sodann Exz. Staatsminister a. D. Dr. v. P i st o r i u s über das ThemaDer Teckniker in der Wirtschaft". Der Vortrag fand größten Bestall. Die Fest-

Peter Panl-Aube»5.

Zu seinem 350. Todestag <28. Juni 1927s.

Von Herbert Eulenberg.

Wie im Altertum sieben Städte als Wiegenplätze Homers miteinander wetteiferten, so haben lange Zeit auch mehrere Städte sich um die Ehre gestritten, daß der Maler Peter Paul Rubens in ihren Mauern geboren sei. Neuerdings hat wohl Siegen mit dem größten Anrecht auf diesen Anspruch obgesiegt, wenngleich Köln noch heutigen Tages voll Stolz an seiner Be­hauptung sesthält und einem dort noch immer das Geburtshaus des großen Vlamen gezeigt wird, das merkwürdigerweise gleich­zeitig das Sterbehaus seiner stärksten freigebigsten Gönnerin, der vertriebenen Königin von Frankreich, der leidenschaftlichen Maria von Medici gewesen ist. Wenn somit bis in die Gegen­wart hinein noch Zweifel und Meinungsverschiedenheiten über die Geburtsstätte des Meisters bestehen mögen, über seinen Sterbeort herrscht völlige Einigkeit. Antwerpen, die Stadt, in der er seine Kunst erlernt und die längste Zeit seines späteren Lebens bis zu seinem Tode verbracht hat, bewahrt in seiner Iakobskirche die Gebeine dieses fruchtbarsten und reichsten Malers aller Zeiten; dicht unter einem Altar, den eines seiner schönsten Bilder, die Darstellung der heiligen Jungfrau mit dem Kinde und einigen Aposteln, eine sogenannteSanta conver- sazione", schmückt, ruht er neben seiner Witwe, der herrlichen, üppigen, blonden Helene Fourment, die er der Nachwelt so oft. im Bilde erhalten hat. Von ihr ist der ganze Altar gestiftet worden, damit sie nebst ihren Kindern dort neben dem welt­berühmten Meister bis zu dem Tag der Auferstehung schlummern könne. Dieses ihr Vermächtnis ist freilich erst nach ihrem Tode, der erst mehrere Jahre nach dem seinigen erfolgte, zur Ausführung gelangt. Rubens war zuvor schon einmal ver­heiratet gewesen mit Isabella Brant, eines Ratsherrn Tochter aus Antwerpen, von der ihm ein Mädchen und zwei Söhne ge­schenkt worden waren. Dreiundfünfzigjährig hatte sich dann der Maler in der behäbigen munteren Fourment. die eben acht­zehn Jahre alt geworden war, erneut mit der Jugend verbun­den. Und aus dieser glückseligen, ihn verjüngenden Ehe. waren noch drei Knaben und zwei Mädchen entsprossen. Der Leich­nam des trächtigsten Malers eines malfreudigen Jahrhunderts lag anfangs noch in der »»geschmückten Seitenkapelle seiner Pfarrkirche zu Antwerpen. Drei seiner Schüler hielten die ersten drei Nächte nach seinem Tode die übliche Tdtenwacht bei ihrem Meister. Ban Dyck, sein bekanntester Jünger, war nicht dar­unter. Er hatte sich vor einigen Jahren mit Rubens überworfen, weil dieser, wie der zartere Antonin van Dyck befürchtete, ihn mit seiner wuchtigeren Begabung zu erdrücken drohte. Unter den dreien, die bei der Leiche »cs Meisters sahen, war ein eigen­tümlicher heißblütiger, abergläMscher junger Mensch, namens Pontius. Als er nun wieder dse Totemvacht neben dem Meister hielt, kam >hm der sonderbar verschrobene Gedanke, ob er nicht Sie rechts Hand des K leisters Hk-' Heiligtum sür sich abschnciden könne. Rings in der H.apelle gingen unter Glas und Rahmen all-.'riet Ueberreste von christlichen Leidenskelden. zu denen die Gläubigen beteten und von deren bloßer Berührung sie sich B'nnd»r oerwrack.'n. P'emi er. Ne,r>i? Totenhemd des

Meisters besitzen könnte, so würde sie ihn sicher wie ein Zauber­schutz fortan in seiner Laufbahn segnen und behüten. Es war leicht geschehen, die Hand des Toten abzuschneiden. Pontius, der eine Leidenschaft für das edle Weidwerk hatte, trug stets ein scharfes Jagdmesser bei sich, mit dem er schon manches Wild zerlegt hatte. Die beiden anderen Lelchenwächter neben ihm schliefen so fest wie die Jünger des Herrn im Garten Geth­semane. Die Leiche von Rubens war bereits eingesargt und mit schwarzem Flor verhüllt. Kein Mensch würde sie schon aus Angst und Scheu vor dem Toten mehr berühren. Und es galt nur noch, nach dem dritten Tage schnell den Deckel über dem Gehäuse zu schließen. Merken würde es darum niemand, daß dem verstorbenen Meister die rechte Hand fehlte. Zitternd hob Pontius sie jetzt aus der düsteren Umhüllung hervor, diese fleißigste aller Hände, diese Wunderhand, die künftighin glück­bedeutend auf seinem Leben liegen würde. Wie ein Amulett, eines jener Zauberschutzmittel, die den, der sie besaß, vor jedem Unheil bewahrten, sollte sie sein weiteres Dasein schirmen und begleiten. Schon zückte Pontius leise sein Messer, um sich diese köstliche Reliquie zu sichern, als sich zu seinem Entsetzen plötzlich die Hand des Meisters, die Pontius mit seiner eigenen Linken emporgehoben hatte, zu bewegen schien. Sie begann zu malen und jene Beschäftigung fortzusetzen, die Rubens in den letzten Monaten seines Lebens jählings hatte abbrechen müssen, weil er von einer lähmenden Gicht ergriffen worden war. Aber nun malte die Hand, als hätte sie das Versäumte nachholen müssen, aufs neue. Malte so kam es wenigstens dem erschrockenen Pontius vor mit unverminderter Kraft und Schnelligkeit, mit der sie ehemals unter ungemeinen Wunderwerken auch die Riesenwände und Decken des Louvre mit Lilien bedeckt hatte. Denn an der kahlen, nur von dem Schein der Totenkerzen be­leuchteten Kirchenwand, wuchsen plötzlich für die Augen des Pontius Tausende von Gemälden auf: Leidensdarstellungen unseres Herrn wie die Geißelung, die Kreuzigung, die Kreuz­abnahme und die Beweinung des toten Christus. Die Himmel­fahrt Mariä, die Martern vieler Heiligen. Dazwischen zahllose Wiedergaben aus den heidnischen Fabeln und Sagen: Jupiter auf seinen vielen Liebesfahrten, Diana, das Urteil des Paris; die frierende Venus, Andromeda am Felsen, Meleager und Ata- lante und Bacchanale. Amazonenschlachten, der Raub der Sa­binerinnen und die unzähligen Iagdszenen, Landschaften und Bauernbilder. Kirmes; Tänze und Früchtekränze. Bildnisse von allen möglichen hohen Herren und Damen sowie von roten pausbäckigen Kindern. Alles in den frischen, bunten, unver­fänglichen Farben, wie sie dieser einbildungsreichste, saftvollste aller Maler gemischt hatte.

Sie hörte und hörte nickt auf zu malen, die Totenhand des Rubens, die der bebende Pontius noch immer zwischen seinen Fingern hielt. Bis der Schüler sie endlich, erstickt von der Tülle der Bilder, die von ihr immerzu an die Wand gemott w - den.

schaudernd von sich stieß. Vom Angstschweiß bedeckt, fanden die beiden anderen Rubens'schen Jünger ihren verwirrten Kunst­bruder neben der Bahre des Meisters, als sie, von dem Glocken­schlag drei geweckt, herbeikamen, damit einer von ihnen ihn bei der Totenwache ablöse.

..Sieb da!" saate der eine rum anderen: ..Da känat ia die

rechte Hand des Meisters aus dem Sarg heraus. Ist "es nicht, als ob sie sich los gemacht hätte, um wieder nach dem Pinsel zu suchen, der fast mit seinen Fingern verwachsen war, so eifrig und unermüdlich hat er ihn stets von morgens bis abends und oft noch gar in der Nacht geführt. Der andere Maler­schüler des Rubens, sein Neffe Philipp aber, der später als erster der Nachwelt das Leben seines Oheims beschrieben hat, schüttelte, den schlaftrunkenen Pontius wach.Warum hast Du denn Dein Jagdmesser gezogen? Hast Du einen Angsttraum gehabt, oder wolltest Du Dich selbst entleiben an der Seite unseres Meisters?" Worauf Pontius stotterte:Warum nicht? Wäre es einem Schwächeren übel zu nehmen, wenn er neben diesem übermensch­lichen Schöpfer, der eine Welt von Bildern hinterläßt, ver­zweifelt selber seinem Leben und seiner Kunst ein Ende setzen würde!"

Die totale Comieaimsterms l2S. Mi 18M

Von Max Bali er.

Am Morgen des 29. Juni, einem Mittwoch, wird sich das seltene Naturschauspiel einer totalen Sonnenfinsternis ereignen, die darum wohl die Augen von Millionen Beobachtern auf sich ziehen dürfte, ungerechnet die zahllosen wissenschaftlichen Expeditionen, die sich auf dem Weg des Kernschattenflecks nie­dergelassen haben werden.

Bekanntlich entstehen die totalen Sonnenfinsternisse da­durch, daß der Neumond zwischen Erde und Sonne hindurchgeht, dabei die verhältnismäßig feine Spitze seines Schlagschatten- Kegels auf die Erde fallen läßt und auf deren Oberfläche einen schwarzen Schattenfleck erzeugt, der infolge der Bewegung des Mondes sehr rasch über Länder und Meere hinwegzieht. Nur die Orte, die aus dem Wege des Kernschattenslecks liegen, ge­nießen das Schauspiel der Totalität in seiner vollen Pracht und Größe. Alle angrenzenden Gebiete sehen nur eine partielle, d. h. teilweise Verfinsterung der Sonne durch den Mond, der aus dem Tagesgestirn ein Stück herausschneidet und nur eine mehr oder minder breite Sichel übrig läßt.

Dies wird man auch in ganz Deutschland feststellen können, wo die Verfinsterung leider nirgends eine vollkommene ist, son­dern auf der Linie München-Dresden-Breslau noch ein Sechstel, auf der Linie Frankfurt-Berlin-Königsberg ein Neuntel, auf der Linie Bremen-Hamburg ein Zwölftel des Sonnendurchmessers als Sichel übrigläßt. Denn die Totalitätszone beginnt bei Son­nenaufgang nordwestlich von Spanien an einer Stelle des atlan­tischen Ozeans und zieht sich dann an der Südspitze Irlands vorbei, ohne dieses zu berühren, quer durch England, kreuzt die Nordsee und betritt bei Stavanger die skandinavische Halbinsel, die der Länge nach, fast bis zum Nordkap durchstrichen wird. Darauf schneidet der Schkagschattenfleck das Eismeer, geht an der Nordspitze von NowajaSemlja vorbei, an Kap Tscheljuskin vorüber, kurz vor dem die Finsternis im wahren Mittag ihre nördlichste geographische Breite mit 78 Grad und ihre längste Dauer mit 50.2 Sekunden erreicht. Darauf biegt der Weg des Mondschattens wieder mehr südwärts, kreuzt Ostasien nordöst­lich von Kamtschatka und endet etwas unter der Inselstelle der Aleulen im Stillen Ozean an einer Stelle, für die gerade die Sonne nntergekt.