Die Wirtschaft Hilst sich selbst

Die Anzeichen mehren sich, daß wir am Vorabend einer Prise stehen, die seit 1928 nicht mehr ihresgleichen gehabt hat. Immer lauter werden die Hilferufe, die nun all« Glieder des Wirtschaftslebens erheben. Selbst wenn es gelingt, auch das Loch im Reichshaushalt zu stopfen, so ist uns herzlich wenig damit gedient, wenn nicht durchgreifende Maßnahmen zur Belebung der Gesamtwirtschaft getroffen werden. In richtiger Erkenntnis dieser Sachlage haben sich die Spttzen- organisattonen -er Arbeitgeber, d. s. der Reichsverband der Deutscl>en Industrie, die Hauptvercinigung des Einzelhan­dels und die Bereinigung der Arbeitgeberverbände, zusam­mengetan und sehr eingehend untereinander und mit den Spitzen der Gewerkschaften aller Richtungen, wie auch den Gpttzenverbänden der Landwirtschaft beraten, um zunächst den Wirtschaftsfrieden zu sichern und sodann positive Maß­nahmen zu beschließen. Die Differenzen in den Meinungen sind natürlich außerordentlich hoch. Dennoch braucht nicht die Hoffnung aufgegeben zu werden, daß eine Einigung er­folgt. Man darf gespannt sein, auf welchen Ausweg man hierbei verfallen wird.

Unsere Bilder zeigen die Hauptbeteiligten an den der- »etttgen Verhandlungen der Wirtschaft:

Lei pari (Allgemeiner Ernst Lemmer

Deutscher Gewerksschastsbund) (Gewerkschaftsring)

Macdonalds Weißbuch über den Kanaltunnelbau

TU. London, S. Juni. Das von Macdonald angekündigte Weißbuch, das Einzelheiten über den Beschluß der Regie­rung gegen den Kanaltunnelbauplan enthält, ist am Freitag veröffentlicht worben. Die Gründe der Regierung sind so­wohl wirtschaftlicher als auch militärischer Art und werden t« fünf Punkte zusammengefaßt: 1. Zweifel über die Aus­führbarkeit des Plans,- 2. finanzielle Bedenken gegen den Plan (der Tunnelbau allein würde schätzungsweise 30F Millionen Pfund kosten),' 3. die hohen Spesen für Statio­nen, Lokomotiven usw.,' 4. lange unverzinsliche Investie­rungen, da die ersten Erträgnisse nicht früher als in zehn Jahren zu erwarten wären; S. geringe Bedeutung für eine Verminderung der Arbeitslosigkeit, da an dem Bau in den ersten fünf Jahren nur etwa 1000 und in den darauf fol­genden drei Jahren etwa 6000 bis 6500 Personen beschäftigt werden könnten. Rach Ansicht »es Reichsvertcidigungsaus- schnsses sei kein einziger Grund für die Ausführung des PlanS z« finde«. Militärische Rücksichten würden eine Ver­legung des Tunneletngangs von der Küste nach dem In­nern des Landes erfordern, was die Spesen weiter erhöhen würde. Das für die Verteidigung des Tunnels notwendige Kapital wird auf 1 bis 3 Millionen Pfund geschätzt.

England und Rußland

Line Aussprache im Unterhaus.

--- London, S. Juni. Im englischen Unterhaus fand eine ausgedehnt« Aussprache über die Rußlandpolittk der Regie­rung statt. Der konservative Abgeordnete Sir Locker Lampson wies darauf hin, daß sich das Gewissen Englands dagegen sträube, mit den Vertretern der Sowjetregterung die Hände zu schütteln. Die Konservativen wünschten eine Aus­dehnung des Handels Großbritanniens, aber sie lehnten die Duldung des Mißbrauchs der Gastfreundschaft Englands durch Sowfetvertreter ab. Die Zulassung der Russen habe einer Vermehrung der industriellen Schwierigkeiten in Großbritannien geführt und dt« Rassengegensätze im ganzen britischen Weltreich vermehrt. Im weiteren Verlauf der Aussprache bezeichnet« der früher« Außenminister Cham­ber lat n die Unterzeichnung des ersten Abkommens mit der Sowjetunion, dt« Sowjetrußlaub zusätzlich« Vorteile ge- ^ben habe, obwohl es mit seine» Verpflichtungen im Rück­stand geblieben sei, als ein« Unbesonnenheit. Noch ««besonnener sei es von der »weiten Arbetterregierung ge­wesen, die russische Regierung anzuerkennen, obwohl diese ihr« Haltung nicht geändert habe und einen Vertrag mit Rußland abzuschließen, bet Lesse« Unterzeichnung man ge­wußt habe, daß er von de« Russen ander- a nS q ck a t «erben würde

Ausgabensenkung ist not

Die Verwaltung muß das Notopfer ausbringen

Der ReichSftnanzminister berechnet den neuen, trotz allem zu erwartenden Fehlbetrag des Retchshaushalts für 1930

auf 736ch Millionen Mark, Es ist das die Summe, um die er die Einnahmen- und Ausgabenerwartungen des Reichs anläßlich seiner ersten großen Finanzrede in der neuen Re­gierung als zu günstig eingeschätzt hat. Wenn man jemand für diesen verhängnisvollen Optimismus verantwortlich machen will, dann ist das in erster Linie nicht der Minister selbst, sondern eher das Institut für Konjunkturforschung, das allzu hoffnungsfroh seine Voraussagen machte. Schlimm für die Regierung, schlimm für den ganzen Reichs­tag, der ohne Unterschied der Partei die übliche Belebung der FrühjaHrskonjunktur und damit die Entlastung von allerlei Arveitslosensorgen als sicher ansah. Am schlimmsten für den Steuerzahler, der eben erst unter Verzicht auf disr 650 Mtlltonen-Erleichterung des Noungplans ein Steuer­programm von rund dreiviertel Milliarden Mark zu den wtrtschaftszerrüttendcn VerivaltungSforberungcn des Vor­jahres hinzurvachsen sah und dabei als einzigen, immerhin befriedigenden Trost die Sicherheit einer Befestigung der Retchsftnanzlage nach so vielen mißlichen Erfahrungen mit neuen Steuern, Notanleihen (Kreuzer) und großen und klei­nen Finanz- und Verwaltungsskandalen etngetauscht zu haben glaubte.

Das Reichsöesiztt erweist sich aber als Stehaufmännchen. Es ist von neuem da im Ausmaß von dreiviertel Milliar­den Mark. Und wieder wie immer muß auch der neue Fehlbetrag von 736,6 Milliarden noch als günstig etngeschätzt angesehen werden. Es gibt keine Sicherheit dafür, baß die Arbettslosenziffer sich an demamtlichen" Gesamtdurchschnitt von 1,7 Millionen halten, der Zigarettenraucher die voraus­gesetzte Zahl von Lungenzügen abwickcln, der Biertrinker den sehnlichst erwarteten besonderen Durst zugunsten der Retchsfinanzen entfalten wird. Ganz im Gegenteil ist da­mit zu rechnen, baß die einschneidenden Folgen des Steuer­programms noch abschreckender auf den Unternehmungsgeist wirken, noch mehr Arbeitsplätze veröden lassen und die be­scheidensten sogenannten Luxusäußerungen des Steuerzah­lers, das Kaffee-, Mineralwasser- und Biertrinken, das Ta­bakrauchen und Autofahren, mit vermehrter Gewalt abdros­seln, woraus dann wieder ein ewiger Kreislauf er­neute Arbeitslosigkeit und neue Steuersorderungen ent­stehen würben.

Ein ewiger Kreislauf! Das traurige Leben des deutschen Volkes und der ständige Abstieg der deutschen Wirtschaft seit nunmehr zweieinhalb Jahren, der sich auch nach dem Ersatz des Dawesplanes durch das Haager Abkommen fortsetzt. Aber hinter den dicken Mauern des Wallotbaues hat man immer noch nicht den Mut, die unweigerlichen Folgerungen aus dieser Lage zu ziehen. Welch ungeheuren Aufwand an Kraft, welche Nervenerschütterungen des deutschen Volkes, welche Vergeudung von Geld und Zeit ist der ersehnten 650- Milltonen-Erleichterung des Noungplanes gewidmet wor­den! Hat man schon vergessen, daß den Politiker, der im Jnlande umstritten, im Auslande aber als der bedeutendste deutsche Staatsmann des letzten Jahrzehnts betrachtet wurde, auf dem dornenreichen, enttäuschungsschweren Wege zu die­sem Ziel sein Leben ließ, diese Aufgabe buchstäblich ver­

zehrte? Das erreichte außenpolitische Ziel sollte der Wende­punkt auch für die innere Politik unseres Landes, für den Wiederaufbau der Wirtschaft, die Säuberung des Arbetts- marktes iverden. Und doch kam die fürchterliche Enttäuschung einer neuen Ausgabenvermehrung, eines neuen «Aeuerpro- gramms, und nach der Leerung dieses bitteren Trankes steh! jetzt ein weiterer Schierlingsbecher bereit. Gewiß hören wir aus Regierungsmunde jetzt wieder das Wort Ausgaben­senkung. Davon war immer die Rede, wenn es sich um neue Belastungen handelte, und deutlicher als dieses behutsam geflüsterte Wort, das der Schlüssel zum Wege der Rettung sein könnte, schallt es: Anleihen (die ja kein Geschenk sind, sondern obendrein noch Zinsausgaben verursachen), Not­opfer, Bürgergabe und Steuern, Steuern, Steuern!

Bürgergabe! Was hat denn der Bürger in Deutschland noch zu geben? Ist der Tiefstand der Konjunktur, die sich von keinem Gerede beschwören läßt, nicht Beweis genug da­für, daß der Bürger nicht mehr kaufen kann? Die gegen­wärtige Neichsregierung stünde glänzend da, wenn bas Wehropfer von einer Milliarde vor dem Kriegsausbruch für das Heer der Soldaten heute als NLHropfer für das Heer der Arbeitslosen wiederholt werden könnte. Der Vergleich zwischen dem Deutschland und seiner Lebenskraft von da­mals und dem Deutschland von heute erübrigt jedes wei­tere Wort.

Bürgergabe, Notopfer! Das sind Forderungen, die eine Verwaltiuig aufstellen dürfte, wenn sie alles getan hat, um die verfügbaren Haushaltmittel schonungsvoll für die Volks­gemeinschaft mit dem größten Wirkungsgrad einzusetzen und diesen selbstverständlichen Grundsatz für jede verantwor­tungsbewußte Verioaltung bis zum letzten Pfennig durch­zuführen. Die Verwaltung unseres Landes kann aber nicht vor das Volk hintreten und mit gutem Gewissen bekennen: Wir haben gespart, was menschenmöglich ist!" Nach einer Rede Schachts in München über den Verwaltungsluxus der Krankenversicherung, bei der mit Ersparnissen von 200 bis 300 Millionen Mark jährlich die gleiche ober sogar eine bes­sere Leistung möglich sei, hören wir vom Retchsftnanzmint- ster, daß eine entsprechende Vorlage mit der Ersparniswir­kung in der angedeuteten Höhe ausgearbeitet werden wirb. Und das ist erst eine, lvenn auch eine sehr bedeutende Ver­waltung. Wie ist es möglich, daß diese ungeheuren Millio­nenersparnisse, mit denen man 100 000 Arbeitern reichliches Brot sichern, mindestens 300 000 die Erwerbslosenunterstüt­zung mit allem Zubehör an Arbeitsvermittlung und ähn­lichem leisten könnte, erst jetzt gemacht werden sollen, fragt sich der Festbesolbete, von dem ein Notopfer, der Bürger, von dem die Bürgergabe erwartet wird. Die Antwort er­teilt ihm die Denkschrift des Retchsrechnungshofes über unverantwortliche Ausgabe« -er Verwaltung, wobei her­vorgehoben werden muß, baß der vorsichtige ReichsrechnungS- Hof nur die allerkrassesten, an schwere Amtsvergehen minde­stens streifenden Fälle beanstandet.

EineBürgergabe", einNotopfer", eine besonder« finanzielle Maßnahme ist für Deutschland in diesem Augen­blick dringlich. Aber diese Gabe, dieses Opfer kan« und darf allein das Notopfer der Verwaltung, die Ausgabensenkung um jeden Preis sein.

Außenminister Henderson beschränkte sich in seiner Antwort darauf hinznrveisen, daß die Lage hinsichtlich der russischen Propaganda ohne einen Vertrag nicht besser ge­wesen wäre. Der Vertrag stelle keine Sicherheit gegen die Sowjetpropaganda dar; sein Vorteil lieg« aber in den Auf­trägen, die bereits an die englische Industrie ergangen seten und die sich in den nächsten Monaten noch vermehren wür­den.

Carol, der neue König von Rumänien.

Kleine politische Nachrichten

Um die Erhöhung der Reichsbahntarif«. Minister Mol­denhauer teilte mit, daß sich das Reichskabinet mit der Erhöhung der Neichsbahntarife keineswegs in der von der Reichsbahn vorgeschlagene» Höhe einverstanden erkläre« wird. Die Verhandlungen zwischen der Reichsregternng und der Reichsbahn sind zur Zeit noch tm Gang.

Keine Bessernng der Lage in Süditryf. Der Vertreter der deutschen Bevölkerung SüdtirolS und frühere Abgeord­nete in der italienischen Kammer, Baron Gternbach, gab in der Sitzung des Weltverbandes der Völkerbnnds- ltge» eine Erklärung z« der gegenwärtige» Lage der dent- sche» Minderheiten in Südttrol ab, in der er darauf hi«» wies, baß di« Verfügung des italienische» Regierungschefs, durch die mehrere» Südttroler Bürgers di« persönliche Sretbett rvtedergeaeben worben fei. von der Bevölkerung

mit Befriedigung ausgenommen worden sei. Leider fei «S ihm aber nicht möglich, von einer Besserung der Lage be­richte« M können.

Angriffe gegen die französische SolonialpoNtik in d«r Kammer. In der französischen Kammer schrieb der Sozialist Moutet der französische« Kolonialpolitbk in Jnbochina die alleinige Schuld an den dortigen bedauerlichen Ereignisse» tm letzten Monat zu. Die letzte« Ereignisse hätten deutlich gezeigt, daß Frankreich eine systematische ErpressungSpolt- ttk betreibe. Man dürfe sich nicht wundern, wenn man auf Terror mit Terror antworte. In einer Sitzung von zehn Stunden habe man nicht weniger als 87 Angeklagte verur­teilt, darunter 10 zum Tod und eine große Anzahl zu le»

! benslänglicher Zwangsarbeit. Der Redner wandte sich dann ' gegen die systematischen Zerstörungen der TGrfer, die man verdächtigte, Aufständischen Zuflucht gegeben zu haben. Bei eer Bombardierung eines Dorfs durch Flugzeuge seien 21 > Tote zu beklagen gewesen, darunter 5 Frauen und 6 Kinder

Aufdeckung e»«er Gp'onagezentrale in Lemberg. I» Lemberg ist ein« große Spionagezentrale wahrscheinlich zu­gunsten der Sowjetunion aufgedeckt worden. In die Ange­legenheit ist eiue Reihe höherer polnischer Beamter ver­wickelt. Zahlreiche Verhaftungen sind vorgenvmmen war den.

Rene Kämpfe i« Rordindie«. Aus Peschawar wird eine j wesentliche Verschärfung der Lage an der Nordwestgrenze l infolge des Vormarsches der Afridis, die über 715 000 Mann verfügen sollen, gemeldet. Eine Abteilung der Afrt- dis drang sogar in eine Vorstadt Peschawars ein. Das Lager der Afridis wurde von den britischen Luftstreitkräften mit Bomben belegt. Zur Verstärkung der britischen Truppen wurde eine Kavalleriebrigade herangezogen. Rings um Pe­schawar sind alle strategischen Punkte von sehr starken Trup- penabtetlungen besetzt.

Der AnSba« des japanischen Flugwesens gefordert. Von den japanischen Marlnekreisen werden zum Ausgleich der Benachteiligung Japans durch das Londoner Flottenabkom­men 160 Millionen Yen für den Ausbau de« Flugwesens gefordert.

LS gibt 1«7 Million«« Amerikaner. 120 000 Beamte und Angestellte haben soeben tn den Bereinigten Staaten die große Volkszählung durchgeführt. Di« auSgeschickten Frage­bogen waren tu 23 verschiedene» Sprachen a-gefaßt. Man rechnet, daß etwa 12 Millionen tn Amerika lebende Menschen ans nicht euglischsprechenden Häusern stammen. Die letzt« vor 10 Jahren erfolgt« Zlchlung hatte eine Bevölkernngszahl von 105 710620 Köpfen ergebe». Bet der eben beendeten Zählung rechnet mau mit einer Zahl von 117 Millionen.