MONTAG, 3. MAI 1954
Kundgebungen - Maifeiern - Ausflüge
Heuß fordert die Sozialpartner zu loyaler Haltung auf / Storch: Fünftagewoche ein Zukunftsziel
Colombo: Phrasen
KANDY/Ceylon. Die Konferenz der fünf südasiatischen Ministerpräsidenten in Kandy auf Ceylon ist am Sonntagmorgen zu Ende gegangen. Die Konferenz brachte jedoch nicht die anfangs erwartete gemeinsame politische Linie der südasiatischen Länder zuwege, und die Schlußresolution enthält zu allen wichtigen Themen nur allgemeine Erklärungen, die durch Kompromisse zwischen den zum großen Teil entgegengesetzten Anschauungen zustande gekommen sind-
Die Verantwortung für Indochina, das wichtigste Thema der Konferenz, wird der Genfer Konferenz „mit den besten Erfolgswünschen“ zugeschrieben. Den Teilnehmern der Konferenz in Genf wird empfohlen, sich um eine vertragliche Regelung „zur schnellen Beendigung des Konflikts und die Wiederherstellung des Friedens“ zu bemühen.
„Recht aut i-insamkeii“
MÜNCHEN. In einer Ansprache zur Eröffnung des dritten deutschen Studententages in München warnte Bundespräsident Prof. Heuß am Sonntag vor einer Gefährdung der Selbstbesinnung durch Organisationen, Verbände und Vereinigungen. Die Studierenden sollten einmal überlegen, daß es „das Recht auf Einsamkeit für den Einzelmenschen“ gebe.
Zwar solle die Kameradschaft der heranwachsenden Generation verbinden und ein Geschlecht tragen, aber Organisationen, Verbände und Vereinigungen drängten die erforderliche Selbstbesinnung oft zurück. Der Studierende müsse bei seiner wissenschaftlichen Ausbildung zu einer Persönlichkeit . werden und dabei auch „sich selber formen“.
Friedensschluß Storch-VdK
BONN. Die Differenzen zwischen dem Verband der Kriegsbeschädigten (VdK) und Bundesarbeitsminister Storch sind in einer Aussprache führender Vertreter des Verbandes mit dem Minister beigelegt worden, teilte der VdK am Freitag mit.
Der VdK erklärte, es bestehe jetzt keine Veranlassung mehr, die Vorwürfe gegen Storch aufrechtzuerhalten. Der Verband hatte dem Bundesarbeitsminister die Qualifikation abgesprochen, weiterhin die Verantwortung für die Sorge um die deutschen Kriegsopfer zu tragen, weil er sich angeblich für die Streichung der Grundrenten ausgesprochen hatte.
Bei der Aussprache hat Storch jedoch nach der VdK-Erklärung nachgewiesen, daß er diese Äußerung gar nicht getan hat, sondern daß sie in einem Interview entstellt wiedergegeben wurde.
auI der Heimreise
TOBRUK/Libyen. Königin Elizabeth und der Herzog von Edinburgh haben am Samstag mit der königlichen Jacht „Britannia“ den letzten Teil ihrer Weltreise von dem Hafen Tobruk in der Cyrenaica aus über Gibraltar nach London angetreten. Ihr Eintreffen in Tobruk bedeutete für sie gleichzeitig das erste Wiedersehen mit Prinz Charles und Prinzessin Anne nach fünf Monaten Trennung. Der Prinz und die Prinzessin waren bereits am Freitag nach Tobruk gekommen.
FRANKFURT. Mit Kundgebungen, Maifeiern und Ausflügen beging die Bevölkerung der Bundesrepublik am Samstag den 1. Mai. Die milde Witterung und das „lange Wochenende“ brachten einen starken Ausflugsverkehr auf allen Verkehrsmitteln. Autobusse und Straßenbahnen waren bereits am frühen Morgen überfüllt, ganze Fahrzeugschlangen bewegten sich aus den Städten zu den Wäldern, Bergen, Flüssen und Seen.
Neben den Kundgebungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die unter der Parole „Einheit, Frieden und Freiheit“ standen und die Forderung nach der Fünftagewoche unterstrichen. veranstalteten zahlreiche
Gruenther warm
PARIS. Der Oberbefehlshaber der Atlantikstreitkräfte,General Gruenther, warnte zum Abschluß des fünftägigen Planspiels im Hauptquartier die Teilnehmer vor einem übertriebenen Sicherheitsgefühl, zu dem die wachsende militärische Stärke und die sowjetische „Einschläferungskampagne“ verleiten könnten. Ein solches Gefühl könne der Fortsetzung der Verteidigungsanstrengungen hinderlich sein. Noch immer beständen trotz der großen Fortschritte große Mängel im Verteidigungsaufbau. Von besonderer Bedeutung sei dabei die ungeheure Schlagkraft der strategischen Luftstreitkräfte.
Betriebe und die Sozialdemokratische Partei Maifeiern.
Auf einer Betriebsfeier der Zeiß- Werke in Oberkochen (Württemberg) forderte Bundespräsident Heuß die Sozialpartner zu loyaler Haltung auf. Es könne heute noch niemand sagen, ob die Fünftagewoche in der Bundesrepublik möglich sei, wenn gleichzeitig das Lohngefüge und die Gesamtproduktivität erhalten werden sollten.
Der stellvertretende DGB-Vorsit- zende Georg Reuter, der für den verhindertenBundesvorsitzendenWal- ter Freitag am Vorabend der zentralen Maifeier des DGB in der
Für Frauenstimmrecht. Mit 79 gegen 31 Stimmen hat sich das Basler Kantonsparlament für das Frauenstimmrecht ausgesprochen. Ein Gesetz zur Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz kann jedoch erst dann in Kraft treten, wenn es durch eine Volksabstimmung bekräftigt worden ist, an der — nach der Verfassung — nur die Männer teilnehmen dürfen.
Generalaudienz des Papstes. Papst Pius XII. hat am Sonntag in der römischen Peterskirche die erste Generalaudienz seit seiner schweren Erkrankung im Januar gewährt.
Sammelpässe für Italienreisen. Vom 1. Mai an können deutsche Staatsangehörige auch mit Sammelpässen ohne Sichtvermerk in Italien einreisen.
Ein Viertel Verwaltungskosten. Die öffentlichen Verwaltungskosten in der Bundesrepublik beziffert das Deutsche Industrie-Institut auf rund ein Viertel der gesamten öffentlichen Ausgaben. Das bedeute in 22 Jahren eine Zunahme an Beamten und Angestellten um mehr als 25 Prozent über die Vermehrung der Bevölkerung hinaus.
Bremer „Glocke“ sprach, erklärte, der DGB wolle in der Frage der Fünftagewoche keinen Schematismus, lehne aber Regelungen für einzelne Betriebe ab. Bei dem Tempo des wirtschaftlichen Wiederaufbaus sei die menschliche Arbeitskraft weit über ihre Leistungsfähigkeit hinaus beansprucht worden und der Sonntag genüge als Ruhetag nicht mehr.
Bundesarbeitsminister Storch begrüßte in Münster diese gewerkschaftliche Forderung. Dieses Ziel werde von ihm restlos unterstützt, wenn er als Ziel derZukunft angesehen werde. Es sei aber die Frage, „ob wir es uns erlauben können“, in dem gegenwärtigen Zeitpunkt diese Forderung zu stellen. Die Fünftagewoche dürfe nicht auf Kosten der Verlängerung der täglichen Arbeitszeit eingeführt werden, sie müsse vielmehr gleichbedeutend mit der 40-Stunden- woche sein.
Eine 45-Stundenwoche bei neunstündiger täglicher Arbeitszeit und freiem Samstag befürwortete der ba- disch-württembergische Arbeitsminister Ermin Hohlwegler (SPD) auf einer Mai-Kundgebung in der südbadischen Industriegemeinde Grenzach Diese Ubergangslösung sei
ATHEN. Zum zweitenmal binnen Jahresfrist ist Griechenland am Freitagnachmittag von einem schweren Erdbeben heimgesucht worden, das diesmal die mittelgriechische Provinz Thessalien traf. 19 Tote, etwa 200 Verletzte, mindestens 25 000 Obdachlose, zwei fast ganz und zwei großenteils zerstörte Städte und Dutzende verwüstete Dörfer im teilweise schwer zugänglichen Bergland sind die vorläufige Bilanz der Naturkatastrophe.
Die angesichts der großen Verwüstung noch niedrige Zahl der Opfer erklärt sich dadurch, daß die erste schwache Welle des Bebens das Geschirr in den Häusern erzittern und die Kirchenglocken läuten ließ. „Es war eine Warnung von Gott“, erzählte eine alte Frau aus der ganz zerstörten Stadt Sopha- des, „sie rettete uns das Leben. Wir stürzten auf die Straßen und in die Felder. Dann schwankte zwei Minuten
Kleine Weltchronik
Österreich darf nicht fliegen. Der amtierende sowjetische Hohe Kommissar in Österreich, General S. W. Kras- kewitsch, hat am Freitag auf einer viereinhalbstündigen Sitzung des Alliierten Rates die von den Westmächten befürworteten Anträge auf Genehmigung einer österreichischen zivilen Luftfahrtgesellschaft und eines fliegenden Bergrettungsdienstes abgelehnt.
Kolb erlitt Herzanfall. Der Frankfurter Oberbürgermeister Dr. h. c. Walter Kolb hat sich von einem Herzanfall, den er am 1. Mai bei einer Maifeier in Lollar (Kreis Gießen) erlitt, wieder erholt.
Zeiß contra Zeiß. Die Carl-Zeiß-Stif- tung in Jena hat beim Landgericht Stuttgart gegen die Firma Carl Zeiß in Heidenheim/Brenz Klage erhoben. Sie beantragt, daß der Leitung des Heiden- heimer Unternehmens das Recht abgesprochen wird, die Carl-Zeiß-Stiftung zu verwalten und zu vertreten.
ratsam angesichts der Einwände der Unternehmer, daß die 40-Stundenwo- che zu einem Produktionsausfall führen und das Sozialprodukt vermindern würde.
. . und in aller Welt
HAMBURG. Millionen Arbeiter in aller Welt feierten am Samstag den Tag der Arbeit mit Massenkundgebungen, Umzügen oder fröhlichen Volksfesten. Eine militärische Note erhielten die Maifeiern in den Ländern des Ostblocks, wo Truppeneinheiten und Flugzeuggeschwader an den Paraden der Massenorganisationen teilnahmen Aus diesen Staaten wurden auch die größten Teilnehmer- ziffem gemeldet. Auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ in Peking marschierten zum Beispiel unter den Klängen der chinesischen Nationalhymne und der Internationale über eine halbe Million Menschen an M a o Tse-tung vorüber. Auf dem Roten Platz in Mokau zogen Militäreinheiten und Tausende von Delegationen der Massenorganisationen an der Staats- und Parteiführung mit Ministerpräsident Malenkow an der Spitze vorbei.
lang die Erde und wir sahen unsere Häuser in Trümmer fallen.“
In dem 5000 Einwohner zählenden Sophades stand kein bewohnbares Haus mehr. Uber 900 Gebäude lagen ganz oder teilweise in Trümmern. Es wurden neun Tote und 21 Verletzte gezählt. Fast ebenso schwer wurde mit zehn Toten, 30 schwer- und 40 leichter Verletzten sowie 450 ganz oder zum Teil zerstörten Häusern die Stadt Phar- sala (das antike Pharsalus, wo Cäsar 48 v. Chr. Pompejus besiegte) getroffen. In Karditza stürzten 500 Häuser ein, in Trikala 160.
Obwohl bis Samstagabend weitere 44 Erdstöße registriert wurden, sah man einen Tag nach dem Unglück schon viele Bewohner mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Die Nacht hatten alle im Freien verbracht. Sofort nach dem Eingang der ersten Meldungen wurden Truppen zur Hilfeleistung eingesetzt.
Krüppelfürsorgegesetz kommt. Bundesminister Schroeder kündigte am Freitag an, daß dem Bundestag in Kürze ein Gesetzentwurf über die Fürsorge für Krüppel zugeleitet werde.
Wirbelstürme in Amerika. Fünf amerikanische Staaten sind am Wochenende von schweren Stürmen heimgesucht worden, die vor allem in Oklahoma und Texas Verwüstungen anrichteten. Die Zahl der Verletzten dürfte etwa 100 betragen. Allein 48 Personen wurden in den 18 Städten Oklahomas verletzt.
11000 Flüchtlinge im April. Rund 11 000 Menschen sind im April aus der Sowjetzone und Ostberlin nach Westberlin geflüchtet. Das sind rund 1500 weniger als im März.
Kongreß der Europa-Union. Zum neuen Präsidenten der Europa-Union in Deutschland wurde am Sonntag auf dem 6. Jahreskongreß der Organisation in Köln der CDU-Bundestagsabgeord- nete Dr. Paul Leverkühn (Hamburg) mit 58 von 96 Stimmen gewählt.
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Weizenlieferung stockt Ersatzlieferungen vorgeschlageu
BONN. Die deutsch-türkischen Wirtschaftsbesprechungen in Bonn, in denen ein Ausgleich der beiderseitigen Handelsinteressen bzw. der Abbau des türkischen Passivsaldos angestrebt wird verlaufen in freundschaftlichem Geiste! Wie verlautet, sind die türkischen Verhandlungspartner geneigt, an Stelle der bisher nicht realisierbaren Getreidelieferungen industrielle Rohstoffe wie Baumwolle, Tabak sowie Chrom- und Kupfererze anzubieten.
Die an der Förderung des Türkeigeschäftes besonders interessierten deutschen Wirtschaftskreise haben schon immer auf diese Ausgleichsmöglichkeiten hingewiesen. Von insgesamt 300 000 Tonnen Weizen, 210 000 Tonnen Gerst« und 50 000 Tonnen Roggen, die die Bundesrepublik, von der Türkei erwartet hatte, sind bis Ende März in deutschen Häfen erst knapp 50 000 Tonnen Weizen, kaum 20 000 Tonnen Roggen und nur wenige tausend Tonnen Gerste angekommen.
Ausnahme bei Notstand
Massengütertransporte nicht auf Lkw
BONN. Der Verkehrsausschuß de« Bundesrats hat unwesentliche Änderungen zu den Verkehrsgesetzentwürfen der Bundesregierung beschlossen, welche die Grundzüge der Regierur; - fassung beider Vorlagen nicht berin- ren. Unter anderem sollen die Möglichkeit für eine Ausnahmegenehmigung vom Verbot des Lkw-Transport« von Massengütern bei Fällen des Verkehrsnotstandes und Erleichterungen für den Lkw-Transport in den Zonenrandgebieten geschaffen werden. Da* Verbot des Lkw-Transports von Inlandsgetreide soll aufgehoben werden, so daß die Verbotsregelung nur für Importgetreide gilt. Der Verkehrsausschuß hat ferner eine Begünstigung der Straßenbahnen bei der Beförderungssteuer beschlossen. Die Steuersätze für Personenkraftwagen sollen nach den Empfehlungen des Ausschusses geringfügig gesenkt werden.
Das Plenum des Bundesrats wird am 7. Mai über diese Abänderungsvorschläge sowie das Verkehrsfinanz- und das Straßenentlastungsgesetz in erster Lesung beraten.
Handel mit Ostblock im Aufschwung
WIESBADEN. Der Handel der Bundesrepublik mit den Ostblockländern hat nach Mitteilung des statistischen Bundesamtes im März weiter zugenommen. Die Einfuhren aus den Ostblockländern erhöhten sich von 39,S Millionen DM im Februar auf 48,0# Millionen DM im März. Wichtigste Lieferanten waren (alles in Millionen DM, Vormonatsziffern in Klammern) di« Volksrepublik China mit 11,44 (9,29k Rumänien mit 6,3 (3,3), Ungarn mit 4,71 (2,86), Sowjetunion mit 4,7 (8,4), Tschechoslowakei mit 4,3 (3,63), Polen mit 3,92 (2.98) und Bulgarien mit 3.2 (0,58).
^ Wirtschaffsfur.K
Die dreitägigen Beratungen des Direktoriums der europäischen Zahlungsunion iA Paris über die Verlängerung der EZU haben zu keiner Einigung geführt so daß sich am 5. Mai der Ministerrat ml* diesem Problem befassen muß.
' Der Warenexport der Bundesrepublik nach Österreich ist im März 1954 infolge der fortschreitenden österreichischen Einfuhrliberalisierung auf 74,4 Millionen DM gestiegen.
Die Konjunkturaussichten auf dem europäischen Stahlmarkt werden von gut unterrichteter Seite in Luxemburg besonder* für Deutschland positiv beurteilt.
Der Umsatz der Westberliner Industrie hat sich nach Mitteilung de* Statistischen Landesamts von 281,6 Millionen DM im Februar auf 339,8 Millionen DM erhöht. Damit hat die Produktion H Prozent ihres Standes von 1936 erreicht.
Neues Erdbeben in Mittelgriechenland
Thessalien verwüstet: 19 Tote, 200 Verletzte, 25 000 Obdachlose
Copyright by Dr. Paul Herzog, Tübingen — Durch Verlag v. Graberg & Görg, Wiesbaden. Berechtigte Übertragung: H. Passow-Kernen
. ROMAN VON MAR y BURCHELL
(10. Fortsetzung)
Geraldine zuckte gleichgültig die Schultern.
„Nun, wenn dir dieser Gedanke Spaß macht, soll es recht sein. Vielleicht bist du dabei sparsamer, als wenn du denkst, du müßtest nichts zurückgeben. — Ich lasse dir also bei meiner Bank ein Konto eröffnen und lege zunächst einmal fünfzig Pfund ein, du wirst vernünftig damit umgehen, und wenn nichts mehr da ist, sagst du es mir. Beim Einkauf von neuen Kleidern wird dir Nelly raten — ich kann dich nicht vollständig mit Sachen von mir ausstatten — es würde sich nicht gut machen — meiner Bekannten wegen.“
Thea konnte sich so viel freundliches Entgegenkommen nur dadurch erklären, daß Geraldine ihr vorerst so abweisendes Benehmen bereute und wieder gutzumachen versuchte. Sie dankte ihr noch einmal und berichtete ihr hierauf von Stephens Einladung für den Sonntag.
„Ach, der Sohn von Jeannette Dorly? — ein netter, harmloser, junger Mensch“, bemerkte Geraldine dazu in einem Ton, der jeden davon abgehalten haben würde, diesen harmlosen Menschen näher kennenzulernen. „Ja, der paßt freilich ganz gut zu dir. Geh du nur mit ihm. wenn du Lust hast.“
Da ihr offenbar wenig daran lag, wie Thea sich die Zeit vertrieb, fühlte sie sich um so berechtigter, die Einladung anzunehmen. Uebrigens dachte Thea an die kommende Woche, die Ihr den Ernst des Lebens dann schon näh er bringen werde.
Als Slephen sie am Sonntag abholen kam, hatte sie, zum Ausgehen bereit, schon eine halbe Stunde auf ihn gewartet. Er hatte sich gar nicht verspätet, doch die Vorfreude Heß ihr keine Ruhe. Da Geraldine am Abend vorher sehr spät heimgekommen war, verhielten sie sich so leise wie möglich, um ihren Schlaf nicht zu stören. Als sie auf den Fußspitzen aus der Wohnung schlichen, kam es Thea vor, als seien sie Verschwörer in einem herrlichen Abenteuer.
Stephens leicht ramponierter Zweisitzer wartete vor dem Hause. Es lag wie eine Bitte um Nachsicht in seiner Stimme, als er erklärte: „Schön ist er nicht, aber tüchtig und treu bis in den Tod!“
„Ich verstehe zu wenig von Autos, als daß ich wählerisch sein könnte. Sie haben eine Menge Decken mitgenommen, das scheint mir wichtig."
Es waren viele warme, wenn auch nicht so kostbare Decken da, wie Varlon sie in seinem Luxuswagen besaß, doch tat ihr Stephens Fürsorge wohl, der sie so liebevoll einwickelte, daß auf der Fahrt nach Surrey kein Kältegefühl aufkommen konnte
Es war ein klarer, sonniger Tag, die Landstraße fast menschenleer, und so hatte Thea das Gefühl, als flitzten sie fröhlich durch eine Welt, die ihnen ganz allein gehörte. Stephen interessierte sich anscheinend für jede Kleinigkeit, die sie Ihm aus einem sorglosen Mitteilungsdrang heraus erzählte: wie es im Internat zu- und hergegangen war, was sie in den Ferien mit ihrer seligen Mami unternommen, oder vielmehr — nicht unternommen hatte, und wie dann diese plötzliche Aenderung in ihr Leben gekommen war
„Dann stehen Sie also tatsächlich ganz
allein, wie mir Lin gesagt hat?“
„Ja. Jetzt besteht aber die Hoffnung, schon in kurzer Zeit ein paar liebe Bekannte zu haben“, meinte sie mit einem schelmischen Augenaufschlag.
Stephen dankte ihr zunickend, als wollte er sie auffordern, weiter zu erzählen.
„Wissen Sie eigentlich, daß Ihr Onkel sich die Mühe genommen hatte, mich am Bahnhof abzuholen? Geraldine wollte mich nicht — ich meine, sie wollte sich nicht um mich kümmern. Meinen Brief hatte er aber trotzdem lesen dürfen, und so nahm er sich der Sache selber an.“
„Soso?“ Stephen pfiff vor sich hin und schmunzelte.
„Das müssen Sie unbedingt meiner Mutter erzählen, die wird sich sehr freuen. Sie ist zwar nicht mit allem einverstanden, was Lin tut, aber sie hängt sehr an ihm — er hat ja auch sehr viel für sie getan, seitdem mein Vater tot ist — ich war damals vierzehn Jahre alt.“
„Freilich werde ich das erzählen“, versprach Thea eifrig. „Ich kann mir gut vorstellen, daß sie gerne gut von ihm denkt und seine Fehler lieber nicht eingestehen wollte.“
„Ach, ihr Frauen!“ meinte Stephen mit der Miene eines Alterfahrenen und begann dann von etwas anderem zu reden. Vor allem interessierte es ihn, was für einen Beruf sie erlernen möchte. Als sie ihm ihre Pläne auseinandersetzte, stimmte er, im Gegensatz zu Geraldine, begeistert zu. Weshalb dies so war, entdeckte sie Indessen sehr bald.
„Dann kommen Sie einfach zu uns, meine Firma hat verschiedene Bureaus“, erklärte er. „Wir sind sehr fortschrittlich, und es herrscht ein netter Ton im Betrieb. Leichte, angenehme Arbeit. "Weihnachtsgratifikation. Mitgift bei Heirat und so weiter.“
„Warten Sie, bis ich etwas gelernt habe“, mahnte sie. „Uebrigens hat mir Mr. Varlon einen Posten beim Theater versprochen.“
„Ausgeschlossen, das geht nicht“, wehrte Stephen ab
„Warum nicht?“ fragte sie eigensinnig und gänzlich vergessend, daß sie Varions Anerbieten bereits abgelehnt hatte.
„Nun, das geht wirklich nicht“, versetzte Stephen ebenso eigensinnig. „Meinetwegen kann er Sie am Bahnhof abholen und Geraldine Ihretwegen die Leviten lesen, aber daß Sie als sein Schützling, sich beim Theater her um treiben, das lasse ich nicht zu.“
„Sie lassen das nicht zu: Großartig!“
„Ganz meine Meinung“, erwiderte er lachend, während sie Ihm offen zu verstehen
gab;
„Regen Sie sich nicht auf, ich habe ihm schon abgesagt. Ich mag nicht durch Protektion vorwärts kommen!“
„Das ist fein von Ihnen“, stimmte er zu, schien aber gar nicht abgeneigt, ihr bet seiner Firma die Wege zu ebnen.
Eine Zeitlang fuhren sie schweigend dahin. Die Straße war kurvenreicher geworden und verlangte vermehrte Aufmerksamkeit. Einmal beim Thema Lindsay Varlon angekommen, vermochte sich Thea in Gedanken nicht so schnell davon zu lösen.. Das Mißtrauen, da» selbst seine nächsten Verwandten ihm entgegenbrachten, beschäftigte sie, ob sie wollte oder nicht: sie mußte mehr über ihn erfaß" ren. So fragte sie halb schmeichelnd, halb schüchtern:
„Darf ich Sie etwas fragen?“
„Alles“, versprach Stephen unvoreingenommen und bedenkenlos.
„Ist Mr. Varlon — hat er — hat er, was man einen schlechten Ruf nennt?“
„Keinen schlechten“. lautete Stephens Antwort, „aber einen zweifelhaften.“
„Oh.“ Sie schien sich dies eine Weile Z“ überlegen, um dann weiter zu fragen: „Was Ist denn da für ein Unterschied?"
„Es käme zum Beispiel nicht vor, daß jemand auf ein Mädchen deutete und sagte. .Sehen Sie die Rote dort drüben - daa neueste Verhältnis von Lindsay Varlon.' Auen hat er, soviel ich weiß, noch keiner Dame ein Appartement im Westen gemietet oder in einem Scheidungsskandal figuriert. Aber man hat allgemein den Eindruck von ihm, daß er die holde Weiblichkeit nicht ernst nimmt, und ich glaube kaum, daß er sich je erkundigt hat, was ein Ehering kostet — ver
stehen Sie, was ich meine?“
„Doch. Ich glaube ja“ sagte Thea zögernd. „Mit anderen Worten: man kann ihm nichts Bestimmtes vorwerfen, aber man traut ihm sozusagen alles zu.“
(Fortsetzung folgt)