Sette 2 - Nr. 52
Nagolder Lagblatt „Der Gesellschafter"
Freitag. 4. März 1927
lai'n, die britischen Truppen in Schanghai hätten unter Mitwirkung von italienischen Truppen vorsichtshalber durch taktische Nottoendiqkeiten vorgeschriebene Stellungen m der BertetdigungÄinie teilweise außerhalb der Niederlasfungs- grenzen eingenommen.
Die militärische Loge in China London. 3. Mär.z. Reuter berichtet aus Schanghai, daß die Zurückziehung der Truppen Suntschuansangs von der Sunkiangfront eine neue Phase der militärischen Lag« m China eröffnet- Zuständige Militärbehörden seien der Ansicht, daß das Kantonheer einer fast unmöglichen Ausgabe gegenisbevstehe beim Versuch, in Sunkmng durchzubrechen, wenn die Schanrungtruppen sich ihnen in den Weg stellen. Die Schantungtruppen seien gut ausgerüstet und gut ernährt und haben seit ihrer Ankunft ihren Sold regelmäßig bekommen.
Uneinigkeit der stantonesen
London. 3. März. Unter den siegreichen Kantonesen scheint ein ernster Kviespalt ausgebrochen zu sein. Der gemäßigte Flügel bemüht sich schon seit langem, den großen Einfluß Moskaus, der als Haupthindernis für eine friedliche Einigung mit Tschangtsolin betrachtet wird.^zu- rückzudrärrgen. Die Teilung Chinas in Nord- und «üo- china mit dem Yangkfefluß als Grenze wird von dem russischen General Galonto als ein unannehmbares Kompromiß lebhaf: bekämpft. Die radikale Gruppe unter Führung Berodins har vorläufig, die Oberhand, was zur Folge haben kann, daß Tschanghaischek in Ranschang eine neue Neuerung bilden wird, die Borodin und seinen Anhänger» :r Feindschaft erklären wird.
Württemberg
Stuttgart, 3. März. Anleihe der württ. Wohnung s k r e d i t a n st a l t. Von zuständiger Seite wird mitgeteilt: Das Staal-ministerium hat in den letzten Tagen den Entwurf eines Gesetzes über eine Bürgschaft des württ. Staats für eine Anleihe der Württ. Wohnungskreditanstalt festgestellt und ihn dem Präsidium des Landtags mit Schreiben vom 1. März 1927 zugehen lassen. Nach dem Entwurf soll die Staatsregierung ermächtigt werden, im Namen des Württ. Staats die selbstschuldnerische Bürgschaft für eine Anleihe der Württ. Wohnungskreditanstalt in Höhe von 25 Millionen Reichsmark zu übernehmen.
Warenlotterie des Württ. Beamkenbunds. Der Gesamtvorstand des Beamtenbunds hat die Durchführung der vom Ministerium des Innern am 3. Februar d. I. genehmigten Darenlotterie beschlossen. Der Lotterieerlös soll dem Bund die Erwerbung eines Erholungsheims ermöglichen.
Todesfall. Oberlehrer a. D. Eugen Stahl ist hier im Alter von 72 Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit verschieden. Von 1962 bis 1924 wirkte er an der Schwabschule. Er beteiligte sich viel auf musikalischem Gebiet und war auch sm angesehener Musikkritiker.
Wilchpreiserhöhuyg? In der letzten Monatsversammlung der Milchproduzentenvereinigung für Stuttgart und Umgebung wurde der Wunsch nach einer alsbaldigen Milchpreiserhöhung ,zum Ausdruck gebracht.
Aus Sem Lande
Möhringen a. F.. 2. März. 8. Schulklasse. Mit Beginn des neuen Schuljahrs erhält auch die hiesige Volksschule eine achte Klasse, und zwar zunächst für die Knaben. Die Errichtung einer achten Mädchenklasse erfolgt voraussichtlich im nächsten Jahr.
Eßlingen, 3. März. Messerheld. Am letzten Mittwoch. vorm, gegen 1^ Uhr, kam es in der Nähe der Wirtschaft zum Brühl zwischen einer Anzahl junger Leute zu
Streit- und Schlaghändeln, in deren Verlauf ein 24 I. a. lediger Mechaniker zum Stilettmesser griff und zwei gleichaltrige Mitbeteiligte durch mehrere Stiche schwer, jedoch nicht lebensgefährlich verletzte. Der Täter wurde festgenommen.
Unerwartet rasch ist am Dienstag Oberstleutnant a. D. Kurt von Beyer, Rechtsritter des Johanniterordens, zur großen Armee abberufen worden. Der Verstorbene war eine .bekannte und hochgeschätzte Persönlichkeit in der Stadt.
Zu der Nachricht über die Berufung des Professors Dr. Trendelenburg an der hiesigen Universität auf den Lehrstuhl für Physiologie an der Universität Berlin wird uns mitgeteilt, daß man den hochgeschätzten Gelehrten, der schon einmal eine Berufung von Tübingen nach Berlin abgelehnr hat, auch diesmal der Landesuniversität erhalten zu können hofft.
Zuffenhausen, 3. März. Tod eines Scharfrichters. Im biblischen Alter starb hier Fetthändler Sitter, in seinem „bürgerlichen" Beruf viele Jahre als Scharfrichter für Süddeutschland beamtet. Seine Erlebnisse im Beruf sollen, von einem Polizeibeamten gesammelt und geschildert, demnächst im Druck erscheinen.
Laufsen a. R., 3. Mürz. Tödlicher Ausgang. Infolge eines Sturzes auf einen Stein zog sich der 15 Jahre alte Gärtnerlehrling Gerhard Buyer. gebürtig von Bcnen- heim OA. Brackenheim, eine schwere Nierenverletzung zu. Trotz vorgenommener Operation starb der Junge zwei Tage nach dem Unfall.
Hall, 3. März. Trauerseier. Der Gemeinderat hielt für den verstorbenen Stadtschultheihen Emil Hauber eine Trauersitzung ab, in der Regierungsrat Gemeinderat Klein die Gedächtnisrede hielt. Nach der Trcnnrsitzung fand unter ungewöhnlich großer Anteilnahme der Bevölkerung die feierliche Ueberführung der Leiche zum Bahnhof statt. Auf dem Bahnhofplatz wurde der Sarg inmitten von Palmen und Lorbeerbäumen aufgebahrt, und es folgte nunmehr eine Trauerfeier, bei der Dekan Horn die Trauerrede hielt. Dann wurden zahlreiche Kränze niedergelegt. Nach der Trauerfeier erfolgte die Ueberführung der Leiche nach Heilbronn, wo die Einäscherung stattfand.
Giengen a. Br., 3. März, Diamantene Hochzeit. Der frühere Gemeindediener Lorenz Hartmann und seine Frau Sophie, geb. Durner, im nahen bayerischen Orte Burghagel können am 7. März ihre diamantene Hochzeit feiern. Der Mann zählt 90, die Frau 80 Jahrs. Beide sind verhältnismäßig noch recht rüstig.
Burgberg OA. Heidenheim, 3. März. Gründung eines Kriegervereins. In Anwesenheit des Bezirkobmanns des Bezirkskriegerbunds Heidenheim, wurde ein Kriegeroerein gegründet, dem zahlreiche Kameraden sich anschlossen.
Vom Ries, 3. Mürz. Lebensmüde. Ein in Dettingen beschäftigter Schreinergehilfe hat sich in selbstmörderischer Absicht in die Wörnitz gestürzt. Die Leiche konnte in der zurzeit hochgehenden Wörnitz noch nicht gefunden werden.
Nürtingen, 3. März. Eine Seltenheit. Eine Seltenheit von einem Gansei erhielt David Henzler in Großbettlingen. Es ist von außerordentlicher Größe und wiegt 330 Gramm.
Tübingen, 3. März. HO. Geburtstag. Oberbürgermeister Hausier feiert heute seinen 60. Geburtstag. Seit nahezu 30 Jahren ist er hier Stadtvorstand. ,
Am 1. März waren es 40 Jahre, seit Garteninspekkor Ernst Schelle am botanischen Garten der Universität tätig ist. Unter seiner Leitung stand die Erbauung des sog. Großen Pflanzenhauses, die Errichtung eines Arzneipflanz- feldes und eines biologisch-morphologischen Feldes. In den letzten Jahren wurde nach Scheites Plänen ein nach der
Aatur geschaffenes Pflanzengebiet der Schwäbischen Alb angelegt. Ani Sonntag veranstaltete der Bezirk 4 des Berbands Württ. Gartenbaubetriebe eine wohlgelungene Ehrung für den hochverdienten Jubilar.
Neuhausen a. d. E.. 3. März. Unglücksfall. Auf der Straße nach Metzingen ereignete sich am Dienstag ein schwerer Unglücksfall. Eine ältere Frau von hier, die von einem jüngeren Radfahrer angefahren wurde, erlitt einen komplizierten Schädelbruch und mußte in bewußtlosem Zustand in das Krankenhaus übergeführk werden.
Aus Stadt uudLaud
Nagold, 4. März 1927.
Es kann ja sein, daß Gott für Deutschland noch eine zweite Zell des Verfalles und darauf eine neue Ruhmeszeit vorhat auf einer neuen Basis der Republik. Das aber berührt uns nicht mehr.
ir rft Bismarck.
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Markttag
Wäre es auch anders möglich gewesen, als am Markttag aufzustehen, den Kopf zum Fenster Herausstrecken und gleichzeitig den naseweisen Körperteil geduscht zu sehen. Auf gut deutsch gesagt, es regnete in Strömen. So war nun auch der Berkehr nicht allzu lebhaft, ja die Beschickung des Viehmarktes und besonders des Rauchwarenmarktes ließ sehr zu wünschen übrig. Die Beschickung gering, die Auswahl nicht groß, keine entsprechende Kauflust, die Preise gedrückt, ruhiger Geschäftsgang bei den hiesigen Firmen und so fort, eins zieht eben das andere nach sich. Beim Rauchwarenmarkt mag wohl in Wagschale gefallen sein, daß die Ausbeute der in Frage kommenden Jagdgebiete Heuer sehr gering war und daß das, was vorhanden war, schon teilweise durch den späten Termin des Marktes unter der Hand Abnehmer gefunden hatte. Da nunmehr in diesem Jahre die Erlaubnis zur Abhaltung eines Rauchwarenmarktes für Nagold abgelaufen ist, soll, wie wir hören, dieser Teil des Marktes im nächsten Jahre fallen. Näheres über Auftrieb, Auslage, Preise und Erlöse sind ivie immer aus dem Handelsbericht im Handelsteil zu ersehen. — Ein unschönes Bild bot sich am Nachmittag den Passanten der Hinteren Gasse beim alten Schulhaus. Dort wollte man einen uralten Klepper mit Gewalt durch Traggurt usw. auf den Beinen halten. Das arine Tier ist bereits am Sonntag durch einen herumziehenden Zigeuner verhandelt worden und sollte somit selbstverständlich zur Arbeitsleistung herangezogen werden. Es ist bedauerlich, daß man in solchen Fällen kein Machtwort sprechen und einem solchen ausgedienten Arbeiter den Gnadenstoß geben darf. — Gegen Mittag hellte sich das Wetter immer mehr auf und noch später schien die ganze Landschaft in lauter Sonnengold getaucht.
Gründung eines Gewerbefchnlverdauds in Nagold
Unter Leitung des Herrn Oberamtmanns wurde am 2. d Mts. zwischen den Gemeinden Nagold, Emmingen, Jselshau- sen, Pfrondorf, Rohrdorf, Schietingen und Unterjettingen ein Gewerbeschulverband gegründet. Weitere Gemeinden, die ebenfalls Schüler in die hiesige Gewerbeschule schicken, sind noch unentschlossen oder ablehnend. Sie sollen nunmehr zu einer Erklärung aufgefordert werden, ob sic den das Schulgeld übersteigenden Mehraufwand für ihre Schiller dem Gewerbeschul verband Nagold zu ersetzen bereit sind.
Erholungsfürsorge
Auch dieses Jahr soll Gelegenheit geboten werden, schwächliche, besonders erholungsbedürftige Kinder in Solbäder oder Erholungsheime zu schicken. Das Bezirkswohlfahrlsamt vermittelt Plätze in solchen Heimen; ein ärztliches Zeugnis über die Notwendigkeit einer Kur ist aber erste Bedingung zur Aufnahme. Da schon in nächster Zeit die Plätze bestellt werden
Bou Cayenne ein StrWng.
Skizze von Karl Fr. Rimrov.
Sie saßen, des Abends wohlige Kühle genießend, auf der breiten Veranda des Landhauses, bas der Gouverneur dieser Insel bewohnte. Gibson, der amerikanische Konsul, füllte sich sorgfältig sein Glas mit dem eisgekühlten, bernsteinschimmernden Ananastrank, der in silbernen Gefäßen auf dem Nebentisch bereit stand, und trank es in langen Zügen andächtig leer, „Das muß man Euch Franzosen lassen, solche Tränklein versteht Ihr zu brauen!" schnaufte er dann und wischte sich mit einem seidenen Tüchlein den Mund. „Prächtig, diese Bowle!"
Lasaire, der Gouverneur, sagte mit feinem Lächeln: „In Washington gibt es solche Dinge offiziell allerdings nicht."
„Inoffiziell dafür umso mehr, mein Lieber", knurrte Gibson. „Ueberhaupt " Ter Konsul murmelte noch einiges in den Bart, was unverständlich blieb. Verständlicher w« die Eite, mit der er sich ein neues Glas füllte-
Camillo Rostard, der berühmte Romanschriftsteller, lachte laut auf. Er war der dritte und letzte dieser kleinen Runde und saß im liefen Sessel außerhalb des Lichtkreises. Erst an diesem Morgen war er mit seiner Dacht vor der Insel angekommen und wollte am nächsten Tage schon weiter.
Der Konsul erhob sich geräuschvoll. „Ich gehe. Mutz aus- schlasen. Morgen mit dem frühesten läuft die Thetis ein, unser neuer Kreuzer. Ten muß ich empfangen. Bleiben Sie ruhig noch hier. Rostard. Gönnen Sie sich noch ein vaar ordentliche Tropfen dieses Göttertrankes."
Er schnalzte mit der Zunge, verabschiedete sich kollegialiter von dem Gastgeber und rief Rostard ein „Bis morgen!" zu. Tann stapfte er die breite Freitreppe hinab in den Garten. Man hörte eine Weile noch seine schweren Schritte auf dem körnigen Sand, dann siel metallen eine Türe ins Schloß, und es war alles füll
„Ich habe Ihre Romane gelesen, Monsieur Rostard", sagte nach einigem Schweigen Lasaire.
..Und welcher gefiel Ihnen am besten?" fragte Rostard mit sichtlichem Interesse.
„Der. in dem Sie über Cayenne schreiben. ,Im Bagno' heißt er ja wohl." Rostard nickte befriedigt. „Auch ich hatte ihn für meine beste Arbeit. Er ist erlebt."
Der Gouverneur beugte sich überrascht vor: „Sie waren in Cayenne? Wann? Wie lange?"
„Zehn oder zwölf Jahre mögen es her sein — und länger, als mir lieb war."
„Wie der Zufall doch spielt. Um dieselbe Zeit etwa war ich auch dort. Zwei lange Jahre, als erster Sekretär des Gouverneurs. Nie wieder! Mörder und Totschläger an allen Ecken. Man kannte ohne Pistole nicht aus dem Haus. Dinge könnte ich Ihnen erzählen. Dinge — einfach unglaublich."
Rostard rückte seinen Sessel in den Lichtkreis. Seine Augen leuchteten. „Bitte — erzählen Sie. Dieses Thema interessiert mich ungeheuer ...."
Geschmeichelt von der Aufforderung des berühmten Mannes iuhr fick der Gouverneur eiu wenig theatralisch mit der gespreizten Rechten durch das Haar. ..Gern! Ich greise eins meiner Erlebnisse heraus Hören Sie: Ta war in meiner Zeit ein alter -trüsling. ein Lebenslänglicher, gestorben, der mit einem jün
geren in einer Schilfhütte aus einer der tausend Laguneninseln zusammen hauste. Tagsüber fällten sie Holz, des Nachts aßen und schliefen sie in ihrer Hütte. Das Verbindungsbrett zum Land wurde weggezogen — und die allzeit hungrigen Alligatoren in der Lagune sorgten dafür, daß die beiden nicht aus Fluchtgedanken kamen Zuverlässige Wächter, diese Alligatoren. saHe ich Ihnen, und kosteten dem Staat keinen Sous. Wie gesagt, eines Tages fand man den Alten an Entkräftung gestorben vor. Er hatte früher einen guten Namen getragen. Einflußreiche Verwandte erreichten die Erlaubnis, ihn zur Bestattung nach Frankreich zu überführen. Die Leiche kam in eine Holzkiste, diese in ein sargühnliches Gebilde aus Eisenblech. Biel Umstände wurden da nicht gemacht Sträflinge brachten Sie Ladung aus den im Hafen liegenden Postdampfer nach Bordeaux, der am nächsten Morgen bei Tagesanbruch in See stach. Er hätte den Hasen noch keine zehn Stunden verlassen, da erhielt ich von einem der Aufseher die Meldung, daß der Gefangene Nr. 2831, der Gefährte des Alten, spllrlos verschwunden sei, und daß man die Leiche des Alten im Dickicht bei der Hüttt gefunden habe. Es lag klar: Der andere hatte sich in die Holzkiste gelegt, sich in den Blechbehälter einlöten lassen, den er sicher irgendwie mit Luftlöchern versehen hatte, und wollte sich mit mitgenommenen Werkzeugen im Frachtraum des Dampfers befreien, um die erste beste Gelegenheit zur Flucht auszunützen. Eine drahtlose Station hatte der alte Dampfer noch nicht. So depeschierten wir nach Lissabon, dem nächsten Anlaufhafen. Aber dorthin kam der Dampfer gar nicht. Er geriet in der Nähe der Azoren in einen Orkan und ging mit Mann und Maus in die Tiefe. Niemand wurde gerettet. Auch Nr. 2831 nicht. Ich freute mich ordentlich, als ich sein Schicksal vernahm. Der Kerl war trotz seiner zwanzigjährigen Strafe — er hatte seine Frau und deren Geliebten erschossen — stets unnahbar und hochnäsig gewesen."
Rostard atmete rasch und aus seinen Wangen brannten rote Flecken.
„Das wäre ein Stofs für mich! Nur würde ich ihn anders sormen. Phantastischer, packender ...."
„Lassen Sie hören, Meister!"
„Das Schiss auf hoher See. Nr. 2831 öffnet mit seinen Werkzeugen sein Gefängnis und horcht. Alles still. Halbdunkel ringsum. Der Laderaum. Kein Mensch in der Nähe. Zwei, drei Tage vergehen. Nr. 2831 lebt von den paar mitgebrachten Früchten, stiehlt Nahrungsmittel aus Ladekisten, schleicht des Nachts zum Wassertank im Maschinenraum, um seinen Durst zu löschen. Neidische Ratten find Tag und Nacht seine einzigen Gefährten. Dann kommt der Sturm. Signal: Rette sich, wer kann. Nr. 2831 stürzt an Deck. Hunderte brüllen dort um ihr Leben. Keiner achtet auf ihn. Furchtbare Seen überschütten das todwunde Schiss. Rasch macht er sich aus Brettern ein Floß. Bindet sich daran fest. Das Schiss sinkt. Nr. 2831 verläßt es auf dem Rücken einer haushohen Woge, die ihn in das tosende Dtmkel wirst. Nacht und Sturm vergehen. Der Morgen kommt. Der Sträfling ist mit seinem Floß allein aus bewegtem Ozean. Da — ein Rufen, ein schwaches. Ein Schiffbrüchiger wie er, vom gleichen Schiff, den Korkring um den Leib. Außer ihm der einzig Ueberlebende. Den trägt das schwache Floß noch. Ein alter Mann ist's. Nr. 2831 zieht ihn auf die schwanken Bretter. Sie haben Glück, die Schiffbrüchigen. Schon beginnt die Däm
merung ihr graues Gespinst, da sichten sie einen Segler. Man bemerkt ihr Winken, nimmt sie aus, sie sind gerettet. Für den Alten aber war's zuviel. Er stirbt an Bord in den Armen des Jüngeren. Vorher noch hatte er ein paar Zeilen auf knitteriges Papier geschrieben, mit zitteriger Hand, und neben den seinen halten der Kapitän und sein Steuermann ihren Namen mit klobigen Buchstaben gesetzt. Das Papier macht Nr. 2831 zum Erben eines großen Vermögens. Sie kommen in New Dork an. Das Vermögen wird Nr. 2831 übergeben. Er ist reich, dreimal reich. Kauft sich Haus, Garten, Dacht, Auto, Wagen, Pserde — alles. Im Frieden seines Gartens am Golden Gate von San Franzisco, unter dem Sonnensegel seiner Dacht auf hoher blauer See schreibt er, was sein Herz bewegt. Dichtet. Einer, der solche Dinge druckt, sieht, liest das Geschriebene. Nimmt es mit. Das erste Buch! Noch eins. Ruhm, Geld. Neue Bücher. Die Jahre fliegen dahin wie Silberwolken am blauen Himmel. Nr. 2831 ist der berühmteste Romanschriftsteller Amerikas geworden. Ist Ehrenbürger, Ehrendoktor. Sein Reichtum geht ins Unermeßliche. Europa lädt ihn ein. Goldnen Lorbeer bringt ihm die Welt dar! Und in aller Mund sein Name, in aller Mund: Camillo Rostard..."
Ein Stuhl fiel um. Der Gouverneur war aufgestanden. Sein Gesicht war bleich, in den Augen funkelten Hatz und Triumph. „Jetzt kenne ich Sie wieder, Villeneuve — oder Nr. 2831, wie Sie damals hießen." Er trat dicht vor Rostard hin und zischelte: „Ich werde Sie verhaften lassen. Hier ist Frankreich. Cayenne wartet auf Sie. Ich werde der Wache schellen." Schon griff er nach der Klingel.
„Einen Augenblick, mein Herr, bevor Sie Torheiten machen. Ich heiße Rostard, nicht Billenenve. Bin amerikanischer Bürger. Mein Paß trägt die Anweisung des Staatsdepartements des Auswärtigen an alle Bundesbehörden, mir behilflich zu sein. Ein Empfehlungsschreiben des französischen Botschafters an alle französischen Kolonialbehörden steckt in meiner Tasche. Denken Sie an den amerikanischen Konsul und an unseren Kreuzer morgen früh. Der Kommandant würde sich ein Vergnügen daraus machen, einen amerikanischen Bürger zu befreien. Wollten Sie mit Ihrer Wache ihn daran hindern?"
Rostard lachte aus vollem Halse und steckte die Hände in die Hosentaschen. „So schellen Sie doch! Ich warte auf Ihre Wache!" Lasaire sah eine Weile zu Boden. Dann sagte er müde, ohne den Kopf zu heben: „Gehen Sie nur. Ich habe vergessen, daß Sie Romane dichten."
Rostard machte einen Schritt zur Treppe, wandte sich noch einmal um und sagte laut: „Sie haben vollkommen recht. Ich rede immer in Romanen. Wirklichkeit ist tot, es lebt die Phantasie. Für Ihre anregende Erzählung bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet. Ovoä uizkt!"
Mit einem eleganten Satz sprang Rostard von der Veranda über die sechs Stufen der breiten Treppe hinweg ans den Kiesweg des nachtdunklen Gartens. Bald verhallte der Klang seiner raschen Schritte. Der Gouverneur knipste das Licht aus und ging ins Haus. Lautlos brachte ein eingeborener Diener die Veranda in Ordnung.
Gemeinsam mit dem Kreuzer ging Rostards Dachl am nächsten Abend in See. Lasaire kam bald darauf als Unterchef ins Ministerium nach Paris. Von Cayenne spricht er nur selten, von dem berühmten Rostard nie.