HEIMATBLATT FÜR STADT UND LAND
CALWER ZEITUNG
MITTWOCH, 10. DEZEMBER 1953
ÜBERPARTEILICHE TAGESZEITUNG
8. Jahrgang / NR. 345
Verfassungsgericht: Gutachten rechtsverbindlich für beide Senate
Die öffentliche Verhandlung hat begonnen / Spannungsgeladene Atmosphäre
KARLSRUHE. Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts hat zu Beginn der öffentlichen Sitzung über das vom Bundespräsidenten angeforderte Rechtsgutachten über die deutsch-alliierten Verträge gestern erklärt, daß dieses Gutachten und alle anderen Gutachten
Vertagung
Auf Antrag der Regierungsdelegation ist am Dienstagmittag die öffentliche Verhandlung über das vom Bundespräsidenten angeforderte Rechtsgutachten vor dem Plenum des Bundesverfassungsgerichtes bis Mittwochmittag vertagt worden. Staatssekretär Strauß vom Bundesjustizministerium hat nach einer kurzen Beratungspause den Vertagungsantrag gestellt, da durch die zuvor abgegebene Erklärung des Gerichtes, daß das zu erstattende Gutachten über die Verfassungsmäßigkeit der deutsch-alliierten Verträge für alle zukünftigen Entscheidungen beider Senate rechtsverbindlich sei, eine Lage geschaffen worden sei, die den Charakter des Gutachtens verändert habe.
des Plenums rechtsverbindlich für alle zukünftigen Entscheidungen des ersten und des zweiten Senats sind.
In dem jetzt behandelten Rechtsgutachten soll festgestellt werden, ob die Verträge mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
In seiner Erklärung wies das Gericht auf den Artikel 16 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht hin, nach dem Gutachten
des Plenums bindend für die Entscheidungen beider Senate sind. Dadurch werde verhindert, daß die Zuständigkeit eines bestimmten Senats aus sachfremden Erwägungen in Anspruch genommen würde.
Mit dieser Erklärung wurde indirekt auch auf die am Samstag von den drei Koalitionsparteien eingereichte Feststellungsklage eingegangen. Die Regierungsparteien beantragten in ihrer Klage eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Frage, ob die Ratifizierung der deutsch-alliierten Vertragswerke mit einfacher oder Zweidrittelmehrheit vorgenommen werden muß. Für diese Frage ist der zweite Senat zuständig.
Nach Verlesung dieser Erklärung hat Staatssekretär Strauß vom Bundesjustizministerium im Namen der Delegation, die die Bundesregierung bei der Verhandlung vertritt, um eine halbstündige Pause gebeten, um die neue Lage beraten zu können. Dieser Antrag wurde angenommen.
In einer spannungsgeladenen Atmosphäre hatten unter dem Kreuzfeuer der Kameramänner die Richter in ihren weinroten Roben den Festsaal der Technischen Hochschule in Karlsruhe betreten. Der Sitzungssaal war bis auf den letzten Platz gefüllt. An der Stirnseite nahmen die Verfassungsrichter in einem offenen Rechteck Platz. Unmittelbar vor ihren Tischen standen die Aufnahmegeräte der Rundfunkgesellschaften. Vor den Richtern saßen die an dem Verfahren beteiligten Vertreter des Bundes, der Länderregierungen, der SPD und der Föderalistischen Union mit ihren Gutachtern. Über siebzig Pressevertreter waren zu der Verhandlung erschienen.
In Casablanca langsam wieder Ruhe
Französische Bevölkerung teilweise evakuiert / Tränengas und Panzer
CASABLANCA. Der „blutige Montag“ in Französisch-Marokko ist im Zeichen des offenen bewaffneten Aufstandes zu Ende gegangen. Die Stadt Casablanca war in Aufruhr. Die Polizei mußte am Montagabend die französische Bevölkerung eines Stadtteils evakuieren. Massenansammlungen arabischer Nationalisten wurden durch Abwurf von Tränengasbomben bekämpft. Der Tag hat mindestens 50 Tote gekostet, darunter 7 Europäer, die zum Teil bestialisch ermordet wurden.
Trotz der Absperrung durch Truppen mit Panzern und Polizeikräften gelang etwa 2000 marokkanischen Gewerkschaftlern, die im Ge-
Lüeiklage unverändert
Drei Viertel der Zeitungen erscheinen
STUTTGART. Nach der Zahl der Dienstag erschienenen Not- und Normalausgaben zu schließen, wird der Streik im graphischen Gewerbe, an dem sich nicht die Redakteure und das Verlagspersonal beteiligen, unverändert nur von einem Teil der 120 000 Drucker und Setzer geführt. Von 213 im Bundesgebiet erscheinenden Tageszeitungen sind gestern rund 175 erschienen.
Der Schleswig-holsteinische Journalistenverband hat in einem Telegramm an die Industriegewerkschaft Druck und Papier darauf hingewiesen, daß durch den Streik des finanziell erheblich bessergestellten technischen Personals den freischaffenden Journalisten mehr noch als bisher das Existenzminimum beschnitten werde. In einer Versammlung der Inhaber der graphischen Betriebe des Kreises Göppin- gen wurde erklärt, die Belegschaften hätten v on sich aus keinen Streik gewollt. Dieser sei Von der Gewerkschaft inszeniert worden. Die Papierverarbeitende Industrie* hat gegen die Industriegewerkschaft Druck und Papier in «ordrhein-Westfalen eine einstweilige Verfügung erwirkt, durch die es der Gewerkschaft untersagt wird, Arbeitnehmer, die bei der pa- Pierverarbeitenden Industrie tätig sind, zu Arbeitsniederlegungen zu veranlassen.
Neuer israelischer Präsident
Der Sozialdemokrat Isak ben Tsevie JERUSALEM. Zum zweiten Staatspräsiden- en Israels und Nachfolger des am 9. Novem- , er verstorbene ChaimWeizmann hat das raelische Parlament am Montag den Ge- erkschaftsführer und Kandidaten der So- «awemokraten MAP AI, Isak ben Tsevie S ® e * ne Amtszeit beträgt fünf Jahre.
VPaki - em *- )en Tsevie in den beiden ersten Wfngen mit jeweils 48 Stimmen nicht die rp; °f° e vüch e Mehrheit von 61 Stimmen er- sano j- e ’ schwenkten im dritten Wahl- zu jh le „* 4 Abgeordneten der MAPAM-Partei D?r d t Ü i b . er ’ so daß er auf 62 Stimmen kam. zul’ Nurock (Religiöser Block), den Zion 1 * a ? 1 ^ 1 cße rechtsliberalen „Allgemeinen lVah!„ n " unterstützten, kam im dritten au * ^0 Stimmen, nachdem er zuvor ma) 15 erhalten hatte.
neralstreik stehen, der Durchbruch in den eu-
schaftshaus verschanzten. Die durch Truppen verstärkte Polizei riegelte die Demonstranten ein, die Steine aus dem Mauerwerk rissen und die Kordons damit angriffen.
Nach amtlichen französischen Angaben sind am Montag sieben Europäer, drei marokkanische Soldaten und mindestens 40 einheimische Demonstranten getötet worden. Drei weitere Europäer wurden vom Mob mißhandelt und schwer verletzt. Bei dem Marsch mit Freiheitsfahnen auf das europäische Viertel, an dem sich etwa 6000 Personen beteiligten, wurde der frühere Bürgermeister von Agadir, Ribes, aus seinem Wagen gerissen und zu Tode gesteinigt. Drei andere europäische Opfer des Mobs waren so verstümmelt, daß nicht einmal ihr Geschlecht mehr festzustellen war.
In Paris trat am Montagabend eine Gruppe des Kabinetts, darunter Außenminister Schu- man und Verteidigungsminister P 1 e v e n , mit Staatspräsident A u r i o 1 zu einer Besprechung der Lage in Marokko und Tunesien zusammen. Dabei wurden auch die Maßnahmen der französischen Regierung in den Vereinten Nationen erörtert, deren von Frankreich boykottierte Marokko- und Tunesien-Debatte den politischen Hintergrund der gegenwärtigen Unruhen bildet.
Gestern war in Casablanca wieder Ruhe eingekehrt, doch herrschte in der etwa eine halbe Million Einwohner zählenden Stadt noch immer eine äußerst gespannte Atmosphäre. Panzer und Panzerspähwagen patrouillierten ohne Pause durch die Straßen. Verkehrsknotenpunkte und wichtige Gebäude sind von starken Truppeneinheiten besetzt.
„Deutsche Hilfe 1953“
Aufrufe von Heuß und Ehlers
BONN. Bundespräsident Theodor Heuß und Bundestagspräsident Dr. Hermann Ehlers riefen am Montag in einer Feierstunde zur „Deutschen Hilfe 1953“ auf. Zu dieser Aktion haben sich die sechs Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik zusammengeschlossen. Sie werden dabei von den Regierungen und Organisationen unterstützt.
Dr. Hermann Ehlers betonte in seiner Ansprache, daß keine neue „Winterhilfe“ geplant sei, sondern daß es darum gehe, die Hilfsbereitschaft jedes einzelnen Menschen zu mobilisieren. Jeder solle von sich aus etwas für den in Not befindlichen Nachbar tun. Bundespräsident Heuß erklärte als Schirmherr der „Deutschen Hilfe“, daß zwar eine gesetzliche Lebenssicherung gegen Alter, Unfall usw. vorhanden sei, daß die Wirklichkeit aber bunter sei als die Welt der Paragraphen. Daraus wolle die Deutsche Hilfe Folgerungen ziehen. Er erinnerte daran, daß seine verstorbene Frau, als sie in Berlin eine Nachbarschaftshilfe begründete, dazu einmal geschrieben habe, „wc m die Reichsversicherungsordnung in Flammen aufgeht, dann bleibt die Geschichte vom barmherzigen Samariter bestehen“.
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Wie im Innern des Blattes gemeldet, wurden gestern durch ein Großfeuer in der Trikolfabrik Conrad Merz, Mössingen, der Trockenraum, der Nähsaal, die Färberei und die Bleicherei zerstört. Die Brandbekämpfung gestaltete sich infolge des Frostes äußerst schwierig. Der Schaden ist beträchtlich. Foto: Göhner
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Nach der zweiten Lesung
hf. Die Abstimmung nach der zweiten Lesung der Ratifikationsgesetze zu den deutschalliierten Verträgen hat bestätigt, daß der Bundeskanzler auch dann eine sichere Mehrheit hinter sich haben wird, wenn im Februar 1953 der Bundestag mit der Schlußabstimmung seine letzte politische Entscheidung über das Vertragswerk fällt. Nur sehr wenige Abgeordnete, die in der zweiten Lesung mit ja stimmten, werden'sich in der dritten Lesung der Stimme enthalten oder die Verträge ablehnen. Offen ist dagegen die Frage der verfassungsgerichtlichen Entscheidung, von deren Inhalt die Ratifizierung durch die Bundesrepublik also abhängig bleibt. Die mehr als dreitägige Bundestagsdebatte hat aber nicht nur die bisherigen Mehrheitsverhältnisse bestätigt; sie hat auch zu einer Verschärfung der Gegensätze zwischen Regierung und Opposition geführt.
Wenn der Bundesjustizminister den Fraktionssekretär der SPD, Minister a. D. Dr. Menzel, einen Schurken nannte, wenn der SPD- Abgeordnete Neumann es für richtig hielt, einen CDU-Abgeordneten als Lumpen zu bezeichnen und wenn es am Schluß der Bundestagsdebatte zu tumultartigen Szenen kam, so beschränkte sich die zu registrierende Verschärfung der Gegensätze nicht auf diese Beschuldigungen. Das kaum vergessene Wort des SPD-Vorsitzenden Dr. Schumacher, daß, wer dem Generalvertrag zustimme, aufhöre, ein Deutscher zu sein, wurde von der Regierung zitiert und Dr. Adenauer stellte die These auf, daß diejenigen, die den EVG-Ver- trag ablehnen, Totengräber der Demokratie seien. Der SPD-Abgeordnete Erler setzte dieser These dann die Erklärung entgegen, daß die Annahme der Verträge gleichbedeutend mit dem Beschluß sei, 18 Millionen Deutsche auf unabsehbare Zeit unter der Zwangsherrschaft des Bolschewismus zu belassen.
Auch in den Reden der anderen Diskussionssprecher fehlte es nicht an gegenseitigen Diffamierungen. Der von einigen Abgeordneten betonte Wille zu einer konsequenten Beachtung der Gebote der parlamentarischen Demokratie und der politischen Fairneß trat leider hinter den Diffamierungen und Provokationen in den Hintergrund. Für die Stabilität
Die Ostzone säubert
Hamann dispensiert — Matern verhaftet
BERLIN. Ministerpräsident Otto Grotewohl gab gestern bekannt, daß der ostzonale Minister für Handel und Versorgung und Vorsitzende der Ost-LDP, Dr. Karl Hamann, vom Ministerrat „mit sofortiger Wirkung dispensiert“ worden ist. Auch der Staatssekretär für die Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Rudolf Albrecht (Bauernpartei), ist seines Postens enthoben worden.
Grotewohl machte diese Mitteilung in einem von der gesamten sowjetisch lizenzierten Presse abgedruckten Artikel „über einige Fragen der Ernährung“. Er versicherte darin, die Regierung werde alle Fehler und Mängel, die sich in den letzten Monaten herausgestellt haben, „rücksichtslos beseitigen und die Schuldigen zur Verantwortung ziehen“.
Hermann Matern, Mitglied des SED- Politbüros und Chef der Parteikontrollkommission, soll nach einem Bericht des Westberliner „Telegraf* am Montag in Ostberlin verhaftet worden sein. Ihm werde vorgeworfen, mit der Gruppe des hingerichteten ehemaligen Generalsekretärs der tschechoslowakischen KP. Rudolf Slansky, in Verbindung gestanden zu haben.
und die Entwicklung unserer staatlichen Gemeinschaft wäre es verhängnisvoll, wenn Regierung und Opposition diese im Bundestag gewählte Form der Auseinandersetzung auch künftig für vertretbar halten sollten. Der damit notwendige Appell muß sich sowohl an Bundeskanzler Dr. Adenauer als auch an die Sozialdemokraten richten. In der deutschen Situation von 1952 können wir es uns einfach nicht leisten, daß sich die unseren Staat tragenden Kräfte gegenseitig diffamieren.
An sachlichen Gesichtspunkten brachte die Bundestagsdebatte nichts Neues. Während die Regierung die Antwort auf die Frage schuldig blieb, wie denn die deutsche Wiedervereinigung in Frieden auf Grund der Verträge möglich sei, wußten die Sozialdemokraten einmal mehr nicht zu sagen, welchen anderen Weg als den der Verträge die Bundesrepublik gehen soll. Wenn Ollenhauer neue Verhandlungen über bessere Verträge forderte und für ein System kollektiver Sicherheit eintrat, so ist das schließlich nur ein Unterschied des Grades, aber keine Politik, die im Grundsätzlichen von dem deutsch-alliierten Vertragswerk abweicht. Daß die Verträge viele Mängel enthalten, gaben auch die Vertreter der Regierungsparteien zu, die in der Erörterung der Einzelfragen der sehr gründlichen, aber eben nur hinsichtlich einzelner Bestimmungen überzeugenden, sozialdemokratischen Beweisführung wenig entgegensetzen konnten.
Es ist eine Wirkung der Unzulänglichkeit der Verträge, wenn die Regierungsparteien im Verlauf der Debatte und in ihren angenommenen Entschließungen den Willen zur Revision deutlicher als bisher zum Ausdruck brachten. Ob sich dieser Wille als realistisch erweist, indem er das Verständnis der künftigen Partner der Bundesrepublik findet, bleibt allerdings ungewiß. Das gleiche g ; H auch von der Lösung des sogenannten Kriegsverbrecherproblems, dem gegenüber die Westmächte weniger Verständnis zeigen als es im Hinblick auf die Schaffung einer europäischen Armee notwendig wäre. Die Regierungen und Parlamente in Paris, London und Washington sollten angesichts ihrer Erwartungen eigentlich Grund genug für die Erkenntnis haben, daß unsere Forderung nach Bereinigung des „Kriegsverbrecherproblems“ und nach mehr Gleichberechtigung ein Recht der Bundesrepublik und eine Pflicht ihrer Regierungen ist. Schließlich ist es nicht der Sinn der Verträge, eine deutsche Wiedergutmachungsleistung zu erreichen, sondern eine künftige Partnerschaft soll begründet werden.
Die nun auch von der Regierung vor die parlamentarischen Beschlüsse gestellte verfassungsgerichtliche Entscheidung wird die Ratifizierung der Verträge durch den Bundespräsidenten wahrscheinlich bis März! April hinausschieben. Die Regierung sollte diesen Zeitraum nützen, um sich bei den Regierungen der Westmächte für die Bereinigung der wichtigsten der Fragen einzusetzen, die in den Verträgen ungelöst blieben. Sie sollte gleichzeitig in ihrer Auseinandersetzung mit der Opposition nicht vergessen, daß es für Aufbau und Stärke der künftigen deutschen Kontingente absolut entscheidend ist, daß diese nicht im Mittelpunkt der parteiooliti- schen Auseinandersetzung und auch nicht im Brennnunkt des Wahlkampfes von 1953 stehen. Auch die sozialdemokratische Onnosit'on wird sich diesen Einsichten nicht verschließen dürfen, wenn sie überzeugend bestätigen will, daß es ihr bei Vertretung ihres Standnunktes um m°hr als eine parteipolitische Angelegenheit geht.