DIENSTAG, 4. NOVEMBER 1952
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Ein paar hundert Pfund Akten:
Acht Millionen suchen einen Schuldigen
Prozeßbeginn gegen den „Stuttgarter Stinnes“ / Wieso gab man Bürkle so viel?
STUTTGART. Am gestrigen Morgen haben sich die Gerichtsdiener des Landgerichts Stuttgart mit Waschkörben bewaffnet und ein paar hundert Pfund Akten in ffen Schwurgerichtssaal geschleppt. Folgende Tagesordnung hing um 9 Uhr an der Tür: Angeklagt des Betruges, der Untreue und des Konkursverbrechens: Willy Bürkle, 46 Jahre alt. Fabrikant.
Untreue ist auch die Anklage gegen den 57 Jahre Eilten früheren Ersten Direktor der Städtischen Spar- und Girokasse Stuttgart, Rudolf L ä m m 1 e ; Untreue und passive Bestechung die Beschuldigung gegen den 61 Jahre alten ehemaligen stellvertretenden Direktor der Girokasse, Martin Richter. Weiter geladen, vor der 2. Großen Strafkammer zu erscheinen, sind vier Finanzsachverständige, deren schriftliche Gutachten, auf einen Haufen gelegt, einem ausgewachsenen Mann bis zur Hüfte reichen. Dazu 43 Zeugen. Vorläufig. Es werden in den sechs Wochen, die dieser Mammutprozeß voraussichtlich dauern wird,
gerichtsdirektor Dr. Knödel. Der dritte Bürkle-Prozeß ist zivilrechtlicher Art. Die Girokasse verklagte Dr. Klett, Bürgermeister Hirn und drei weitere Mitglieder des Verwaltungsrates auf Schadenersatzleistung in Höhe von 400 000 Mark. Auch hier ist kein Ende abzusehen.
Was kann dem Bürkle schon passieren?
Was kann, fragen die Stuttgarter skeptisch, dem Bürkle schon passieren? Das Strafgesetzbuch hat eine trockene Antwort darauf. Unter der Überschrift „Betrug“ steht zu lesen: „Wer in der Absicht, sich... einen rechtswidrigen Vermögens vorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt..., wird wegen Betruges mit Gefängnis bestraft...“ In besonders schweren Fällen, heißt es weiter, mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren. Ein schwerer Fall
sei dann gegeben, wenn der Schaden besonders groß ist.
Den beiden ehemaligen Direktoren kann passieren, was, unter anderem, im Untreue- Paragraphen zu lesen ist: „Wer vorsätzlich die ihm obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt, wird wegen Untreue mit Gefängnis und Geldstrafe bestraft... In besonders schweren Fällen tritt an die Stelle der Gefängnisstrafe Zuchthaus bis zu zehn Jahren.“
Was alles nicht angeklagt wird
Die Anklageschrift des Staatsanwaltes Klenner umfaßt 193 Seiten, Landgerichtsdirektor Dr. Knödel, der dem Prozeß vorstehen wird, prüfte sie sechs Monate lang. Dann verfaßte er seinen Beschluß, das Verfahren zu eröffnen. Er brauchte nur noch 48 Seiten dazu. Auf 29 davon steht, was alles nicht angeklagt wird. Es blieb nicht mehr allzuviel übrig, und so erwarten die 30 Journalisten, denen man eine Pressekarte gab, keine Sensationen mehr. Höhepunkt des Prozesses dürfte die Zeugenvernehmung von Oberbürgermeister Dr. Klett und Bürgermeister Hirn sein. Das Gericht wird sie belehren müssen, daß sie ein Recht haben, die Aussage zu verweigern, falls ihre Angaben sie selbst einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen könnten. W. U.
noch mehr dazukommen.
Es geht um acht Millionen Deutsche Mark, genauer: um 7 864 253 Mark und 52 Pfennig. Wer sie bekam, ist sicher: Willy Bürkle. Wer sie ihm gab, ist ebenfalls sicher: Die Girokasse. Die Frage ist: Wie kam es. daß man sie ihm gab. Die Antwort darauf sollen die beiden angeklagten Direktoren geben.
Kein Ende abzusehen
Eine Woche, nachdem es in Stuttgart ruchbar geworden war, daß rund die Hälfte des an Bürkle gegebenen Kredits, also vier Millionen Mark, als verloren gelten müsse, sagte Ministerialdirektor Kiefer vom Innenministerium: „Innerhalb von vier Wochen hoffen wir einen Überblick zu haben, wer im Fall Bürkle verantwortlich zu machen ist.“ Das war am 10. Juli 1950. Mehr als zwei Jahre später, am 26. September 1952, sagte jein am Bürkle-Prozeß beteiligter Anwalt: „Vjr 1955 ist mit einer letztinstanzlichen Entscheidung ijjjjm zu rechnen!“
Inzwischen sind aus dem einen Bürkle-Prozeß drei geworden: Verhandelt wird am Montag gegen Bürkle selbst und die Girokassen- diiektoren. Zu” diesem Strafprozeß hat sich ein zweiter gesellt: Die Staatsanwaltschaft hat gegen Oberbürgermeister Dr. Klett und Bürgermeister Hirn wegen ihrer Mitwirkung an der Kreditgebung Anklage wegen Untreue erhoben. Wann dieser Prozeß verhandelt wird, und ob überhaupt, das weiß heute noch nicht einmal der Mann, der es wissen muß: Land-
Neue Aktivität Bevans
Absichten auf Morrisons Platz LONDON. Der „Labour-Rebell“ Aneurin Bevan will den ehemaligen Außenminister Morrison vom Posten des stellvertretenden Parteivorsitzenden verdrängen. Das La- bourorgan „Daily Herald“ meldet gestern, daß Bevan am Wochenende beschlossen habe, für das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden zu kandidieren. Das wäre der erste direkte Vorstoß Bevans in die oberste Parteiführung. Der stellvertretende Vorsitzende gilt normalerweise als der Nachfolger Attlees, falls dieser sein Amt aus gesundheitlichen oder anderen Gründen abgibt.
Die Entscheidung über Bevans Vorstoß fällt morgen in einer Sitzung der Labour-Parla- mentsfraktion. Es wird jedoch allgemein erwartet, daß sie zugunsten Morrisons ausfällt, der beim Parteikongreß von Morecambe durch den sensationellen Sieg der Bevaniten seinen Sitz in der politischen Sektion des Parteivorstandes verlor, jedoch nach wie vor großes Vertrauen genießt.
Deutschland und Spanien
Füller: Wertvolle Alliierte
WASHINGTON. Deutschland und Spanien würden für die Schlagkraft des Westens eine bedeutende Verstärkung darstellen, während Frankreich eine Belastung sei, schreibt der britische Militärschriftsteller Generalmajor a. D. Füller in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift „US news and world report“.
Füller, der als militärischer Sachverständiger internationalen Ruf genießt und im ersten Weltkrieg Chef der britischen Panzertruppen war, stellt in dem Interview fest: „Ich bin für eine Bewaffnung Deutschlands. Die Deut
schen und die Spanier könnten meines Erachtens schlagkräftige Streitkräfte aufstellen. Zwar könnten in Deutschland wieder starke Führer heranwachsen, doch der Gedanke, daß Deutschland wieder den größten Teil der Welt an sich reißen würde, ist Unsinn. Aus dem Zeitalter der nationalen Kriege ist ein solches der Gruppenkriege geworden.“
Zu Frankreich erklärt Füller: „Zurzeit ist Frankreich eine reine Belastung. Ein weitsichtiger Truppenführer, der vorgeschobene Kräfte in Deutschland stehen hat, müßte mehrere Divisionen zur Sicherung seiner Nachschublinien in Frankreich abzweigen, weil dort die große Gefahr einer kommunistischen Zersetzung und Sabotage besteht.“
Kleine Weltdironik
Landesregierung zieht Strafantrag zurück. Stuttgart. — Die Landesregierung wird den Strafantrag gegen einen Kanzelredner aus dem Kreis Stockach zurückziehen, der an Pfingsten in seiner Predigt Ministerpräsident Dr. Maier beleidigt hatte. Der Geistliche hat sich inzwischen für seine Entgleisung entschuldigt.
Ehard: Bundesrat wartet Gutachten ab. München. — „Es ist sicher, daß der Bundesrat nicht über Deutschland- und EVG-Vertrag abstimmen wird, bevor die vom Bundespräsidenten eingeholten Gutachten erstellt und eingebracht sind“, schreibt der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard in der „Süddeutschen Zeitung“.
DGB-Klage abgewiesen. Bonn. — Eine Klage des Deutschen Gewerkschaftsbundes gegen das Bundesarbeitsministerium, das den dritten Gewerkschaftssitz im Vorstand der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung einer Vertreterin der Deutschen Angestelltengewerkschaft und nicht dem DGB zuerkannt hat, ist vom Landesverwaltungsgericht abgewiesen worden.
Volkskanunerbrief an Fraktionen. Bonn. — Bundestagspräsident Ehlers hat den Brief der ostzonalen Volkskammer gestern den Fraktionen des Bundestages und Bundeskanzler Adenauer zuleiten lassen. Der Bundestag tritt erst wieder am 18. November zu seiner nächsten Sitzung zusammen.
Rätselhafte Angenkrankheit. Duisburg. — Etwa 40 bis 50 Personen erkranken gegenwärtig täglich in Duisburg, Mörs und einigen linksrheinischen Orten an einer schmerzhaften Augenkrankheit, deren Erreger der Wissenschaft noch unbekannt ist. In den letzten drei Monaten sollen Insgesamt 1000 Personen von dieser sogenannten „indischen Augenkrankheit“ befallen worden sein. Bei nicht rechtzeitiger ärztlicher Behandlung tritt eine Rötung des Augapfels und eine Trübung der Hornhaut auf, wodurch die Sehkraft stark beeinträchtigt wird.
Kennan verläßt Europa. Bremerhaven. — Der ehemalige amerikanische Botschafter in Moskau, George F. Kennan, ist gestern mit dem amerikanischen Passagierdampfer „America“ von Bremerhaven nach den Vereinigten Staaten zurückgereist. Kennan erklärte, über seine künftige Verwendung noch nichts sagen zu können.
Dr. Frisch bleibt Lindaus Oberbürgermeister. Lindau. — Bei der Stichwahl am Sonntag wurde Geheimrat Dr. Walter Frisch zum Oberbürgermeister von Lindau wiedergewählt. Er war von der CSU aufgestellt und wurde von den bürgerlichen Gruppen unterstützt. Er erhielt 4940 Stimmen, der Gegenkandidat der SPD 3640.
Drehbares Wintersporthotel. Wien. — Der österreichische Architekt Wolfgang Bauer will ein Wintersporthotel mit drehbaren Obergeschossen bauen. Die Fenster der auf Hädem montierten und mit elektrischer Kraft betriebenen fünf Stockwerke werden tagsüber dem Lauf der Sonne folgen. Die Bewegung wird durch eine Uhr reguliert.
Thorez bleibt in der UdSSR. Paris. — Der Generalsekretär der kommunistischen Partei Frankreichs, Maurice Thorez, wird nicht, wie vorgesehen, nach zweijähriger Abwesenheit nach Frankreich zurückkebren, sondern bis auf weiteres in der Sowjetunion bleiben.
Grenzzwischenfall Türkei—Bulgarien. Istanbul. — Zwischen türkischen und bulgarischen Grenzwachen ist es am Sonntag zu einem mehrstündigen Feuergefecht gekommen. Verluste sollen auf keiner Seite eingetreten sein.
Neue Gefängnisrevolte. Columbus/Ohio. — 1600 Insassen des Staatsgefängnisses von Columbus in Ohio wurden erneut aufsässig, nachdem erst am Wochenende im gleichen Gefängnis eine schwere Revolte niedergeschlagen worden war.
60 Tote bei Schiffsuntergang. Rangun. — Bei den Zyklonstürmen der vergangenen Woche im Indischen Ozean sind zwei Schoner mit 60 Personen an Bord untergegangen. Überlebende konnten nicht geborgen werden.
WIRTSCHAFT
Keine gefährliche Nachfragesteiger un g
Masseneinkommen in einem Jahr um 9 */> höher
FRANKFURT. In ihrem September/Oktober- Bericht hebt die Bank deutscher Länder als besonders bemerkenswert hervor, daß die Belebung in der Industriewirtshaft im September weit über das saisonüblihe Maß hinausging. Bei den Verbrauchsgüterindustrien war danah die Produktionszunahme vom August bis September am auffälligsten in der Schuhindustrie mit 28 Prozent und in der Textilindustrie mit 21 Prozent Daß dabei von einer gefährlihen Übersteigerung der Nahfrage bisher habe keine Rede sein können, ergebe sich shon daraus, daß kaum Tendenzen eines nahfragebedingten Preisauftrieb» sichtbar seien. In manchen Verbrauchsgülerzwei- gen sei es vielmehr nah wie vor schwierig, echt« Kostensteigerungen auf die Abnehmer abzuwälzen. Nichts deute darauf hin, daß sih die Nahfrage nah Verbrauchsgütern in nähster Zelt wesentlih anders entwickeln werde, als das nur langsam steigende Masseneinkommen, das sich nah vorläufigen Berechnungen vom 3. Quartal 1951 zum 3. Quartal 1952 um etwa 9 Prozent erhöht habe.
Lebhafter Interzonenhandel
Höchststand seit August 1951
WIESBADEN. Der Gesamtumsatz im Interzonenhandel des Bundesgebiets mit dem Währungsgebiet der DM-Ost erreichte nah Angaben des Statistischen Bundesamtes im September einen Wert von 23,2 Millionen Verrechnungseinheiten (VE), und damit den höhsten Stand seit August 1951. Die Bezüge des Bundesgebietes betrugen 7 Mill VE. die Lieferungen des Bundesgebiete« 16,2 Mill. Ve. Unter den Bezügen nahmen Textilien mit einem Wert von 1,9 Mill. VE die erst« Stelle ein. Es folgen Mashinen mit 1,2, Mineralöle und Kohlenwertstoffe mit 1, Grubenholz mit 0,8 und hemishe Erzeugnisse mit 0,5 Mill. VE.
An den Lieferungen des Bundesgebietes waren hauptsächlich beteiligt: Chemishe Erzeugnisse mit 3 Mill. VE, Fishbearbeitung mit 3 Mill. VE, Eisen und Stahl mit 1,8 Mill. VE, Eisen-, Stahl- und Metallwaren mit 1,7 Mill. VE und landwirtschaftliche Erzeugnisse mit 1,2 Mill. VE.
Exportauftragseingang rückläufig
DIHT: Mehr Aufmerksamkeit für diese Entwicklung
BONN. Auf einer Außenhandelstagung de« deutshen Industrie- und Handelstages (DIHT) wurde darauf hingewiesen, daß der Eingang von Exportaufträgen innerhalb der letzten 12 Monat» um 17 Prozent abgenommen habe. Die Bundesregierung müsse dieser Entwicklung mehr Aufmerksamkeit shenken.
Aufgaben und Ziele des Einzelhandels
Kein Zusammenschluß mit Nord- und Südbaden
FREUDENSTADT. Auf einer Tagung des Einzelhandels ln Freudenstadt teilte der Vorsitzend« des am 23. Juli gegründeten Einzelhandelsverbandes Württemberg und Hohenzollern, Stock, mit, daß mit Südbaden eine Zusammenarbeit auf dem Weg eines Arbeitsvertrags angestrebt werds; ein Zusammenschluß mit den nordbadischen Verbänden sei wegen deren Vielzahl vorerst nicht j zu erwarten. Der Einzelhandel müsse im übrigen die Pflicht der eigenen Leistungssteigerung höher werten als jegliche Art von Staatshilfe, di« letzten Endes einen staatlichen Eingriff bedeut«. Eine Vereinigung des Handels und des Handwerks in einem neuen Verband lehnte Stock ab.
In scharfer Form wandte er sich gegen die ge- plante Einschränkung der verkaufsfreien Sonntage im Gesetzentwurf für die Regelung der Ladenzeiten; sie würde nicht nur eine schwer* wirtschaftliche Schädigung des Einzelhandel*, sondern auch eine Benachteiligung der Verbraucherschaft bedeuten.
Zur Information
Die Jahrestagung 1952 der Wasserfach*
1 e u t e in Baden-Württemberg, die dieser Tage la Karlsruhe stattfand, setzte sich für einen stärkeren Ausbau der in der Fernwasserversorgung liegenden Möglichkeiten ein, da der Wasserbedarf ständig ansteige. Zurzeit fördere man im Bundesgebiet jährlich 6 bis 6,5 Milliarden cbm Wasser.
Die Dritte Deutsche Bundesfachscbau für das Hotel- und Gaststättengewerbe in Berlin, dl« am Sonntag beendet wurde, hatte 240 000 Besucher, davon 80 000 aus Ostberlin und der Sowjetzone, zu verzeichnen und überbot damit die beiden ersten Bundesfachschauen in Köln und Frankfurt.
ROMAN
LARS
Copyright by Dr. Paul Herzog, Tübingen durch Verlag v. Graberg & Görg, Wiesbaden
(34. Fortsetzung)
Als wenn der Vater Ihre Gedanken erraten hätte, hebt er plötzlich das Gesicht, sieht sie einen Augenblick aufmerksam an und fragt:
„Gehst du nicht etwas viel zu Burgdorfs, Dora?“ Seine Frage enthält keinen Vorwurf, sie klingt eher besorgt. Dora empfindet sie auch so.
„Es ist da natürlich noch viel zu tun“, antwortet sie etwas leichthin, „das wirst du dir denken können. Und die Zeit ist kurz. Sabine muß bald abreisen, der Urlaub Hans Burgdorfs ist auch bald zu Ende.“
„Na, dann nutze nur die wenigen Tage noch“, sagt der Arzt, und auf seinem kleinen Gesicht mit dem stacheligen Bart und den sonst so unruhigen Augen liegt plötzlich ein helles Lächeln. Dora sieht Ihn verwundert an.
Er sieht den Blick. „Ja“, sagt er ruhig, „ich habe jetzt Zeit gehabt, mir das zu überlegen. Ihr Mädels seid ja groß. Ihr müßt ja wirklich mal heraus und könnt nicht ewig Rücksicht nehmen auf mich alten Mann.“
„Aber Vater!“
„Laß nur, Inge. Wenn man so alt ist wie Ich, wird man manchmal egoistisch, ohne es selbst zu merken. Ich wollte euch beiden bloß sagen, daß ich, wenn ihr ein wirkliches Glück zu erlangen hofft, euch nicht im Wege stehen werde. Ein wirkliches Glück, nicht ein eingebildetes .. '
Er sieht Dora an, und sie versteht ihn in diesem Augenblick vollkommen. Manchmal können Väter auch weise sein, denkt sie.
Sie verabschiedet sich, und während sie sich im Korridor den hellen Mantel überzieht, kommt Inge rasch und flüstert Ihr ins Ohr: „Wie genau Vater seine Töchter kennt.. und ehe Dora etwas sagen kann, ist sie schon Wieder weg.
Im Zimmer läutet das Telefon. Inge geht hin und hebt den Hörer ab. Gleich darauf: „Vater, Kriminalrat Hopfner..
Etwas ärgerlich, aus seiner nachdenklichen Ruhe aufgestört zu werden, geht Dr. Olbrich schnell an den Apparat. Und er hört die aufgeregte Stimme Hopfners:
„Doktor? Sind Sie wieder auf dem Posten? Ja? Gott sei Dank. Nehmen Sie sich bitte sofort eine Droschke und kommen Sie zum Jagen 52 oben hinterm Schäferberg, jawohl, da, da haben sie ihn gefunden. Wen? Dr. Aiwa natürlich. Ach so, Sie wissen noch nichts. Jawohl, tot. Erschossen. Wir warten auf Sie.“
Inge beobachtet besorgt den Vater. Es scheint vorbei mit seiner Ruhe. Fahrig läuft er ein paarmal hin und her, wie es seine Art ist, vor sich hinmurmelnd, zieht sich ungeduldig die hohen Schuhe an und wirft den Mantel über den Arm.
„Bitte, zieh ihn an, Vater! Du wirst dich von neuem erkälten.“ Und da sie ihm den Weg versperrt, muß er wohl oder übel brummend gehorchen. Er streichelt ihr dann noch schnell die Wange, dann ist er hinaus.
Dreiviertel Stunde später ist er oben am Schäferberg. Kriminalrat Hopfner ist da, Hans Burgdorf, der auch benachrichtigt worden ist, und Bemdt. In einer dichten Tannenschonung, die Bäumchen sind ungefähr mannshoch, liegt Dr. Aiwa.
„Heute ganz früh kam der Mann, der hier die Schonung lichtet“, erklärt Hopfner, „und berichtete, daß da oben ein Toter liege. Meine Ueberraschung, als ich sah, wer das ist, können Sie sich denken. Seien Sie vorsichtig, Doktor, wenn Sie zu dem Toten gehen, es ist da eine Schleifspur, die wir noch untersuchen wollen, ja, so, von der Seite aus geht es...“
Dr. Olbrich beugt sich über den Toten, der, mit dem Gesicht im Grase, in einer etwas verkrampften Haltung daliegt. Die Beamten treten vorsichtig näher und beobachten die Arbeit des Arztes. Sie dauert zehn Minuten, dann hebt Dr. Olbrich das Gesicht:
„Glatter Herzdurchschuß“, sagt er. „Entfernung der Waffe vom Körper höchstens zwanzig Zentimeter. Von vorn erschossen. Ist seit mehr als zwölf Stunden tot.“
„Genauer läßt sich das kaum sagen?“
„Nein.“
Die Beamten stellen noch fest, daß dem Toten die Brieftasche herausgerissen worden Ist und daß kein Geld in Ihr vorhanden ist.
„Sieht aus wie ein Raubmord“, sagt Höpf- ner kopfschüttelnd. „Wenn die andere Sache nicht wäre, der Tatbestand ließe gar keine andere Möglichkeit zu.“ Und zu Dr. Olbrich: „Wenn ich den Mann gleich abholen lasse,- wann habe ich dann den Obduktionsbefund, Doktor?“
„Um drei Uhr nachmittags. Sie haben Glück, Ich habe meine Sprechstunde und meine Besuche für heute noch abgesagt.“
Nachmittags um drei Uhr ist der Fall klar: Dr. Aiwa ist mit einer Pistole, Kaliber 7,65, ins Herz geschossen worden. Tod durch innere Verblutung. Eintritt des Todes zwölf bis fünfzehn Stunden vor dem Fund der Leiche. Nahschuß.
Dr. Aiwa ist offenbar auf dem schmalen Fußpfad erschossen worden, der durch die Tannenschonung geht und gern von Liebespaaren benutzt wird, weil er gegen jede Einsicht von außen geschützt ist. Dann hat der Mörder den Toten die kurze Strecke vom Pfad herunter in die Tannen geschleppt, das war nicht schwer, denn es sind kaum mehr als vier Meter, Fußspuren im Gras waren nicht mehr vorhanden. Dazu war schon zuviel Zeit zwischen dem Mord und dem Zeitpunkt der Auffindung des Toten vergangen. Es ist zweifelsfrei Mord. Erstens ist keine Waffe in der Umgebung des Tatortes gefunden worden, zweitens setzt ein Selbstmörder, der sich ins Herz schießt, die Waffe noch näher oder ganz dicht an seinem Körper an.
Spuren des Täters sind nicht vorhanden.
Es ist zum Verzweifeln.
Dieser Ansicht ist jedenfalls Kriminalrat Hopfner, als er den Obduktionsbefund erhalten hat und Ihn Hans Burgdorf und seinen Assistenten Berndt lesen läßt, die in seinem Amtszimmer anwesend sind. Der Fall hat sich in ganz unvorhergesehener Weise kompliziert.
Hopfner zwingt sich zur Ruhe.
„Es ist unheimlich“, sagt er, „Dr. Burgdorf wird vergiftet. Wir haben keinen Täter,
meinetwegen keine Täterin, obwohl ich mich immer, auch jetzt noch, gegen den Gedanken an eine Täterin sträube. Sehr verdächtig, diesen Mord begangen zu haben, ist Dr. Aiwa, der im gleichen Hause wohnt, erhebliche Schulden an Burgdorf hat, Zeit genug hatte, sich ln die Wohnung einzuschleichen und zweifellos auch in ihr war, wie die aufgefundene, ihm gehörige Perlmuttscheibe beweist. Aber, anstatt daß wir dieses Dr. Aiwa habhaft werden, wird er in dem Augenblick, in dem sich der Verdacht gegen ihn verdichtet, gewissermaßen vor unseren Augen erschossen. Offenbar von einem guten Bekannten, denn mit wem sollte er da oben den einsamen Weg gegangen sein? Er muß doch von jemandem, der ihn kannte, unter der Vorspiegelung irgendeiner falschen Tatsache dorthin gelockt worden sein. Der Mörder hat den Tatort sehr geschickt gewählt, es ist ja überhaupt nur einem Zufall zu verdanken, daß wir den Erschossenen noch so verhältnismäßig schnell gefunden haben. Er hätte dort Wochen unentdeckt liegen können. Warum ist der Mann erschossen worden? Hängt sein Tod überhaupt mit dem Mord an Dr. Burgdorf zusammen? Hat der gleiche Täter etwa einen zweiten begangen und warum? Was meinen Sie, meine Herren?“ „Daß die beiden Taten Zusammenhängen, glaube ich schon“, sagt Berndt nach einem Blick auf Hans Burgdorf, der aber schweigt. „Wir wissen folgendes: Dr. Aiwa schuldete dem ermordeten Dr. Burgdorf zehntausend Mark, die dieser sehr energisch angemahnt hatte. Er war überhaupt in großen Geldschwierigkeiten. Nach dem Tode Burgdorfs hat Aiwa plötzlich das Geld, zahlt es den Erben aus und verlangt den Schuldschein zurück. Er ist sehr enttäuscht, als er hört, daß dieser schon ln den Händen der Polizei ist. Man kann doch als ziemlich sicher annehmen, daß er versucht hat, den Schuldschein zu stehlen, er war in der Wohnung Burgdorfs, und diesen Versuch muß er gemacht haben, ehe Dr. Burgdorf tot war. Al* Dr. Burgdorf tot war, hatte er plötzlich das Geld. Das läßt eigentlich nur eine Deutung zu: nicht er war der Mörder Burgdorfs, sondern er hat den Mörder gesehen und erpreßt.. .* (Fortsetzung folgt) ,