DIENSTAG, 3 0. SEPTEMBER 19 5 2

DIE MEINUNG DER ANDERN

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Im Schatten Schumachers

Der Dortmunder Parteitag der SPD als Heerschau der deutschen Opposition findet in der Schweizer Presse ein lebhaftes Echo. Unter der ÜberschriftVöllig im Schatten Schumachers kommentiert die BaselerN a- tionalzeitun g:

Zu dem starken TVaditionsbewußtsein der Sozialdemokratie ist der Wille getreten, das Werk des verstorbenen Vorsitzenden zu vollenden. Das gibt der SPD zweifellos eine in sich gefestigte Position. Aber es erspart ihr nicht die Entwick­lung einer eigenen Politik, die über Schumacher hinausgeht. Den damit verbundenen Aufgaben scheint sich die SPD nur allmählich stellen zu können. Nur so läßt sich erklären, daß die Hed- ner in der Dortmunder Westfalenhalle immer wieder versuchten, mit den nicht nur von Schu­macher entwickelten Grundsätzen auch jene Fra­gen der Politik zu beantworten, bei denen es nicht um die Dokumentierung, sondern um die praktische Anwendung von Grundsätzen geht. Den Beweis für ihre Fähigkeit, ihre Grundsätze in den tagespolitischen Auseinandersetzungen erfolgreich und für die Bevölkerung überzeugend vertreten zu können, ist also auch Dortmund schuldig geblieben.

Russisch-französische Besprechungen

Zu den Andeutungen des SPD-Abgeordne- ten Wehner über angeblicherussisch-fran­zösische Geheimbesprechungen schreibt die ZürcherTat gestern:

Man kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren,, daß ein Teil dieser Aufregung recht künstlich gemacht war. Wenn Adenauer zum Beispiel sogleich einen Kurier nach Dortmund schickte, um sich von Wehner die Unterlagen für diese Erfüllungen aushändigen zu lassen, dann ist das wohl nicht mehr als ein rein tak­tischer Schachzug. Unbestreitbar ist jedenfalls, daß maßgebende Regierungsbeamte bereits einige Zeit vor dem Parteitag mit einer ganzen Reihe ausländischer Journalisten die Berichte über eine Genfer Zusammenkunft russischer und französi­scher Diplomaten und Militärs erörtert haben ... Gegenstand des aufsehenerregenden Geheimtref­fens im Frühsommer soll nun allerdings nach den vorliegenden Angaben nicht die von Wehner genannte Verständigung zwischen dem Osten unq dem Westen auf der Basis des Status cjuo (das heißt, der Spaltung Deutschlands) gewesen sein. Es handelt sich um etwas ganz anderes: Um einen Versuch russisch-französischer Übereinkunft über eine Beschränkung der deutschen Rüstung inner­halb der Europaarmee.

DieWiesn ist gerettet

700 000 Oktoberfestbesucher allein am Sonntag / Bierkonsum: Eine Million Liter

Bischof Leiprecht antwortet

RAVENSBURG. Auf einer Versammlung des katholischen Werkvolkes in Ravensburg nahm Bischof Leiprecht Stellung zur Schulpoli­tik. Der Bischof bemerkte,man ist daran, uns die katholische Schule zu nehmen. Eine un­verbindliche, vorläufige Zusage genüge nicht. Man wolle eine Garantie dafür,daß man uns beläßt, worauf wir ein Recht haben. Der Bi­schof appellierte dann an die Anwesenden, bei den Wahlen ihre Stimme verantwortungs­bewußt abzugeben.

In deutlicher Bezugnahme auf eine Rede des badisch-württembergischen Kultusmini­sters Dr. Schenkel vom Samstag, in der dieser die katholische Haltung in der Schul­frage mit schärfsten Worten angegriffen hatte, sprach der Bischof voneinem Mann, der ge­sagt hat, das Christentum stehe turmhoch über den Konfessionen. Er erwähnte ein Buchdieses Mannes, in dem dieser das ka­tholische Glaubensbekenntnis angegriffen habe. Von einemsolchen Mann, erklärte Bischof Leiprecht,können wir uns nicht sagen las­sen, was wir glauben sollen.

Amerikanisches Durchschnittseinkommen. New York. Das amerikanische Durchschnittseinkom­men ist in den fünf Jahren von 1946 bis 1951 von 2820 Dollar auf 3970 Dollar (16 674 DM) jährlich gestiegen, geht aus einer Übersicht der ameri­kanischen Regierung hervor.

MÜNCHEN.Für uns ist die ,Wiesn' mit dem heutigen Tag gerettet, erklärte Stadtrat Karl Erhärt, Referent der Stadt München, für das Oktoberfest. In den ersten Tagen der vergangenen Woche habe das Wetter den Be­such beeinträchtigt, die letzte Hälfte und be­sonders das Wochenende seien ein großer Er­folg geworden.

Allein am Sonntag besuchten rund 700 000 Vergnügungslustige aus allen Teilen der Bun­desrepublik und des benachbarten Auslandes dieWiesn. Rund 50 000 Autos, darunter 5000 Autobusse, parktenrund ums Vergnü­gen. Sechzehn Sonderzüge trafen auf dem Hauptbahnhof ein. Am Wochenende wurden nach vorsichtiger Schätzung rund 4000 Hekto­liter Bier ausgeschenkt und eine Unzahl von Brathendln, Würstchen und Steckerlfische ver­zehrt. Den Gesamtbierverbrauch schätzt die Festleitung auf über eine Million Liter seit Eröffnung des Oktoberfestes.

Die Rettungsstation des Roten Kreuzes lei­stete bisher in 1250 Fällen Hilfe, darunter ei­

nigen Personen, die von der Achterbahn oder anderenschwindelerregenden Hochbauten abgestürzt waren. In zwei Fällen mußten die Sanitäter sogar Angestellte von Schießbuden behandeln, die versehentlich angeschossen worden waren. Fast zweihundert verloren ge­gangene Kinder wurden vom Roten Kreuz aufbewahrt, bis sie von den Ihren geholt wurden.

DieWiesn-Polizei und die Kriminalwache wurden am Wochenende häufig gerufen. Rund zwanzig Taschendiebstähle wurden gemeldet. Unter den verhafteten Tätern ist eine seit langem gesuchte reisende Taschendiebin. Auch die Diebstähle aus unverschlossenen Autos stiegen am Wochenende sprungartig an. Die Zahl der Bettler ist etwas abgesunken.

Der seit Samstag in München herrschende starke Sturm machte bei einigen Schaubuden und Bierzelten kleinere Reparaturen notwen­dig, die jedoch den Betrieb nicht aufhielten. Während einzelner Hagelschauer waren Hüh­nerbratereien und Bierzelte so überfüllt, daß sie polizeilich geschlossen werden mußten.

Iwan muß zurück

Jugoslawische Mutter erhält ihren Sohn

FRANKFURT. Der elfjährige Iwan Pi- r e c n i k aus Jugoslawien, der von dem Ehe­paar S i r s c h in Lohfelden bei Kassel adop­tiert worden war, wird nach einer gestern ver­kündeten Entscheidung des höchsten ameri­kanischen Berufungsgerichtes in Deutschland zu seiner natürlichen Mutter in Jugoslawien zurückkehren.

Damit wurde die Anfang des Monats er­gangene Entscheidung des Gerichtes rückgän­gig gemacht, wonach Iwan bei seinen Pflege- eltem bleiben sollte, weil er es in West­deutschland besser habe als im kommunistisch regierten Jugoslawien.

Während Frau Pavla Pirecnik im Gerichts­saal unter Tränen sagte,ich bin so glücklich, den Jungen wiederzubekommen, herrschte im Hause der Pflegeeltern in Lohfelden Trauer. Das

Ehepaar Sirsch meinte, es sei so schwer, sich von unserem Dieter zu trennen. Iwan, der bei seinen Pflegeeltern Dieter gerufen wurde, sagte unter Tränen:Ich will hier bleiben ich will nicht fort. Wenn Sie mich fortbrin­gen, werde ich mich wehren.

Sühne für Verkehrskalastrophe

Fünf Tote Zweieinhalb Jahre Gefängnis

WUPPERTAL. Nach achttägiger Verhand­lung und einer Ortsbesichtigung sprach ein Wuppertaler Gericht gestern das Urteil gegen den 50jährigen Hans Pilscheur, der vor fast genau einem Jahr eine der schwersten Verkehrskatastrophen verursacht hat. In den Morgenstunden des 26. September 1951 war er mit seinem Wagen etwa 75 Meter auf dem Bürgersteig entlanggerast und hatte dabei fünf Menschen getötet und acht schwer ver­letzt. Das Gericht verurteilte ihn zu zweiein­halb Jahren Gefängnis.

Kleine Weltdironib

Raracke fordert erneut Generalamnestie. Karls­ruhe. Vor über 600 Fallschirmjägern aus Ba­den-Württemberg setzte sich der ehemalige Ge­neral der Fallschirmjäger, Bernhard Ramcke, er­neut für eine Generalamnestie ein, die unbedingt notwendig sei, wenn man von den ehemaligen deutschen Soldaten ein Ja zu der Frage des Wehrbeitrages erwarte. Der Verband deutscher Soldaten stelle sich aber keineswegs hinter kri­minelle Verbrecher des letzten Krieges, fügte Ramcke hinzu.

Kennan in Bonn. Bonn. Der amerikanische Botschafter in Moskau, George F. Kennan, hält sich gegenwärtig zu einem Besuch in Bonn auf. Anfang nächster Woche wird er nach Moskau zurückkehren.

Düsenmotorboot explodiert. Loch Ness (Schott­land). Der bekannte britische Rennfahrer und Inhaber des Weltgeschwindigkeitsrekords für Landfahrzeuge, John Cobb, ist gestern nachmit­tag auf dem schottischen See Loch Ness bei der Explosion seines Düsenmotorbootes tödlich ver­unglückt. Mit seinem RennbootCrusader wollte Cobb einen neuen Geschwindigkeitsrekord für Motorboote aufstellen.

Französischer Stabschef besucht Jugoslawien. Paris. Der Chef des Generalstabes des fran­zösischen Heeres, General Blanc, reist nach Ju­goslawien, um an Manövern teilzunehmen und militärische Einrichtungen zu besichtigen.

Untertassengeschwader über Schweden. Stock­holm. Eine förmliche Invasionfliegender Un­tertassen in allen Größen, Formen und Farben war nach Augenzeugenberichten und fotografi­schen Aufnahmen, die gestern die Titelseiten al­ler Stockholmer Zeitungen füllten, am Wochen­ende über Süd- und Südwestschweden zu beob­

achten. Zu diesen Himmelserscheinungen erklärt die Sternwarte Bergedorf bei Hamburg gestern, daß alle Anzeichen einwandfrei auf Meteore hin­deuteten.

Erst degradiert, dann pensioniert. Washington.

Die nach den Unruhen im alliierten Kriegs­gefangenenlager Koje als Lagerkommandanten abgelösten amerikanischen Generale Dodd und Colson, die zunächst zum Oberst degradiert wor­den waren, sind inzwischen in aller Stille in den Ruhestand versetzt worden.

Vorerst kein Streik. Los Angeles. Die 40 000 streikenden Arbeiter derLockhead- und Douglas- Flugzeugwerke in Kalifornien haben gestern ih­ren Ausstand vorläufig eingestellt. Die Lohn­verhandlungen sollen in Washington fortgesetzt werden. Präsident Truman hatte die Betriebs­leitungen und die Arbeiter aufgefordert, den Streik im Interesse der Landesverteidigung un­verzüglich zu beenden.

Zusammenarbeit Mongolei China. Peking. Eine Regierungsdelegaüon der mongolischen Volksrepublik ist in Peking eingetroffen. Es wird erwartet, daß die Verhandlungen zu einer enge­ren militärischen Zusammenarbeit zwischen China und der Äußeren Mongolei, vielleicht sogar zu einer Teilnahme der Mongolei am Koreakrieg führen werden.

Aufrüstung Japans nur in vier Jahren. Tokio.

Der japanische Ministerpräsident Joschida hat sich in einer öffentlichen Rede dafür eingesetzt, daß eine Wiederaufrüstung Japans von der Zu­stimmung des gesamten Volkes und nicht nur der Regierung abhängig gemacht werden sollte. Weiter sagte Joschida, eine Aufrüstung sei nur innerhalb von vier Jahren möglich und auch dann nur, wenn der Wiederaufbau im gleichen Tempo fortschreite wie bisher.

WIRTSCHAFT

Ungleiche Wirtschaftsentwicklung

Förderung für Südwürttemberg notwendig

REUTLINGEN. In ihrem letzten Mitteilungs­blatt weist die Industrie- und Handelskammer Reutlingen an Hand einer vergleichenden Über­sicht nach, daß die wirtschaftliche Position Süd­württembergs gegenüber der industriellen Ent­wicklung im Norden des neuen Landes Baden- Württemberg nachhinkt, und zwai besonders in­folge Auflösung wesentlicher Teile der Indu­strie in Oberndorf und FrledriChshafen sowie durch die Nachkriegsverluste der Uhrenindustrie in Schwenningen. Es müsse deshalb ein Anlie­gen der Wirtschaftsförderung im Südwestslaat sein, den bereits von der ehemaligen Regie­rung Württemberg-Hohenzollerns beschrittenen Weg weiterzugehen und den zurückgeworfenen Industrieorten durch besondere Unterstützung wieder aufzuhelfen.

Höhere Eisenpreise wirken sich aus

Schwierigkeiten bei den Verarbeitern

FREIBURG. Die höheren Eisenpreise konnten, wie der Wirtschaftsverband der Eisen- und Me­tallindustrie Baden mitteilt, nur in den aller­wenigsten Fällen in die Verkaufspreise über­nommen werden, so daß die Verarbeiter, insbe­sondere die Hersteller konsumnaher Artikel, teil­weise in Schwierigkeiten gekommen seien. In eine ähnliche Lage sei die Investitionsgüterindu­strie geraten. Auch im Auslandsgeschäft hätten die höheren Eisenpreise nur in ganz wenigen Fällen weitergegeben werden können, denn der zunehmende Druck der internationalen Konkur­renz vermindere die Bereitschaft ausländischer Abnehmer, höhere Preise für deutsche Waren zu zahlen.

Ein Mittelstands-Steuerprogramm

Erleichterungen für kleine und mittlere Betriebe

BONN. Ein eigenes Steuerprogramm wollen die Spitzenverbände der mittelständischen Wirt­schaft in einigen Tagen bekanntgeben. Es um­faßt Abänderungsvorschläge zur Einkommen-, Gewerbe- und Umsatzsteuer, teilt der Zentral­verband des deutschen Handwerks mit. Die Vor­schläge zur Einkommensteuer zielen vor allem auf die Verbesserung kleiner und mittlerer Ge­werbetriebe ab. Bei der Gewerbesteuer sollen die Nachteile der Einzeluntemehmer und Per­sonengesellschaften gegenüber den Kapitalgesell­schaften gemildert werden. Nachdem die Steuer- und Kreditpolitik seit der Währungsreform haupt­sächlich die Großbetriebe gefördert habe, sei nunmehr ein Ausgleich zugunsten der Klein- und Mittelbetriebe notwendig.

Lehranstalt des Textileinzelhandels

Am 1. Oktober Semesterbeginn

NAGOLD. Die Lehranstalt des deutschen Tex­tileinzelhandels in Nagold nimmt zum 1. Oktober ihren Semesterbetrieb auf. In einem zweisemest- rigen Lehrgang wird den zukünftigen Textil­kaufleuten ein umfassendes Wissen vermittelt Einige Studienplätze sind noch frei; Interessen­ten wenden sich umgehend an das Sekretariat der Lehranstalt des deutschen Textileinzelhan­dels, Stuttgart, Paulinenstraße 40. Zur Eröffnung am 1. Oktober werden zahlreiche führende Per­sönlichkeiten des deutschen Textileinzelhandel* und seiner Organisationen erwartet.

Zur Information

Die Steinkohlenförderung ist in der Woche vom 22. bis 27. September von 2 384 364 t auf 2 390 838 t weiter gestiegen; die durchschnittliche Förderung je Arbeitstag erhöhte sich dadurch von 397 396 t auf 398 473 t.

Eine Zinserhöhung für die Ausgleichsforde­rungen der Kreditinstitute gegenüber den Ländern verlangen die in der Raiffeisenorganisation zusam­mengeschlossenen Kreditgenossenschaften in einer erneuten Eingabe an den Finanzausschuß des Bun­desrates und an die beteiligten Bundesminister.

Der Deutsche Möbel-Fachverband hält vom 24. bis 26. Oktober in Stuttgart seine Bundes­tagung ab. Der Möbelfachverband Württemberg- Baden als Veranstalter hat Möbelhändler aus dem ganzen Bundesgebiet zu dieser Tagung eingeladen.

DieSüdwestdeutsche Junggeflü­gel s c h a u die größte Junggeflügelschau Süd­deutschlands, die seit 1949 alljährlich in Tuttlingen stattfindet ist für dieses Jahr auf den 7. bis 9. No­vember in Tuttlingen festgelegt.

ROMAN VON H. R LARSEN

Copyright by Dr. Paul Herzog, Tübingen durch Verlag v. Graberg & Görg, Wiesbaden

(4. Fortsetzung)

Dr. Aiwa springt auf, sein knochiges Ge­sicht ist feuerrot, als hätte er eben rechts und links Schläge bekommen.

Aber er sagt nichts. Er dreht sich um und verläßt mit etwas schwankenden Schritten, als sei er leicht betrunken, das Zimmer. Dr. Burgdorf sieht ihm ungerührt nach.

Er ist doch ein Schuft! murmelt er. Aber es ist keine Spur von Erregung an ihm zu sehen.

Ueber seinen Schreibtisch gebeugt, wartet er ein paar Minuten. Dann geht er schnell durch sein Arbeitszimmer auf den Flur, über­zeugt sich, daß der andere gegangen Ist, und schließt.die Tür ab.

Eine Viertelstunde später erlischt in der Villa das Licht. Zwei Todfeinde schlafen unter einem Dach.

*

Am gleichen Abend tagt imGoldenen Lamm in dem schönen, gemütlichen Hinter- Zimmer mit den vielen Hirschgeweihen, den ausgestopften bunten Wilderpeln und finster blickenden Uhus der Musikverein des Städt­chens. Das ist eine private Vereinigung, von wohlgesinnten Bürgern gegründet, die die Pflege des Musiklebens auf ihre Fahne ge­schrieben haben. Vier von ihnen bilden ein Quartett, das in jedem Winterhalbjahr eine bestimmte Anzahl von Konzerten gibt, zu denen jeweils eine auswärtige Attraktion herangezogen wird, ein bekannter Pianist, ein Geiger, ein Sänger oder eine Sängerin. Die Konzerte sind in der kleinen Stadt sehr beliebt, die ohne ständiges Theater lebt und auch sonst arm an künstlerischen Darbietun­gen ist.

An diesem Abend sind im Hinterzimmer de* ^Goldenen Lamms an dem großer, ovalen

Tisch versammelt: Der Bankier Arnold Ber­ger, der ein eifriger Förderer des Vereins ist, der Arzt Dr. Olbrich, ein Original, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit einem ver­knitterten Gesicht, in dem ein stacheliger Bart wuchert, der Musik ebenso leidenschaft­lich verbunden wie seinem Beruf. Wer es hören will, dem verkündet er, daß viele Krankheiten aus der Seele entstehen und daß manchmal die beste Medizin die Musik ist. Man sieht ihn deshalb auch oft auf seine Pa­tientenbesuche seine geliebte Geige mitneh­men, und die ganze Stadt ist voll von wun­derlichen Geschichten, die sich schon mit dem Arzt, seiner Geige und seinen Kranken er­eignet haben. Er Ist aktives Mitglied des Quartetts. Außerdem ist anwesend der Apo­theker Anselm Gonterberg, der sehr spät gekommen ist, aber an den wichtigen Be­schlüssen des Abends doch noch mitwirken konnte, Professor Tomaschik, Studienrat am Städtischen Gymnasium, der im Quartett das Cello spielt, Rechtsanwalt Dr. Bindermann, ein alter Herr mit einem kleinen, sorgfältig gestutzten weißen Bart, der im Musikverein den Vorsitz übernommen hat und seine Ge­schäfte führt.

Ich hoffe, sagt Rechtsanwalt Dr. Binder­mann soeben,daß die heute leider nicht an­wesenden Herren Dr. Aiwa und Dr. Burgdorf mit dem von uns beschlossenen Programm einverstanden sind. Wir freuen uns, daß bei unserem nächsten Konzert die beiden Töchter des Herrn Dr. Olbrich zum ersten Male als Geigerinnen auftreten werden. Ich habe die beiden jungen Damen schon spielen hören, und kann Ihnen zu meiner Freude versichern, daß beide sich ihres Vaters und Lehrmeisters würdig zeigen werden. Sie sind tüchtige Geigerinnen geworden. Die Stadt wird auf­horchen. Und nun hat Herr Dr. Olbrich noch eine besondere Ueberraschung für Sie. Bitte. Herr Dr. Olbrich

Als der Arzt sich bewegt, sieht man, daß er ein kleiner, ungemein beweglicher Herr ist. Seine Augen liegen unter der hohen Stirn in tiefen Höhlen. Sie leuchten seltsam und sind von einer ständigen Unruhe bewegt.

Ja, meine Herren, sagt er,es ist wirk­lich eine Ueberraschung, was ich Ihnen zu sagen habe. Es ist Ihnen sicher schon auf­gefallen, daß wir, wenn Sie von meinen Töchtern absehen, die ja noch Anfängerinnen sind, für mich wenigstens, keinen Gast für unser nächstes Konzert haben. Es ist mir ge­lungen, nach langwierigen Verhandlungen, wie ich Ihnen verraten kann, Sabine Pertus zu gewinnen. Sabine Pertus singt bei uns.

Er setzt sich, als hätte er der Welt Hell verkündet. Die Herren klatschen.

Dr. Olbrich aber steht sofort wieder auf. Er zerrt seine Aktentasche auf den Tisch und bringt zwei Schallplatten zum Vorschein.Um Ihnen einen Vorgeschmack dessen zu geben, was uns mit Sabine Pertus bevorsteht, habe ich mir erlaubt, zwei Schallplatten von ihr mitzubringen, die wir ja gleich einmal spielen können . .

Und beweglich wie ein Wiesel rennt er um den ovalen Tisch herum, ln die Ecke, wo das Grammophon steht, zieht es auf und legt die erste Platte auf den kreisenden Teller.

Im Zimmer wird es still. Carmen-Klänge und unsagbar süß, kristallklar, beseelt und feurig singt die Stimme der Sabine Pertus. Draußen am Wall von Sevilla .

Die Herren sind begeistert. Sie kennen na­türlich alle Sabine Pertus. Aber es ist jedes­mal ein Erlebnis, sie. wenn auch nur von der Schallplatte, zu hören

Das haben Sie großartig gemacht, Doktor", sagt Rechtsanwalt Bindermann,großartig. Man hat in der letzten Zeit wenig von Sabine Pertus gehört. War sie krank?

Im Gegenteil. Sie hat im Ausland, wie man so sagt, Triumphe gefeiert. Ihr Weltruhm Ist heute vollkommen. Und wir, meine Herren, haben das Glück, daß sie nach ihrer Heimkehr hier, hier bei uns, wieder zum ersten Male singt. Zum ersten Male in ihrer Heimat. Warum, das ist mir selbst ein Rätsel. Seine Stimme sinkt zu einem eindringlichen Flü­stern herab:Ich habe, wissen Sie, selbst nicht an den Erfolg meiner Bemühungen geglaubt. Ich habe nur gedacht: die müßte einmal ei uns singen. Und ich habe mein Glück versucht.

Es war nicht sehr einfach, sie überhaupt u finden und zu erreichen. Das hat die meiste Mühe gemacht. Aber als Ich sie erst hatte, da geschah etwas Erstaunliches: Auf mein erstes Telegramm kam sofort eine zusagende Ant­wort. Ich war selbst starr. Keine Bedingungen, keine Honorarforderung ich war da auf allerhand gefaßt! nichts. Einfach einJa. Und der Tag ihrer Ankunft.

Erstaunlich, sagt der alte Rechtsanwalt. Beinahe rätselhaft . .

Ja, der gute Dr. Olbrich wischt sich den Schweiß der Aufregung von der Stirn,ich habe auch gedacht, da muß ein Geheimnis dahinterstecken. Die berühmte Sabine Pertus kommt, ohne zu fragen, wieso und warum, zu uns, in unser kleines Nest ni, forschen wir nicht weiter nach, es würde ja doch zu nichts führen, vielleicht löst sich das Geheim­nis. Wir freuen uns, daß sie kommt.

Wann erscheint sie denn? fragt der Sta­dienrat Tomaschik, ein streng aussehender Herr mit goldener Brille und dünnem, weißem Haar, das in der Mitte scharf gescheitelt Ist. Morgen!

Morgen?

Ja, schon morgen. Das zweite Rätsel. Sie weiß natürlich, daß unser Konzert erst in acht Tagen stattfindet. Ich habe Zimmer für sie im Kaiserhof bestellt, und dann wird es sich nicht umgehen lassen, daß zwei von den Herren die Künstlerin am Bahnhof abholen und ins Hotel geleiten.

Das übernehme ich gern, sagt der Bankier Berger

Ich komme mit, sagt Studienrat Tomaschik. Um/il2 Uhr morgen also am Berliner D-Zug, meine Herren. Seien Sie pünktlich. Damit wären wir am Ende des offiziellen Teils, erklärt Dr. Bindermann,ich hoffe nur, daß Sabine Pertus nicht ebenso schnell ab­sagt, wie sie zugesagt hat.

Die Herren bleiben natürlich noch zusam­men. Das Zimmer ist warm und gemütlich, da» Bier ausgezeichnet, und es wird der Augen­blick kommen, wo der Bankier Arnold Berger die Herren zu einem Glase Wein einlädt.

(Fortsetzung folgt)