DONNERSTAG, 2 4. JULI 1952
Streit wegen Südbadens Schulden
Gegenseitige Vorwürfe / Ernennungsurkunden für zwei Regierungspräsidenten Drahtbericht unserer Stuttgarter Redaktion
STUTTGART. Die Landesversammlung in Stuttgart hat gestern in der letzten Sitzung vor den Ferien eine umfangreiche Tagesordnung mit 42 Punkten bewältigt. Mehrere Interpellationen konnten allerdings noch nicht beantwortet werden und die meisten Anträge sind ohne Aussprache an die zuständigen Ausschüsse überwiesen worden.
Zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen wurde die angebliche Verschuldung des Landesteils Südbaden gemacht. Die Erörterung des Themas wurde spruchreif, nachdem neben der CDU auch die Koalitionsparteien einen Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses eingebracht und die Sozialdemokraten die Aufnahme dieses Gegenstandes auf die Tagesordnung beantragt hatten.
Der Abg. M ö 1 le r (SPD) sprach von „mysteriösen Vorgängen“ in der badischen Haushaltswirtschaft. Der Haushaltsvoranschlag des südbadischen Landesteils weise einen Fehlbetrag von 130 Millionen DM auf. „Sie werden noch ihr blaues Wunder erleben, wenn die Regierung aus ihren bisherigen Andeutungen herauskommt.“ Der Fraktionsvorsitzende der CDU, Gurk, bezweifelte die Richtigkeit dieser Angaben. Die Diskussion nahm heftige Formen an, als der Abg. H i 1 b e r. (CDU) der Regierung vorwarf, ihr ginge es nur darum, „recht viele Kübel Dreck auszugießen“. Er teilte mit, der Leiter der Abwicklungsstelle des badischen Finanzministeriums mit seinen Beamten verböten, den Abgeordneten der Opposition irgend welche Auskünfte zu geben. Die vom Ministerpräsidenten angeführten Zahlen über die südbadische Verschuldung stiegen „anscheinend auf Grund des Multiplikators“ von Stunde zu Stunde an.
„Diese Mammutzahlen spuken nur im Kopf des Ministerpräsidenten.“ Unbestritten seien die sozialen Leistungen Badens und jedermann wisse, daß die Besatzungskosten in der französischen Zone übermäßig hoch gewesen seien. Die ganze Südweststaatpropaganda sei mit dem Argument der badischen Armut bestritten worden. Unfair sei es, jetzt so zu. tun, als habe man von den badischen Schulden nichts gewußt. „Uns scheint, es geht dem Ministerpräsidenten nur darum, sich um die Einlösung der Wechsel zu drücken, die er vor der Volksabstimmung präsentiert hat. Wir lassen aber unser Nest nicht beschmutzen.“
Ihm antwortete Dr. Maier, die Erörterung der badischen Schuldenwirtschaft sei durch den von der CDU ausgesprochenen Verdacht
Verwaltungsreform der Ostzone
Neuer Menschenraub in Berlin
BERLIN. Die sowjetisch lizenzierte Presse stand gestern ganz im Zeichen der außerordentlichen Sitzung der Volkskammer, auf der das neue Gesetz beraten werden soll, durch das die fünf Länderregierungen mit ihren Parlamenten aufgelöst und durch 14 „Bezirksräte“ und „Bezirkstage“ ersetzt werden sollen. Damit wolle man, wie das SED-Organ „Neues Deutschland“ schreibt, eine .neuere, höhere Form der Demokratie“ einführen. Die. Staats- und Verwaltungsreform diene der „Stärkung der aktiven Rolle des Staates“.
Ein neuer Fall von doppeltem Menschenraub durch die sowjetzonale Volkspolizei wurde gestern bekannt. Der 23jährige Westberliner Gustav Kahl und der 18jährige Horst K u t z k e, die wegen ihrer politischen Tätigkeit von der Volkspolizei gesucht wurden, sind am II. Juni mit Hilfe eines sowjetzonalen Agenten an die Zonengrenze gelodet, dort von vier Volkspolizisten und zwei Sowjet-Soldaten festgenommen und in die Sowjetzone verschleppt worden, teilt die Westberliner Polizei mit.
in Fluß gekommen. Er habe es für wünschenswerte gehalten, die Presse über die tatsächliche finanzielle Lage des neuen Bundeslandes zu unterrichten. Im übrigen seien die angeführten Zahlen keine Erfindungen der Regierung, sie stammten vielmehr von einem „erprobten Beamten der badischen Finanzverwaltung“, der der Regierung eine „Dokument“ zugeleitet habe. Die Parteien einigten sich, die beiden entsprechenden Anträge dem Untersuchungsausschuß zu überweisen.
Innenminister Ulrich sagte in Beantwortung einer Großen Anfrage der CDU, die vorläufige Regierung werde alle Möglichkeiten ausschöpfen, damit die Straßenarbeit an der vorgesehenen Autobahnstrecke von Karlsruhe nach Basel vorangetrieben werden könnten.
Ministerpräsident Mr. Maier beantwortete
zwei Anfragen der CDU, die sich auf Karlsruhe und Freiburg bezogen. Die Interpellanten wollten wissen, was die Regierung zur Entschädigung der beiden Städte tun wolle, nachdem als Sitz der neuen Landesregierung Stuttgart vorgesehen sei. Der Ministerpräsident sicherte den beiden Städten eine Unterstützung zu, ohne leichtfertige Versprechungen zu machen. Bei der Verteilung der Sitze der Behörden müsse auch Tübingen berücksichtigt werden.
In diesem Zusammenhang gab Dr. Maier bekannt, daß er gestern die Ernennungsurkunden für zwei Regierungspräsidenten unterzeichnet habe. Zum Regierungspräsidenten in Nordbaden wurde Dr. Huber (SPD) und zum Regierungspräsidenten von Südbaden der Abgeordnete der FDP, Dr. W a e 1 d i n , ernannt
Minister Ulrich beantwortete auch zwei Große Anfragen über die Gemeinde- und Kreisordnung und über das Gemeindewahlrecht. Über dieses Thema werden wir noch ausführlich berichten.
SPD greift Affäre Schmeißer auf
„Entweder scharfe Strafe für den Agenten — oder Blankenhorn muß gehen“ Drahtbericht unserer Bonner Redaktion
BONN. Aus Kreisen des SPD-Parteivorstan- des wird erklärt, die Beschuldigungen des früheren Agenten Schmeißer gegen Ministerialdirektor Blankenhorn müßten nachgeprüft werden. Sie konzentrierten sich auf die vier Fragen, ob Blankenhorn geheimes Nachrichtenmaterial an den französischen Nachrichtendienst gab, ob er laufend Gelder, Lebensmittel und Genußmittel von französischen Agenten erhielt, ob er den französischen Nachrichtendienst um Unterstützung der CDU gebeten habe, und schließlich auch auf die Frage, ob Blankenhorn die Möglichkeit einer Evakuierung von Kabinettsmitgliedem mit französischen Stellen diskutierte.
Das seien Beschuldigungen, so heißt es in einer schriftlichen Erklärung der SPD, wie sie bisher noch niemals gegen einen führenden Kopf der Bundesregierung, der zugleich Ver
trauensmann des Bundeskanzlers ist, erhoben wurden. Sollten sich die Beschuldigungen als Verleumdungen herausstellen, „dann muß der Verleumder mit der ganzen Schärfe des Gesetzes bestraft werden und Herr Blankenhorn Genugtuung erhalten“. Im anderen Fall wäre es selbstverständlich, daß Blankenhorn nicht einen Tag länger im Amt bleiben dürfe.
Es ergäbe sich auch angesichts der engen Verbindung zwischen Blankenhorn und dem Bundeskanzler die Frage, .ob dann der Bundeskanzler sein Amt noch länger ausüben dürfe. Was das deutsche Volk von Dr. Adenauer und Blankenhorn erwarte, heißt es in der Erklärung, sei, daß sie durch eine Klage vor einem ordentlichen unabhängigen Gericht ihrerseits alles Notwendige und Mögliche zur Klärung „dieser Skandalaffäre hin“. Man könne solche Dinge nicht in der Stille erledigen.
Kleine Weltchronik
25. Tagung des Gesamtvorstandes des Gemeindetags Württemberg-Hohenzollern. Tübingen. — Der Gesamtvorstand des Gemeindetags trat in Aulendorf zu seiner 25- Sitzung zusammen. Unter dem Vorsitz des Präsidenten, Oberbürgermeister Kalbfell, Reutlingen, wurden u. a. Fragen der eigenen Verbandsorganisation beraten.
Dr. Gebhard Müller im Rundfunkrat. Stuttgart. — Die Verfassunggebende Landesversammlung von Baden-Württemberg hat gestern den früheren Staatspräsidenten von Württemberg-Hohen- zollern, Dr. Gebhard Müller (CDU) einstimmig in den Rundfunkrat des Südwestfunks gewählt.
Wehrklage: Entscheidung am 30. Juli. Karlsruhe. — Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat gestern bekannt gegeben, daß sein erster Senat am kommenden Mittwoch, 30. Juli, die Entscheidung über die Zulässigkeit der Wehrklage verkünden wird.
45 Jahre Zuchthaus für amerikanischen Soldaten. München. — Ein amerikanisches Militärgericht in München verurteilte einen amerikanischen Soldaten wegen schwerer Körperverletzung und Vergewaltigung zweier deutscher Frauen zu 45 Jahren Zuchthaus. Der Verurteilte wurde außerdem aus der Armee ausgestoßen.
Fast 2,58 Milliarden DM Steuereinnahmen im Juni. Bonn. — Bund und Länder haben im Juni nach vorläufigen Berichten zusammen 2,58 Milliarden DM Steuern eingenommen.
Deutsch-schweizerisches Abkommen über Schutz- rechte unterzeichnet. Bonn. — Das Bundesjustizministerium gab die Unterzeichnung eines deutschschweizerischen Abkommens über die Wiederherstellung gewerblicherfSchutzrechte bekannt.
Gesteigerter Luftverkehr in der Bundesrepublik. Bonn. — Die Landungen unp Starts auf den Flughäfen des Bundesgebietes und in Westberlin haben nach einer Mitteilung des Statistischen
Bundesamtes mit Einführung der Sommerflugpläne im Mai fast 11 Prozent gegenüber dem Vormonat zugenommen.
Margaret Truman besucht Deutschland. Bonn. — Die Tochter Präsident Trumans, die sich gegenwärtig auf einer Europareise befindet, wird sich vom 8. bis 12. August in der Bundesrepublik aufhalten und dabei auch Westberlin einen Besuch abstatten.
Deutsche Delegation nach Chile. Frankfurt. — Eine deutsche Delegation unter der Leitung von Geheimrat Kundt vom Bundesinnenministerium ist gestern nach Santiago abgeflogen, um mit den chilenischen Behörden über Einwanderungsmöglichkeiten zu verhandeln.
Kultusminister fordern höhere Lehrerbesoldung. Hannover. — In einem offenen Brief an Bundesfinanzminister Schäffer fordert der niedersächsische Kultusminister Richard Voigt als Präsident der ständigen Kultusministerkonferenz, daß die Lehrergehälter aufgebessert werden.
Sowjetzone kürzt Zuwendungen an Kirche. Berlin. — Die Regierungen der sowjetzonalen Länder Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg haben die staatlichen Zuwendungen an die Evangelische Kirche um 1,4 Millionen Ostmark gekürzt.
Deutscher Arzt für Eva Peron. Kassel. — Der Kasseler Leberspezialist und Facharzt für innere Krankheiten, Prof. Dr. Heinrich Kalk, ist in der Nacht zum Mittwoch von Frankfurt nach Argentinien geflogen, um Eva Peron, die Gattin des erkrankten argentinischen Staatspräsidenten, zu behandeln.
Größte USA-Granatenfabrik wegen Stahlmangels geschlossen. Washington. — Die größte Granatenfabrik der amerikanischen Streitkräfte in St. Louis ist wegen akuten Stahlmangels geschlossen worden, gab die USA-Armee am Dienstag in Washington bekannt.
WIRTSCHAFT
Kein weiteres Absinken der Textilpreise
BONN. Die ansteigende Tendenz in der Bekleidungsindustrie, die sich 1951 bemerkbar machte, habe sich auch auf das erste Halbjahr 1952 übertragen, wie der Bundesverband der Bekleidungsindustrie in Bonn mitteilt. Die Mengenkonjunktur stehe im Vordergrund. Gegenwärtig hätten die Preise ihren äußersten Tiefstand erreicht, betont der Verband; ein weiteres Absinken der Preise sei nicht mehr möglich.
Der Umsatz der Bekleidungsindustrie steigerte sich im Bundesgebiet von 2,53 Milliarden DM
1950 auf 3,35> Milliarden DM im Jahre 1951. Dem Umsatzwert nach stand die Bekleidungsindustrie
1951 unter den im Bundesgebiet vorhandenen 68 Industriezweigen an neunter Stelle; nach der Zahl der Betriebe lag sie Ende 1951 auf dem fünften, nach der Zahl der Beschäftigten auf dem sechsten Platz.
Billigere Zigaretten nicht vor 1953
HAMBURG. Mit der Ausgabe von verbilligten Zigaretten ist nicht vor Anfang 1953 zu rechnen, teilte die Zigarettenindustrie in Hamburg gestern mit. Erst müßten die Maschinen auf die neu» Produktion eingestellt und die alten Lagerbestände verbraucht werden. — Der Bundestag wird sich voraussichtlich erst nach den Parlamentsferien mit dem Gesetzentwurf beschäftigen.
Neue Aufgaben für die Drogerien
KÖNIGSTEIN. Im Mittelpunkt einer Tagung des Präsidialrates des Verbandes deutscher Drogisten in Königstein im Taunus standen die Arbeiten an einem Arzneimittelgesetz, das Unter anderem eine stärkere Einschaltung der Drogerie in die vorbeugende Gesundheitspflege regeln wird. Dabei wurde die Notwendigkeit betont, ein Gewerbezulassungsgesetz auf der Grundlage qualifizierter Sachkunde für die Handelsberufe zu schaffen. Ein solches Gesetz werde nach der Ratifizierung des Generalvertrages und nach Aufhebung der unbeschränkten Gewerbefreiheit im amerikanischen Besatzungsgebiet akut. Da der Drogistenberuf ein besonderes Maß an Sachkunde und eine langjährige Fachausbildung erfordere. und Fehler durch die Betätigung von Nichtfachleuten gesundheitliche Schädigungen der Bevölkerung zur Folge habe, werde der Drogistenberuf einer der ersten sein, die auf neuer Rechtsbasis bundesgesetzlich geregelt werden.
Firmen und Unternehmungen
STUTTGART. — 6 Prozent Dividende bei Kammgarn Bietigheim. Das Unternehmen erzielte im vergangenen, zum 31.12.1951 abgeschlossenen Geschäftsjahr trotz allgemein ungünstiger Lage einen Reingewinn von 277 130 (Vorjahr: 309 300) DM, der sich um den Vortrag auf 425 250 DM erhöht. Die HV beschloß am 22. Juli, daraus wieder 6 Prozent Dividende auf das AK. von 3,78 Millionen DM auszuschütten Für freiwillige soziale Leistungen wurden 353 800 (288 300) DM aufgewendet. Nach den Absatzschwierigkeiten und reduzierten Preisen des Vorjahres hat sich inzwischen die Lage wieder stabilisiert. Infolge der anziehenden Rohstoffpreise konnten größere Aufträge hereingenommen werden so daß die Gesellschaft schon ab 1. April 1952 wieder voll beschäftigt ist.
BONN. — Zwei Chemiewerke aus alliierter Kontrolle entlassen. Als Ergebnis der Aufspaltung ehemaliger Vermögensbestandteile der IG-Farbenindu- strie-AG 1. L. hat die Alliierte Hohe Kommission die Titan-Gesellschaft mbH. Leverkusen, und da» Chemiewerk Homburg, Frankfurt a. M., aus ihrer Kontrolle entlassen. Die Bindungen der Titan-Gesellschaft an die ehemalige IG-Farbenindustrie AG werden vollkommen gelöst. Das Unternehmen, das Farbprodukte herstellt, ist die erste der Zwölf unabhängigen Einheitsgesellschaften, die im Zuge der Aufspaltung des IG-Farben-Vermögens gebildet werden sollen.
Börsen: Grundtendenz nicht unfreundlich
STUTTGART. Der Ordereingang an den Börsen in der Bundesrepublik bewegte sich zwar weiter in engen Grenzen, doch war die Grundtendenz nicht unfreundlich Teilweise sah sich der Berufshandei zu kleinen Deckungen veranlaßt, denen ausreichendes Angebot gegenüberstand. Größere Kursbewegungen blieben auf einzelne Werte beschränkt. Am Montanmark, bestand reges Interesse für Hoesch, die sich mehrprozentig verbessern konnten. Von dieser Entwich! ung wurden auch die übrigen Bergbauwerte günstig beeinflußt IG Farben konnten sich gut behaupten. Großbanken tendierten erneut freundlicher und konnten sich leicht erholen.
Die Absicht, die mengenmäßig unbeschränkten Wareneinfuhren aus den OEEC-Staaten von bisher 75 auf 80 Prozent zu erhöhen, hat die Bundesregierung dem Europäischen Wirtschaftsrat am Dienstag mitgeteilt. Der Rat der OEEC wird zu diesem Vorschlag Stellung nehmen.
mmm vcn%«u«ui 5ocne»
«SS?
(Urheberrechtschutz Hermann Berger, Wiesbaden) Nachdrude verboten.
1 .
Abends gegen neun Uhr telefonierte Bert von Bremen aus mit Nell. Wenn er mit Nell sprach, verlor seine Stimme den gewohnten harten Klang.
„Höre mal. Nell, es zieht sich hier in die Länge. Alle Achtung vor den Bremern, die sind noch zäher als wir.“
„Ist doch gar nicht möglich", antwortete Nell mit freundlicher Ironie.
„Tatsache, wenn du’s auch nicht glauben willst. Die Enkeworths sind wie Leder. Aber das Schiff bekommen wir trotzdem, und zwar für den Preis, den wir wollen. Auch die Bedingungen sollen sie uns nicht vorschreiben. Wir lassen nicht locker. Was machst du, Nell?“
„Eben hab’ ich zum Grammophon getanzt. Den Chopin-Walzer, du weißt ja. Wunderbar! Und jetzt lege ich mir eine Patience.“
„Glaust du, daß sie aufgeht?“
„Sie muß aufgehen."
„Wünschst du dir etwas?“
„Und ob! Immer das gleiche .. .* , ,
Erlachte...
Sie fragte: „Bleibt Ihr die Nacht über ln Bremen?“
„Ausgeschlossen. Sobald wir hier fertig sind, fahren wir nach Hamburg zurück. Schlaf gut, Kind, ich wecke dich nicht...“ £i n 8 wieder in das Sitzungszimmer zurück. Der große dunkelgetäfelte Raum war grau von Zigarrenrauch. Über den grünbezogenen Tisch verstreut lagen Zeichnungen und Tabellen. Rundherum auf den hochlehnigen Stühlen saßen die Schiffs
makler, Enkeworth, Vater und Sohn; ein Prokurist und eine Stenotypistin der Firma; ferner Bert Heikens Bruder Jörn und die Anwälte und Sachverständigen, die man zugezogen hatte.
Der Kampf begann von neuem.
Endlich, um drei Uhr in der Nacht, waren die Verhandlungen abgeschlossen und die Verträge wurden unterzeichnet. Jörn und Bert hatten ihr Ziel erreicht: die „Ilse- Marianne“, ein Frachtdampfer von viertausend Tonnen, ein tüchtiges Schiff in gutem Zustand, hatte den Besitzer gewechselt und war von der Hamburgischen Helken-Linie übernommen worden.
Die Anwälte und Sachverständigen verabschiedeten sich. Gleich darauf standen die Heikens mit den Enkeworths auf der Straße. Die Frühlingsnacht war mild und dunkel. Brake, der Chauffeur der Brüder Heiken, riß den Schlag des schweren Wagens auf.
„Jungs“, krähte der alte Inkeworth mit seiner hellen Stimme, die sich leicht überschlug, „wollt Ihr wirklich schon nach Hamburg zurück? Ist doch so schön in unserem alten Bremen. Darf ich Euch einen Vorschlag machen? Wir fahren zu den Goffs, Ihr kennt sie 1a. Die haben heute ein Gartenfest, vor fünf Uhr wird da nicht Schluß gemacht. Und dann ist es hell, da kommt Ihr besser über die Landstraße.
„Machen wir“, sagte Jörn.
Bert ergab sich schweigend in Schicksal.
Die Goffs waren Südamerika-Exporteure, sie besaßen draußen an der Weser ein hübsches Landhaus. In den Bäumen hingen Lampions, jemand spielte leise Ziehharmonika. Die Brüder Heiken wurden stürmisch begrüßt. Das Instrument setzte kräftiger ein und die Jugend begann auf der Terrasse zu tanzen.
sein
Bert traf einige Leute, die er kannte. Man sprach über dies und jenes. Indessen tanzte Jörn mit Corsr Enkeworth. Bert, der hin und wieder einen Blick zu den beiden hinüberwarf, stellte mit Genugtuung fest, daß sich die schlanke, große Cora lebhaft für Jöm interessierte und daß der Bruder ihr den Hof machte.
Prächtiges Mädel, dachte Bert, wirklich ein hübscher Kerl, und dabei so frisch und gesund. Und hat sicher den festen Charakter vom Vater. Die wäre etwas für . Jörn, die würde ihn schon an die Kandare nehmen. Nell müßte sie einmal nach Hamburg einladen ...
Bald nach vier Uhr war allgemeiner Aufbruch; ein Wagen nach dem anderen setzte sich in Bewegung. Es war schon hell.
Bert verabschiedete sich von Cora: „Wenn Sie einmal nach Hamburg kommen, müssen Sie telefonieren. Meine Frau würde sich sehr freuen.“
Cora lächelte und sah Jörn ln die Augen.
Der Wagen der Heikens jagte über die Landstraße. Sie waren schon eine Strecke gefahren, da fragte Bert: „Gefällt sie dir?“
Jöm antwortete nicht. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sein schmales, blasses Gesicht war ganz ohne Leben.
Um sechs Uhr passierten sie die Hamburger Elbbrücken. Brake fuhr wie der Teufel. Die beiden Brüder schliefen im Rücksitz. Es war der Morgen des 31 Mai 1939. Uber dem Strom lag dünner Nebel.
Brake durchraste die Stadt und hielt an der Alster vor dem Portal eines der großen Hotels. Jörn stieg aus und reichte dem Bruder die Hand. Er war sichtlich müde.
Bert sah die hohe, etwas vorgeneigte Gestalt des Bruders in der Drehtür verschwinden. Jörn wohnte schon seit fast zwei Jahren im Hotel — seit Berts Heirat.
Der Wagen durchquerte weiter die Stadt und erreichte schließlich die Elbchaussee. In der Tiefe lag der Strom, er glitzerte in der Frühsonne; der Nebel hatte sich zerteilt.
Nach kurzer Zeit hielt der Wagen vor einem Gartenportal der Ovelgönne.
Brake stieg aus und öffnete das Tor. Die weite Rasenfläche leuchtete in frischem Grün Im Hintergrund, breit und gewichtig, stand das Heiken-jlaus mit seinem Säulenvorbau, geiblich-weiß in neuem Ölanstrich, ein Landsitz der neunziger Jahre. Der alte Mandeus Heiken, Großvater der beiden Brüder, der als Schiffsjunge seine Laufbahn begonnen und als Besitzer einer eigenen Reederei seine Augen geschlossen hatte, war der Erbauer.
Brake fuhr auf dem breiten Kiesweg um den Rasen herum. Als er vor der Säulen hielt, trat Tiersch, der alte Diener, heraus.
„Meine Frau schon auf?“ fragt Bert.
Tiersch nahm die schwere Aktentasche in EmDfang. „Sitzt schon auf’m Balkon, Herr Heiken ••
„In zwanzig Minuten anständiges Frühstück, Tiersch. Hab’ noch nichts gehabt heute morgen.“
Bert lief über die breite weiße Treppe nach oben und verschwand in seinen Räumen. Er duschte, rasierte sich und kam in einem Leinenanzug wieder zum Vorschein. Sein frisches, gut geschnittenes Gesicht hatte jetzt einen scharfen, angespannten Ausdruck angenommen. Er ging in sein Arbeitszimmer hinüber und kramte aus einem Fach seines Schreibtisches einen Brief hervor. Gestern mittag, kurz vor seiner Abfahrt nach Bremen, hatte er ihn erhalten und nun las er ihn zum zweitenmal. Und wieder packte ihn ein Angstgefühl ,.. Fortsetzung folgt