SAMSTAG, 2 6. APRIL 1952
Dr. Reinhold Maier hat es geschafft
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deten bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausschließlich die Bestimmungen des zweiten Neugliederungsgesetzes da die Beratungen über das Überleitungsgesetz noch nicht zu Ende geführt seien.
Dr. Maier erklärte schließlich: „Gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 wird hiermit der Zeitpunkt der vorläufigen Regierung auf den gegenwärtigen Augenblick, nämlich auf Freitag, den 25. April 1952, 12.30 Uhr, festgestellt. Mit dieser Erklärung sind gemäß § 11 des zweiten Neugliederungsgesetzes die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern zu einem Bundesland vereinigt. Gott schütze das neue Bundesland, Gott schütze die deutsche Bundesrepublik und erbringe uns wieder unser geliebtes verlorengegangenes, in Einigkeit und Gerechtigkeit wieder zn vereinigendes großes deutsches Vaterland.“ (Starke Unruhe bei der CDU.)
Für die CDU erklärte Dr. Gurk, seine Partei habe im Sinne des ihr vom Volk am 9. März erteilten Auftrags von Anfang an das Ziel verfolgt, „alle aufbaubildenden demokratischen Kräfte zusammenzufassen, maßgebend an der Regierungsbildung beteiligt zu sein und dadurch auch die Bundesregierung zu stärken“. Die CDU sei zu sehr großen Konzessionen bereit gewesen und ihre Fraktion habe die Verhandlungen in unendlicher Geduld geführt. Offensichtlich sei aber der Abbruch der Verhandlungen von den andern von Anfang an beabsichtigt gewesen. Durch die Vereinbarung von SPD, DVP und BHE blieben rund eine Million CDU-Wähler vom Aufbau des neuen Bundeslandes ausgeschlossen. Das erste Beispiel der Neubildung eines Bundeslandes nach dem Grundgesetz sei schon jetzt zu einem Mißerfolg geworden. Die heutige Entscheidung Schade am Ansehen des Parteiwesens der Demokratie schwer. Die Koalition SPD, DVP und BHE stützten sich auf den Norden des Landes, dagegen seien die südlichen Teile mit eindeutiger CDU - Mehrheit ausgeschlossen. Eine solche Regierung habe kein Anrecht auf das Vertrauen des Volkes. Die Regierung werde insbesondere bei der Verteidigung der Anliegen des christlichen Volkes bei der CDU auf größte Wachsamkeit stoßen. „Wir haben die Stellung einer Oppositionspartei nicht ge- eucht. Man hat sie uns böswillig und rücksichtslos aufgezwungen.“ An die Stelle einer großzügigen Staatsgründung sei ein kleiner, wenig ehrlicher Machtkampf getreten. Die Zukunft werde erweisen, daß der billige Sieg ehrgeiziger Politiker ein Pyrrhus-Sieg war. Wenn das Volk unmittelbar zu wählen gehabt hätte, wäre die Wahl des Ministerpräsidenten anders ausgefallen. (Beifall bei der CDU und auf der Tribühne.)
Der Antrag der Regierungserklärung, vorgetragen von Abg. Möller (SPD), den Ministerpräsidenten zu bestätigen und die Ministerliste zu billigen, leitete die zum Teil sehr scharfe Diskussion um die Regierungsbildung und Abstimmung über den Antrag ein. Abg. Dr. Gebhard Müller wandte sich sofort ge-
Dr. Reinhold Maier
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bildet. Ein bekannter Autor hat ihn einmal den „Notar des Südweststaates" genannt — ein Wort, das wie kein anderes das Profil dieses Politiker-Juristen zu zeichnen vermag. Die große, massive Gestalt ist vom Alter nur leicht gebeugt. Sie strahlt, neben anderen typisch schwäbischen Merkmalen, in Ausdruck und Handeln Ehrgeiz und Eigenwilligkeit aus.
Die vollendete Beherrschung der juristischen und politischen Spielregeln, Zähigkeit und kühle Klugheit sind es denn auch, die — außer der zentralen Position der DVP zwischen den beiden anderen großen Parteien, die keinen gemeinsamen Nenner für ihre Anliegen fanden — mit dazu beigetragen haben, daß Dr. Reinhold Maier auf den verantwortungsschweren Platz eines ersten Ministerpräsidenten des Südweststaates ge- gestellt wurde.
gen den Antrag, wobei er davon ausging, daß die Ernennung der Minister nicht auf der Tagesordnung gestanden habe. Abg. Gog (CDU) führte aus, der neuen Regierung fehle es an den verfassungsmäßigen Grundlagen. Sie müsse daher als nicht existent angesehen werden. Die Regierungen der Länder Württem- berg-Hohenzollem und Baden sollten sich daher als rechtlich fortbestehend erklären und ihre Landtage sofort wieder einberufen. Die CDU protestiere gegen die staatsrechtlich nicht vertretbare Forderung der Ernennung der Minister und rufe die Bundesregierung zum Schutz der Demokratie auf.
Abg. Möller (SPD) forderte die CDU zu sachlicher Mitarbeit im Verfassungsausschuß und in der Verfassunggebenden Landesversammlung auf. Gleichzeitig stellte er der CDU die Frage, ob die Regierung nur Anrecht auf Vertrauen habe, wenn die CDU an ihr beteiligt sei. Abg. Gönnenwein (DVP) stellte fest, die Regierung sei verfassungsrechtlich völlig einwandfrei gebildet worden.
Abg. Dr. Gebhard Müller wies darauf hin, daß durch die überstürzt abgegebenen Ministerernennungen nun ein staatsrechtliches Vakuum entstanden sei, das hätte vermieden werden müssen. Die Ausfertigung der Ernennungsurkunden vom neuen Ministerpräsidenten zu einem Zeitpunkt, als er noch Abgeordneter war, bezeichnete er als „staatsrechtliche Kuriosität“. Undenkbar sei es, daß in einem Land noch andere Länder und andere Regierungen bestünden. Vor der Regierungsbildung hätte das Überleitungsgesetz verabschiedet werden müssen. So habe man jetzt eine Regierung ohne verfassungsrechtliche Grundlage und ohne Geschäftsordnung, und bei einer
Verfassunggebenden Versammlung ohne Kontrollrecht. Daraus könnten zahlreiche Verfassungsklagen resultieren.
Abg. Dr. Werber (CDU) bezeichnete die neue Regierung als eine Fortsetzung der Stuttgarter Regierung. Im Abstimmungskampf habe man Gerechtigkeit versprochen. Das Volk werde Rechenschaft fordern.
Abg. Renner (SPD) wandte sich gegen die These Dr. Gerhard Müllers vom staatsrechtlichen Vakuum, das zweite Neugliederungsgesetz genüge vollauf. Das Kabinett übernehme die Befugnisse des bisherigen Ministerrats und werde mehr Gebrauch von diesem machen. Bis zur Verabschiedung des Überleitungsgesetzes bleibe ihm also genug zu tun.
Abg. Dr. Erbe (DVP) vertrat die Ansicht, daß im demokratischen Staat kein Vakuum auftreten könne. Abg. Lausen (BHE) meinte, die sofortige Regierungsbildung müsse als besonderes Verdienst hervorgehoben werden.
In der sich sehr lange hinziehenden Ge- schäftsordnungsdehatte über die Zulässigkeit des Antrags der Regierungsparteien, an der sich zahlreiche Redner aller Parteien beteiligten — die KPD ausgenommen — wäre noch im besonderen der wiederholte AoDell des Abg. Dr. Gurk (CDU) hervorzuheben, die Abstimmung über den Antrag nicht zu erzwingen. Schließlich kam es zum Auszug der CDU, die an der Schlußabstimmung nicht teilnahm.
Die CDU-Fraktion protestierte am Freitagnachmittag ln einem Telegramm an Bundeskanzler Adenauer, in dem es heißt, die CDU- Fraktion wende sich gegen die „staatsrechtlich unzulässige Regierungsbildung in Stuttgart und bittet gemäß § 28 des Grundgesetzes um Einschreiten der Bundesregierung zur Herbeiführung der verfassungsmäßigen demokratischen Ordnung im neuen Bundesland“.
Kleine Weltdironik
Sttdwestfunk-Vertrag am 1. Mai in Kraft. Tübingen. — Das Gesetz über den Abschluß eines Staatsvertrages zwischen den Ländern Baden, Hheinland-Pfalz und Württemberg-Hohenzollern tritt nach einer Bekanntmachung von Staatspräsident Dr. Gebhard Müller am 1. Mai dieses Jahres in Kraft.
Erster Bundes-Angestelltentag des DGB. Stuttgart. — In Stuttgart-Degerloch wurde gestern der erste Bundes-Angestelltentag des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Anwesenheit des Bundesvorsitzenden des DGB, Christian Fette, eröffnet.
Zustimmungserklärungen zur Generalamnestie. Göppingen. — Der Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermißten - Angehörigen Deutschlands hat gestern in Göppingen in einer Auflage von 250 000 Stück ein Extrablatt mit dem Titel „In letzter Stunde“ drucken lassen, ln dem um .Zustimmungserklärungen zu einer Bitte um Generalamnestie für alle Abgeurteilten und sich in Untersuchungshaft befindlichen deutschen Kriegsgefangenen ersucht wird. Eine solche Amnestie solle zugleich mit der Unterzeichnung des Generalvertrages erlassen werden, fordert die vorgedruckte Erklärung.
Sozialisten-Konferenz in Bonn. Bonn. — Führende Sozialisten Englands, Frankreichs und der Bundesrepublik werden über das Wochenende ln Bonn Zusammenkommen, um die Frage der deutschen Wiederaufrüstung und die damit zusammenhängenden Probleme zu erörtern, teilte die SPD gestern mit.
Fahrpreisermäßigung für Evakuierte. Bonn. — Bundesinnenminister Dr. Robert Lehr gab im Bundestag bekannt, daß Evakuierte vom 1. Juni dieses Jahres an dieselben Fahrpreisermäßigungen in Anspruch nehmen können, wie sie bisher Vertriebenen gewährt wurden.
Japanische Botschaft in Bonn. Bonn — Am Montag um 14.30 Uhr wird die japanische Regierungsvertretung in der Bundesrepublik durch das Inkrafttreten des japanischen Friedensvertrages in eine Botschaft verwandelt. Gleichzeitig wird auch die gegenwärtige deutsche Regierungsvertretung In Tokio zu einer Botschaft erhoben.
Neue Verbote im Saarland. Saarbrücken. — Die für dieses Wochenende in Saarbrücken vorgese
henen Gründungsversammlungen der CDU (Saar) und der Deutschen sozialdemokratischen Part« (DSP) sind vom Polizeipräsidium in Saarbrücken nicht genehmigt worden. Die Ablehnung wird damit begründet, daß die Anträge den Formalitäten nicht in allen Punkten genügten.
Schlagwetterexplosion. Saarbrücken. — Auf der Grube „König" südlich von Neunkirchen im Saargebiet ereignete sich gestern nachmittag eine Schlagwetterexplosion, bei der sieben Bergleute ums Leben kamen. Zwei weitere Arbeiter werden noch vermißt.
Freiheit auch für Berlin gefordert. Berlin. — Alle Freiheiten, die der Generalvertrag und di« Zusatzverträge dem Bundesgebiet einräumen werden, forderte der Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses. Dr. Otto Subr, ln einem dpa- Interview auch für Berlin. Ausnahmen sollten lediglich soweit gegeben sein, wie die Sonderlage Berlins es erforderte.
Krönung Elizabeths am 2. Juni 1953? London. — Londoner Zeitungen nannten jetzt den 2. Juni 1953 als den voraussichtlichen Krönungstag für Königin Elizabeth II.
Prälat Kaas gestorben. Vatikanstadt. — Prälat Dr. Ludwig Kaas, Domherr von St. Peter und früherer Vorsitzender der Deutschen Zentrumspartei, ist gestern kurz vor Vollendung des 71. Lebensjahres in einer römischen Klinik an einem Magenleiden gestorben. Papst Zius XII. war dem Prälaten aus der Zeit seines Wirkens als Päpstlicher Nuntius in Deutschland in enger Freundschaft verbunden.
US-Militärhilfe für Persien. Teheran. — Der Iran und die Vereinigten Staaten haben sich jetzt über die Wiederaufnahme der amerikanischen Militärhilfe für Persien geeinigt, verlautet aus der persischen Hauptstadt. Mossadeq ging die Verpflichtung ein, daß das Land die Charta der Vereinigten Nationen mit allen Mitteln unterstützen, seine Verteidigung so stark wie möglich ausbauen und jede Aggression bekämpfen werde.
38 Tote bei Explosion. Tokio. — 30 amerikanische Seeleute sind bei einer Explosion in einem Geschützturm des Kreuzers „St. Paul“ vor der koreanischen Küste getötet worden, gab die amerikanische Marineleitung in Tokio bekannt. Das Unglück wurde als die schwerste Katastrophe des koreanischen Krieges bezeichnet.
Landpachlgeset; abgefehnt
Arbeitssitzung des Bundesrats
BONN. Der Bundesrat hat auf- seiner gestrigen Sitzung dem vom Bundestag verabschiedeten Gesetz über das landwirtschaftliche Pachtwesen nicht zugestimmt, sondern den Vermittlungsausschuß angerufen. Ferner will der Rat die Verfassungsklage des Landes Niedersachsen gegen die Verordnung der Bundesregierung über Ausnahmen vom Mieterschut* unterstützen, indem er vor dem Bundesverfassungsgericht die nach seiner Ansicht bestehende Rechtswidrigkeit der Verordnung darlegen wird.
Mit dem vom Bundestag verabschiedeten Gesetz über die Mitwirkung des Bundes bei der Verwaltung der Einkommen- und Körperschaftsteuer erklärte sich der Bundesrat einverstanden. Auch dem Gesetzentwurf über den Kapitalverkehr und einer Verwaltungsan- °™ nun S über die Anerkennung steuerbegünstigter Zuwendungen an eine Reihe von gemeinnützigen Organisationen wurde zugp— stimmt. Der Bundesrat billigte ferner eine Regierungsvorlage, nach der der Bund ln diesem Jahr wieder, 80 Prozent der Aufwendungen aus dem Rentenzulagegesetz übernimmt Ebenfalls zugestimmt wurde dem am Donnerstag vom Bundestag verabschiedeten Gesetz das die bisherigen Bestimmungen über Zulagen und Mindestleistungen ln der gesetzlichen Unfallversicherung ändert.
„Politisierende Geistlidie“
Absage durch die Flensburger Synode
FLENSBURG. Der leitende Bischof der Vereinigten Evangelisch - Lutherischen Deutschlands, Landesbischof Dr. Hans Meise r, München, wandte sich gestern in seinem Tätigkeitsbericht auf der Synode der VELKD in Flensburg gegen kirchliche Amtsträger und Gruppen, die geistliche und politische Dinge vermengten und damit gegen die lutherische Lehre der zwei Reiche verstießen.
Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche dürfe nicht zu Übergriffen auf Dinge, die nicht Aufgabe der Kirche seien, und zur Entfachun* politischer Agitation ausgeweitet werden. Dr. Meiser erinnerte daran, daß sich Martin N i e- m ö 11 e r 1933 gegen die Übergriffe staatlicher Stellen ln Angelegenheiten der Kirche gewandt und eine Entpolitisierung der Pfarrer gefordert habe. Wenn heute der Niemöller nahestehende Pfarrer Mochalski die Jugend in Flugblättern ersuche, einen eventuellen Gestellungsbefehl zu zerreißen, so sei damit der geistliche Amtsträger zum Politiker geworden.
Pinay-Experiment in Geiahr
PARIS. Für den französischen Ministerpräsidenten P i n a y begann gestern die entscheidende Phase im Kampf um sein Regierungsprogramm der Preissenkung. Er hat der Landwirtschaft und den Fleischern ein Ultimatum gestellt, innerhalb der nächsten 48 Stunden die Fleischpreise zu senken, andernfalls starke Einfuhren und eine Kürzung der Zwischenhandelsspannen von der Regierung verfügt würden. Der Ausgang dieser Auseinandersetzung wird als entscheidend dafür angesehen, ob sich andere Gewerbezweige ebenfalls zur Kürzung der Preise und ihrer Gewinne bereit erklären und damit eine fühlbare Preissenkung herbeiführen werden.
Erdrutschunglück in Mentone
MENTONE (Südfrankreich). Von dreitägigen Wolkenbrüchen angeschwollen, haben drei reißende Gebirgsflüsse und das aus zahlreichen geborstenen unterirdischen Kanälen an dio Erdoberfläche sprudelnde Wasser in dem französischen Rivierastädtchen Mentone gestern schwere Verwüstungen angerichtet. Das Wasser verursachte einen Erdrutsch, der zahlreiche Gebäude wie Kartenhäuser einstürzen ließ. Nach bisherigen Berichten sollen zehn Tote zu beklagen sein, die Zahl der Verletzten ist erheblich höher.
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15. Fortsetzung Nachdruck verboten.
Sie nickt ihm lächelnd zu und erhebt sich. Eine schmale gewundene Treppe mit überhohen Stufen führt hinauf zur Empore. Der Lehrer schaltet die Bälge ein, zieht an den Registern.. leise klingt der erste Ton auf, schwillt an, andere drängen nach, immer neue, sie verschlingen sich zu vollen Akkorden, während der erste verklingt, langsam erstirbt, wie überwuchert von aufschießendem Leben. Diese starken brausenden Töne, die die Luft erschüttern, machen Donates Herz fast körperlich beben ... alle ihre Sinne schwingen mit wie angeschlagene Saiten ... und als nach einem kurzen Präludieren das „Heilig, heilig“ von Händel aufklingt, da kann ihre Stimme gar nicht anders, als sich in einem feierlichen, weit strömenden Jubelton aus ihrer Brust aufzuschwingen und sich von den gewaltigen Orgelklängen tragen und mitreißen zu lassen wie ein Nachen von einem rauschenden Fluß...
Sie hört nicht, daß unten eine Seitentür sich öffnet — aber sie sieht, wie der dunkle Vorhang beiseite geschoben wird, sie sieht, daß eine hohe Männergestalt eintritt und mit vorsichtigen Schritten nach einem Platz sucht, dicht neben einer Säule steilen bleibt und den Kopf nach der Orgel hebt. Sie glaubt in dem emporgewandten, braunen Gesicht die hellen, kalten Augen zu sehen.
Wunderbar leicht und mühelos singt es sich in dem weiten hallenden Raum Ihre eigene Stimme erfüllt sie mit einer berauschenden Seligkeit. Ganz im Untergrund ihres Bewußtseins stellt sie ohne Verwunderung fest, daß der Mann an der Orgel meisterhaft spielt... aber kein Gedanke streift mehr daran, daß er nun wohl erstaunt sein würde über seine Entdeckung — daß sie sich zurückhalten müsse, wenn sie die Komödie weiterführen wolle. Sie singt mit unendlicher Freude am Gesang, ganz hingerissen, ganz aufgeschlossen. Sie singt mit aller Kraft und Wärme,
mit aller Kunst und aller Andacht, und sie hat das Gefühl, daß sie noch nie in ihrem Leben so gesungen hat... nicht vor der strengsten Kritik und nicht vor tausend begeisterten Zuhörern — noch nie so wie jetzt, da sie nur für sich singt und für ein altes Bauernweiblein... und für den Mann mit dem steinernen Gesicht und den hellen kalten Augen.
Aber dieser Mann scheint nichts davon zu spüren. Als ihr Blick ihn sucht, sieht sie, wie er sich umdreht und nach dem Ausgang zuwendet. Seine Schritte sind nicht mehr vorsichtig, sie dröhnen hart über die Steine, polternd schlägt die Tür hinter ihm zu.
Sie bricht mitten im Ton ab, sie singt weiter, mechanisch, freudlos.. aber ein paar Minuten später legt sie dem Orgelspieler die Hand auf die Schulter.
„Nun ist es wohl genug“, sagt sie mit erzwungenem Lächeln, hart, tonlos, wie erschöpft. Jöggel fährt herum, wie aus dem Schlaf aufgeschreckt. Der letzte Orgelton steht noch lange zitternd und leise pfeifend in der Stille...
Langsam steht der Lehrer auf, mit unbeholfener Bewegung, seine feinen, dünnen Finger tasten über die Stirn, durch das weiche, wirre Haar... reißen ungeschickt die Brille von den Augen, suchen in allen Taschen nach dem weißen Tuch, mit dem sie sehr lange die Brillengläser putzen und ganz flüchtig und verstohlen einmal über die Augen fahren. Dann erst richten sich diese Augen mit ihrem sanften blauen Glanz voll auf Donate, und auf dem hageren Gesicht blüht allmählich das gewinnende strahlende Lächeln auf.
„Verzeihen Sie!“ sagt er mit seiner warmen, angenehmen Stimme. „Aber das könnt' ich doch nicht wissen...“
„Was nicht wissen?“ fragt Donate mit einem müden Lächeln.
„Daß die Herrschaften von Bucheck eine große Sängerin in der Familie haben ... ich habe auch Ihren Namen gar nicht verstanden ... und seihst dann ... ich weiß so wenig
von den Künstlern... ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung.“
„Aber keine Ursache! Höchstens muß ich Sie um Entschuldigung bitten, daß ich Sie in dem Glauben gelassen habe, Sie könnten mich entdecken... aber Sie nehmen es mir nicht übel, nicht wahr? Es hat mir solche Freude gemacht, mit Ihnen zu musizieren.“
„Oh, und mir erst! Ich bin Ihnen so dankbar, gnädiges Fräulein ... gnädige Frau ...“
„Förster heiße ich. Aber mein Künstlername ist Mihaly. Wenn Sie ihn auch nicht durch mich kennen, so kennen Sie den Namen vielleicht durch meinen Vater... er war ein sehr berühmter Geiger... und er hat eine Schwester des verstorbenen Herrn von Rainer geheiratet.“
„Ja so... ja natürlich... so hängt das zusammen ... Ihren Herrn Vater habe ich als kleiner Bub einmal spielen hören... es ist die unvergeßlichste Erinnerung meines Lebens ... von dem Tage an datiert meine unglückliche Liebe für die Musik.“
Aber diese Liebe ist durchaus nicht unglücklich ... Sie haben mich ebenso überrascht wie ich Sie!“
„Ach nein, Frau Mihaly... ich darf Sie doch so nennen? Der Name ist mir so lieb und vertraut! Das darf mar, nicht vergleichen ... ich schäme mich geradezu, daß ich mich vor Ihnen meiner Musikalität gerühmt habe.“
„Sie haben sich nicht gerühmt... Sie haben nur gesagt, daß Sie musikalisch sind, und das sind Sie... im Gegensatz zu Ihrem Freund, der nichts von Musik versteht und sich nicht dafür interessiert... auch darin haben Sie recht gehabt.“ Donate lächelt etwas bitter.
„Ach richtig, unsern Mäzen... den hatte ich ganz vergessen! Ich bin doch neugierig, ob er so wenig versteht, daß er nun beschlossen hat, Ihre Stimme ausbilden zu lassen! Hoffentlich nimmt er uns den Scherz nicht übel... Herr Heysingk!“
„Er ist längst fort“, sagt Donate.
„Ach nein... das ist doch nicht möglich...* Während sie zusammen durch das Kirchenschiff gehen, späht Jöggel immer nach allen Seiten und hinter alle Säulen, schüttelt den Kopf und zuckt die Achseln... der, den er sucht, ist nicht mehr da.
Nur das alte Bauern weiblein sitzt noch auf seinem Platz und starrt mit großen verzückten Augen zu ihnen hinüber. Der Lehrer bleibt bei ihr stehen und gibt ihr die Hand.
„Gelt, das war schön, Mutter GetzreiterT Hat die Dame nicht schön gesungen?“
„Wie ein Engel“, sagt die Alte mit einem verklärten Gesicht. „Akkurat wie ein Engel.“
„Sehen Sie!“ Jöggel nickt Donate zu, als müsse er sie trösten. „Nun haben wir doch ein Publikum gehabt! Und nicht das schlechteste!“
*
„Wie ist es ausgegangen?“ fragt Lux neugierig und aufgeregt, als Donate nach Hause kommt.
„Mißlungen!“ Donate nimmt den Hut von der heißen Stirn und läßt ihn an der hängenden Hand schaukeln. „Gänzlich daneben gelungen!“
„Wieso?“ Lux macht große Augen. „Hast du etwa nicht gut gesungen?“
„Ich glaube eher zu gut. . Jöggel hat mich nach den ersten Tönen durchschaut. Er versteht so viel davon, als daß er meine Stimme für ungeschult halten sollte, wenn ich richtig loslege... und ich hatte keine Lust, die Komödie durchzuführen. Er spielte so ausgezeichnet.“
„Ja, nicht wahr?“ Bine hent den Blick von ihrer Arbeit. „Er spielt wundervoll' Und was hat er gesagt? War er nicht erschlagen von deiner Stimme?“
„Er hat Vater noch gehört...“ Sagt Donate mit einem schmerzlichen Lächeln und einem sinnenden Glanz in den Augen „Er sprach so lieb über ihn... er ist überhaupt sehr nett... Nein, ich konnte ihm nichts vormachen.“
Fortsetzung folgt