Nagold vor 100 Jahren
von Studiendirektor vieterIe.
Als unser „Sesellschafter" vor 100 Jahren ins leben trat, war eine Zeit, die in mehr als einer Beziehung unserer Zeit sehr ähnlich war: tiefgehende Erschütterungen des öffentlichen Lebens waren vorangegangen,- lange, lange Kriege lagen hinter unseren Großvätern; schwer hatte unser Volk geseufzt unter dem Franzosendruck; das Land war ausgesogen und verarmt. Es war jetzt die Zeit der Neuordnung auf den verschiedensten lebensgebieten gekommen; König Wilhelm I. verstand seine Zeit und seine hohe Aufgabe als landesvater. Auch Nagold hat teilgenommen an diesen Umstellungen: nachdem die Stadt seit den lagen des Mittelalters der Sitz eines kleinen Amtes gewesen war, war es jetzt zum Sitz eines größeren Verwaltungsbezirks, eines Oberamts geworden, das die meisten Ortschaften der bisherigen Aemter Nagold, Altensteig und wildberg und dazu einzelne Ortschaften bisher österreichischen und ritterschaftlichen Gebiets und des Johanniterordens in sich ausgenommen hatte. Und diese erhöhte Bedeutung Nagolds als einer 0 b e r a m t s st a d t war für die weitere Entwicklung der Stadt selbst von günstiger Wirkung. Zwar gehörte Nagold Nicht zu den großen Oberamtsstädten, wie sie Württemberg besonders durch seine Neuerwerbungen besaß; es gehörte aber auch nicht zu den kleinsten. Nagold war vor 100 Jahren so recht das Bild einer schwäbischen, ländlichen Oberamtsstadt. Segen Schluß des 18. Jahrhunderts hatte Nagold über 2500 Einwohner gezählt; durch Auswanderung, Seuchen, Kriegsnot und andere Umstände war aber seine Einwohnerzahl 1808 auf 1770 herabgesunken; 1827 waren es dann wieder 2068. Dementsprechend war auch der Umfang der Stadt noch recht bescheiden; wenn sich dieselbe im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts der Nagold und der Waldach entlang weiter ausgedehnt hat und in neuerer Zeit auch an den umliegenden Bergen emporklettert, so mar der damalige Stadtetter im wesentlichen auf die Srenzen beschränkt, die der Stadt seit Jahrhunderten gezogen waren; es war in der Hauptsache das Stadtgebiet, das wir als Alt-Nagold oder auch als den ursprünglichen Kern der Stadt bezeichnen. Nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Sebäuden stand damals schon außerhalb des früher durch die Stadtmauer eingeschlossenen Gebiets. Indes — der Anfang zur Durchbrechung der bisherigen Schranken war schon gemacht; der Flügelschlag der neuen Zeit und der neuen, nach Ausdehnungsfreiheit strebenden Entwicklung war bereits deutlich wahrnehmbar.
Die Stadtmauer oder wie sie früher meist genannt wurde, die Kingmauer, dieses ehrwürdige Erbstück aus längst entschwundener Zeit, einst zum Schutz gegen feindliche oder räuberische Ueberfälle, als Fliehstätte für die Bewohner von Stadt und Land errichtet, hatte ihre Bedeutung und ihren wert verloren und bildete für die weitere Entfaltung der Stadt ein oft empfundenes Hindernis; deshalb war sie auch wie in anderen Städten eben in jenen Jahren zum größeren Beile niedergelegt worden, doch so, daß 1826 noch ansehnliche Keste vorhanden waren, wie ja auch heute noch die Spuren der einstigen Stadtbefestigung zahlreich und für jedermann leicht erkenntlich sind. Sanz abgetragen waren damals bereits die festen Bore, die immer morgens und abends geschlossen worden waren, und ebenso die stattlichen Bortürme, die mit den Mauern und Boren wie mit ihrem Wehrgang bei dem airkommenden Wanderer das Bild einer gutbewehrten Stadt erweckt hatten. Die Stadt hat damit zwar ein Stück romantischen Keizes verloren; allein dieses altüberkommene Erbe mußte geopfert werden. Die Bezeichnungen „oberes und unteres Bor" blieben als Ortsbezeichnungen im volksmund erhalteir, noch lange, nachdem läirgst keine Bore mehr existierten. Dagegeir standen die beiden Borhäuschen noch Jahrzehnte lang; sie dienten, nachdem die Hochwacht auf dem oberen Burm mit dem Abbruch desselben abgeschafft war, noch lange Jahre als wachtstube. Oer Stadtgraben, der einst die ganze Stadtumwallung umgab und mit Wasser gefüllt werden konnte, bestand noch an vielen Stellen, wie er auch heute noch da und dort deutlich erkennbar ist; aber schon hatte man angefangen Häuser und Scheunen in den Sraben zu bauen und Särten darin anzulegen. Die beiden Brücken, die einst über den Sraben zu den Boren geführt hatten, waren ebenfalls abgetragen worden; eine vammaufschüttung bezeichnet noch längere Jahre ihre Stätte und noch lange führten die Wege von auswärts an den beiden Stellen in die Stadt, wo äie Bore gestanden hatten: wer von Iselshausen, Vollmaringen, Mötzingen, Ober- jettingen, u. wer von Unter- u. Oberschwandorf u. Haiterbach kam, mußte durch das „Obere Bor", und wer von Unterjettingen, Emmingen, Pfrondorf, Mindersbach und Kohrdorf kam, mußte durch's „untere Bor" eintreten.
Cs läßt sich denken, daß, wenn auf diesem engen Kaum gegen 2000 Menschen zu wohnen und ihre Geschäfte zu verrichten hatten, die Häuser meist eng und schmal gebaut waren und häufig, wie wir das an den Giebelhäusern in der Hinteren Sasse heute noch sehen können, mehr in die Höhe als in die Breite strebten, vom oberen zum unteren Bor führte dic Marktgasse mit ihrer Erbreiterung vom Kathaus bis zur alten Apotheke, jetzt Uhrmacher Klägers Haus, in einem großen Bogen verlaufend und mit der Hinteren Sasse beim oberen Bor wieder zusammentreffend; der zwischen der Markt- und der Hinteren Sasse gelegene Häuserkomplex war durchbrochen durch die Hirschgasse und das Schulgäßle. Die „untere Stadt", der Nagold und Waldach zugelegen, war durchzogen von der unteren Sasse mit dem früheren herrschaftlichen Maierhof, dem Mühlgäßle, dem Badgäßle und der Schmidgasse. Der „Zwinge!" und der „Umlauf" an der Nagold erinnern heute noch an die Zeit von Alt-Nagold.
Aus dem enggebauten, winkeligen Häusermeer ragte ehrwürdig empor die alte Stadtkirche, „unserer lieben Frauen" geweckt, aus dem Ende des Mittelalters stammend, in gotischem Stil erbaut, eine kleine Basilika, innen eng und düster, doch nicht ohne einzelne hübsche Formen; schon damals wurde die Frage eines Kirchenneubaus auf einem anderen Platz besprochen; das Kathaus, damals ein verhältnismäßig neuer Bau mit einem Balkon gegen die Marktstraße, bildete den Mittelpunkt der Stadt. Das Oberamtei gebäude am nordwestlichen Eck der einstigen Stadtmauer, früher die herrschaftliche Kellerei, war schon seit längerer Zeit Wohnsitz des Oberamtmanns und enthielt wie heute noch die Käume für die Bezirksverwaltung. Das Oberamtsgericht befand sich damals in der Marktstraße, gegenüber dem Gasthaus z. „Engel". Das Dekanathaus, jetzt Kaufmann Lehres Haus^ stand gleichfalls in der Marktstrahe. Oie Schulen befanden sich in dem alten Schulhaus in der Hinteren Sasse, mit seiner prächtigen Holzarchitektur, darin war das ächullokal des Präzeptors und des Kollaborators, sowie 2 Klassen der Volksschule; auch eine Lehrerwohnung war darin; (eine Klasse war auf dem Kathaus untergebracht.) Mühlen waren 2 vorhanden, die obere und die untere, die obere an einem Waldach-Kanal,
die untere an einem Kagoldarm gelegen, beide damals noch herrschaftliche Erblehen mit teilweiser Banngerechtigkeit. An der Nagold, im Badgäßle, war das Badhaus, einst auch eine herrschaftliche Einrichtung mit Ladgerechtigkeit; das Haus war damals bereits verkauft; von der Badgerechtigkeit wurde kein Gebrauch mehr gemacht. Dieses Haus, früher vr. Zeller gehörig, enthält jetzt die Stadtpflege.
Um das Jahr 1825 hatte ein gründlicher Kenner von Altnagold geschrieben, Nagold habe das Slück gehabt, nie durch eine größere Feuersbrunst heimgesucht worden zu sein; deshalb besitze Nagold noch viele alte Sebäude. Aber schon gleich darauf ist das anders geworden. Außerhalb der Stadtmauer war, nicht weit vom oberen Bor, eine Anzahl neuer Häuser erstellt worden; man nannte diese Straße „Neue Straße". Da brach im Okt. 1825 eine Feuersbrunst aus und legte 11 Sebäude in Asche und so wurden gerade in den Jahren 1826/27 die Häuser der „Neuen Straße" neu aufgebaut. Dagegen standen in dem alten Nagold damals noch so ziemlich die alten Häuser. Erst bei den späteren Brandfällen 1850,187ch 1887 und 1893 wurden die Sebäude der Altstadt zerstört, so daß heutzutage der zwischen der Marktstraße u. der Hinteren Sasse gelegeneStadtteilfastganzverändert worden istu. auch in dem auf der andern Seiteder Marktstr. gelegene Stadtteil gegen die Waldach und Nagold hin die Häuser etwa zur Hälfte neu aufgeführt wurden. Die Sebäude im alten Nagold waren es, die unserer Stadt damals mehr ein ländliches Seprägegaben. OieStraßen innerhalb derMauern warenseitalterZeit gepflastert, wogegen die neu sich bildenden Straßen nicht mehr mit pflasterversehen wurden.
Außerhalb der einstigen Stadtmauer befanden sich 1826 in der Nähe des oberen Bores unmittelbar an die Stadt anschließend mehrere Sebäude, die den Uebergang bildeten zu der schon genannten „Neuen Straße", so das jetzige Hotel z. „Post", damals Gasthaus z. „Sonne" genannt, das jetzt Friedrich Schund gehörige Haus, das Sasthaus zum „Löwen"; ebenso war dort ein neuer Stadtteil noch heute „v o r- st a d t" genannt, im Entstehen begriffen; der Name „Vorstadt" rührt eben davon her, daß diese Häuser sich außerhalb der Stadtmauer befanden. Auch am Wolfsberg
und bei der oberen Mühle gegen die Ankerbrücke standen schon einzelne wenige Häuser. Ebenso wurde an der Waldach in der Nähe der früheren Nikolauskapelle und bei der „Ziegelhütte", wie man damals sagte, mit dem Bau von Häusern angefangen. Die Segend an der jetzigen Freudenstädter Straße, von der Ankerbrücke an, war fast ganz mit Särten bedeckt; Spinnerei und Sägwerk von L. Kentschler wurde 1826 begründet. Das ganze dort befindliche Gelände mit den Sewandnamen Sand, Krautbühl und Sassenau bestand aus wiesen, aus deren Mitte sich eine hochragende Pappelallee erhob. Sanz abseits stand das jetzige Spital, damals Sutleuthaus genannt, das alte Sondersiechenhaus. Auf der nördlichen Seite der einstigen Stadtmauer stand die staatliche Zehntscheuer, ein Sebäude, in das dann später das Oberamtsgericht eingebaut wurde. Das Knabenschulgebäude wurde erst 1828 gebaut.
Ueber die Nagold, führte unterhalb der Stadt der fog. Burgsteg mit einem hübschen Brückenhäuschen und oberhalb der Stadt die Schafbrücke. Außerdem führte auch vor 100 Jahren schon der sog. hohe Steg, auch Krautbühlsteg genannt, vom Klebweg an der Schloßberghalde zur Ankerbrücke. Eine Furt über die Nagold befand sich da, wo die Nagold ihren schärfsten Bogen macht, und führte über den „Sand". Ueber die Waldach führte seit Jahrhunderten eine steinerne Brücke, jetzt „Ankerbrücke" genannt, der Lindensteg (bei Stephan Schaible) und das Brückle bei den Krautgärtem Außerdem gingen über die Waldach zwischen Nagold und Iselshausen mehrere Furten, eine auch beim Lindensteg.
Auch die Straßenverhältnisse waren vor 100 Jahren noch ziemlich anders als heutzutage: Oie schönen, bequemen Baistraßen von heute existierten noch nicht. Zwar hatte man bereits ang>,fangen, besonders seit der Zeit Herzog Karls, die alten, steilen, teilweise halsbrecherischen Steigen, wie sie seit Jahrhunderten bestanden, zu verbessern. In der Stadt selbst hatte der genannte Herzog die Verbesserung der Straßen veranlaßt; ebenso war in jener Zeit die Straße von hier nach Oberjettingen—Herrenberg-Stuttgart erbreitert und überhaupt chausseemüßig angelegt worden; die starke Steigung an der Oberjettinger Steige war besonders für den Frachtverkehr etwas gemildert worden; erst später wurde der Straße eine andere Kichtung durch die Herrenberger Straße gegeben. Auch die Fortsetzung dieser Straße: Nagold—Killberg—Pfalzgrafenweiler—Oornstetten—Freudenstadt wurde in ähnlicher weise verbessert. Allein die Steigen selbst waren geblieben. Der weg nach Kohrdorf führte damals noch die Kohrdorfer Steige hinauf, und der weg weiter nach Altensteio verlief ebenso bergauf und bergab und nach Haiterbach gings ebenfalls steil den Killberg hinauf, dann hinab ins Waldachtal über das winterbrückle am Schloß vorbei wieder auf die Höhe.
was die Einwohner unserer Stadt in jener Zeit anbelangt, so finden wir bezüglich der Beschäftigung beides, wie dies der Entstehung der Stadt und der seitherigen Entwicklung entspricht, Gewerbe und Landwirtschaft. Gegenüber beute war damals die Landwirtschaft etwas mehr vorherrschend. Jeder Handwerksmann hatte neben seinem Handwerk auch noch seine Aecker und wiesen und sein Vieh. Vas Handwerk wurde dem Herkommen und der damaligen Zeit entsprechend ganz als Kleingewerbe betrieben. Daß diejenigen Sewerbe, die für die täglichen Lebensbedürfnisse zu sorgen hatten, wie die Bäcker und Metzger gut vertreten waren, leuchtet von selbst ein, die Bäcker mit 15-16, die Metzger mit 10, die Zchubmacher mit 18 und die Schneider mit 10 Mann. Am stärksten vertreten war das Buchmacher- und ^eugwebergewerbe mit 40—50 Mann; dieser Geschäftszweig war ja seit langer Zeit im Nagoldtal und in den angrenzenden Ortschaften sehr verbreitet, von den Buchmachern wurde auch viel Ware nach auswärts gesandt und besonders die auswärtigen Märkte und Messen beschickt. Ebenso gab es etwa 10 Hafner; in gleichem Maß wurde die Schreinerei und Serberei betrieben. Die übrigen Sewerbe wurden damals hier nur von 1, 2 oder 3 Meistern betrieben. Sewerbe, die damals noch im Sang waren, während sie jetzt nicht mebr bestehen, waren Bortenwirker, Färber, Soldarbeiter, Holzmesser, Kammacher, Nadler, Schirmmacher. Häufig arbeitete der Handwerksmann allein, oder er hatte noch einen Lehrling, vielleicht auch noch einen Gesellen. Beide lebten mit der Familie des Meisters in Hausgemeinschaft und wurden mit zur Familie gerechnet. Noch bestand die Sitte, daß wer ein rechter Meister werden wollte, sich als „Handwerksbursche" im früheren Sinn des Worts in die Fremde begab, um dann mit Fachkenntnissen und Lebenserfahrungen bereichert in die Heimat zurückzukehren. Auch die Zünfte der Handwerker bestanden noch; sie übten strenge Kontrolle über das Sewerbe, besorgten den Einkauf der Kohmaterialien gemeinsam und hielten je nachdem auch den verkauf einzelner Erzeugnisse gemein-
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Vre Vorstadt mit ^orhäuschen im vergangenen Jahrhundert