NUMMER 44
MITTWOCH, 19. MÄRZ 1952
Gefängnisstrafe für Rademacher
Beihilfe zum Totschlag an 1300 Menschen
NÜRNBERG. Das Nürnberger Schwurgericht verurteilte nach sechs Wochen langer Verhandlung den Legationsrat im ehemaligen Reichsaußenministerium, Franz Radema- cher, wegen Beihilfe zum Totschlag an 1300 Menschen und erfolgloser Aufforderung zur Begehung eines Verbrechens zu drei Jahren und fünf Monaten Gefängnis. Zwei Jahre drei Monate und ein Tag der Strafe gelten durch amerikanische und deutsche Haft als verbüßt. Der Staatsanwalt teilte mit, daß er gegen das Urteil Revision einlegen werde. Die Anklagevertretung hatte lebenslänglich Zuchthaus beantragt.
Das Gericht sah, wie es in der Urteilsbegründung heißt, die Beihilfe Rademachers bei der Erschießung von 1300 serbischen Juden in Belgrad als erwiesen an und erkannte hierfür auf drei Jahre Gefängnis. Als Beweismaterial lagen dem Gericht Reiseabrechnungen des Angeklagten vor, in denen als Reisezweck „Liquidation von Juden“ angegeben ist. Die von der Anklage behauptete Anstiftung wies das Gericht zurück. In der Urteilsbegründung heißt es: „Rademacher war als Vertreter des Auswärtigen Amtes bei den Verhandlungen über die Erschießungen in Belgrad zugegen und hat der Erschießung nicht widersprochen. Dadurch hat er die Stellung des Sicherheitsdienstes der SS gestärkt und den Chef der dortigen Militärverwaltung mit veranlaßt, den Erschießungsbefehl zu erlassen. Wegen der allerdings erfolglosen Aufforderung an den seinerzeitigen deutschen Gesandten in Belgien, von Bargen, er solle den deutschen Militärbefehlshaber zum Abtransport der belgischen Juden
... am 25. März
Fortsetzung von Seite 1
immer wärmer. Dr. Maier fügte hinzu, er sei auch auf den Wunsch in Ludwigsburg beheimateter Abgeordneter nicht eingegangen, die Verfassunggebende Landesversammlung in das Ludwigsburger Schloß einzuberufen. Ludwigsburg als Tagungsort würde der Sitzung der Landesversammlung eine „württember- gische Prägung“ geben, da dort die württem- bergischen Herzoge residiert hätten.
Ministerpräsident Maier teilte ferner mit, daß der Ministerrat beschlossen habe, die Beratung eines gemeinsamen Überleitungsgesetzes bis zur nächsten Sitzung zurückzustellen. Dr. Maier erklärte, man müsse zunächst die weitere Entwicklung abwarten, da die SPD- Fraktion der Landesversammlung einen eigenen Entwurf für ein Überleitungsgesetz ausarbeiten werde. Möglicherweise werde auch die neue DVP/FDP-Fraktion der Landesversammlung auf ihrer ersten Sitzung am Dienstag zu einem ähnlichen Beschluß kommen. Im übrigen wiesen die von den Landesregierungen Südwürttembergs und Südbadens ausgearbeiteten Entwürfe für ein Überleitungsgesetz große Unterschiede auf.
Staatspräsident Dr. Gebhard Müller erklärte, Württemberg-Hohenzollern lege großen Wert darauf, daß der Ministerrat noch ein Überleitungsgesetz beschließe und der Verfassunggebenden Landesversammlung vorlege. Dieses Gesetz sei die Voraussetzung dafür, daß die zu bildende vorläufige Regierung überhaupt funktionsfähig sei. Die von den Landesregierungen Südwürttembergs und Südbadens ausgearbeiteten Entwürfe stimmten zwar in einigen Punkten nicht überein, so sehe z. B. der südwürttembergische Entwurf vor, daß das Vermögen und die Schulden der Länder sofort auf das neue Bundesland übergehen sollen, dagegen sollen nach dem südbadischen Entwurf wohl die Schulden, nicht aber das Vermögen auf das neue Land übergehen. Es müsse jedoch trotzdem möglich sein, die beiden Entwürfe unter „einen Hut“ zu bringen.
Der südwestdeutsche Ministerrat wird am 31. März in Baden-Baden zu seiner nächsten Sitzung zusammentreten.
veranlassen, sprach das Gericht eine Strafe von acht Monaten aus. Die Gesamthaftzeit wurde auf drei Jahre und fünf Monate zusammengezogen.
Der Gerichtsvorsitzende, Landgerichtsdirektor Schramm, wies darauf hin, daß das Verfahren kein politischer, sondern ein rein strafrechtlicher Prozeß gewesen sei. Die Verurteilung Rademachers erfolge nicht, weil er an der Tötung von Juden beteiligt war, sondern an der Tötung von Menschen. In den weiteren Anklagepunkten — Beteiligung an Judenverschickungen aus Frankreich, Rumän- nien, Kroatien und Bulgarien — sprach das Gericht den Angeklagten frei. In der Urteilsbegründung heißt es dazu: „Das deutsche Volk hat in seiner Gesamtheit von der physischen Vernichtung der Juden nichts gewußt. Auch diejenigen, die unmittelbar mit der Durchfüh-
Mehr Pg. im AA. afs unter Hitler
hf. BONN. Nach einer Darstellung des Bayerischen Rundfunks sind von den leitenden Beamten des Bonner Außenministeriums heute 85 Prozent ehemalige Pg. Das sind mehr als es unter Hitler gewesen sind, wurde festgestellt. Zum Beweis seiner Behauptung brachte der Bayerische Rundfunk eine Aufstellung, aus der hervorgeht, mit welchen Aufgaben die leitenden Beamten des AA unter Ribbentrop beschäftigt waren und welche Rollen sie bei der Verwirklichung des politischen Programms des Hitlerregimes gespielt haben.
Von 19 leitenden Beamten der Personalabteilung sind gegenwärtig in Bonn 14 frühere Parteigenossen und 18 alte Angehörige des AA
SPD fordert Hallsteins Entlassung. Bonn. — Die SPD-Bundestagsfraktion forderte gestern von der Bundesregierung Auskunft, weT auf einer privaten Auslandsreise Staatssekretär Prof. Hallstein beauftragt habe, Erklärungen zur deutschen Politik abzugeben, und was die Regierung zu tun gedenke, um Hallstein von seinen Pflichten im Auswärtigen Amt zu entbinden, ferner, was geschehen sei, um von den beanstandeten Äußerungen des Staatssekretärs abzurücken.
Woche der Brüderlichkeit war ein Erfolg. Düsseldorf. — Die im Bundesgebiet veranstaltete Woche der Brüderlichkeit hat in weiten Kreisen eine Resonanz gefunden, die praktische Erfolge für den Gedanken eines brüderlichen Verhältnisses zwischen Christen und Juden ermöglicht, sagte der Vorsitzende der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Direktor Hastrich. Der Bundespräsident hat nach seiner Rundfunkrede zur Eröffnung der Woche viele tausend zustimmender Briefe erhalten.
Entnazifizierungssühneverfahren gegen „Spandauer-Kriegsverbrecher“. Berlin. — Die Spruchkammer beim Westberliner Senat hat mit Genehmigung der drei westlichen Besatzungsmächte, ohne daß bisher eine Ablehnung von seiten der Sowjets erfolgte, vier der sieben „Spandauer Kriegsverbrecher“ mitgeteilt, daß gegen sie ein Entnazifizierungssühneverfahren eröffnet worden sei. Es handelt sich dabei um die ehemaligen Reichsminister Walter Funk, Albert Speer und v. Neurath sowie den ehemaligen „Reichs- jugendführer“ Baldur v. Schirach. Sobald die erforderlichen Unterlagen vollzählig sind, sollen die entsprechenden Verfahren auch gegen die drei anderen, die früheren Großadmirale Karl Dönitz und Erich Raeder sowie gegen den „Stellvertreter de3 Führers“, Rudolf Heß, eröffnet werden.
Pestepidemie in China und der Mandschurei. Paris. — Nach Berichten französischer Diplomaten wütet in China und der Mandschurei gegenwärtig eine fürchterliche Pestepidemie. Die sowjetischen Behörden sollen bereits in der Sowjetzone Deutschlands Ärzte und Krankenschwestern zur Bekämpfung der Seuche verpflichtet haben.
Schweres Grubenunglück in Südafrika. Johannesburg. — In einem Goldbergwerk im Oranje
rung vorbereitender Maßnahmen befaßt waren, haben die Vernichtungsabsichten nicht erkannt und nicht erkennen können, weil diese Verbrechen über das Vorstellungsvermögen eines Menschen hinausgingen.“ Das gelte auch für Rademacher. Allerdings sei es in seinem Falle schwer zu glauben, daß er als Ju- denrefrent im Auswärtigen Amt nichts von der Vernichtung erfahren und auch das sogenannte Wannsee-Protokoll über die „Endlösung der Judenfrage“ nicht gesehen haben solle. Sein Verteidigungsargument, daß er unter „Endlösung“ die Verbringung der Juden in ein Territorium des Ostens verstanden habe, könne ihm jedoch nicht widerlegt werden. Als erwiesen sei nur anzusehen, daß er sich der Rechtswidrigkeit der Deportationen und der damit verbundenen Freiheitsberaubung bewußt war. „Seine erst während des Prozesses abgegebene Erklärung, daß er die Juden wegen der angeblichen Kriegserklärung Chaim Weizmanns völkerrechtlich als Kriegsgegner angesehen habe, könne nicht ernst genommen werden.“
der Wilhelmstraße. In den anderen Abteilungen des Bonner Außenministeriums und vor allem in der Besetzung der Schlüsselstellungen sieht es nicht anders aus. Auch in der Besetzung der Außenstellen des neuen deutschen diplomatischen Dienstes dominieren die Diplomaten, die bereits im „Dritten Reich“ mit entsprechenden Aufgaben betraut worden waren. Von Regierungsseite wird eine Stellungnahme zu den scharfen Angriffen des Bayerischen Senders nicht abgegeben und auf die Arbeit des vom Bundestag eingesetzten Untersuchungsausschusses verwiesen, der sich seit längerem mit der im Außenministerium getriebenen Personalpolitik befaßt und voraussichtlich Anfang April seinen Schlußbericht dem Bundestag vorlegen wird.
freistaat brach am Sonntag eine meterdicke Betondecke in 1800 m Tiefe zusammen und begrub mit dem nachstürzenden Gestein eine größere Anzahl von Arbeitern unter sich. Die genaue Zahl der Toten wird sich erst nach Wegräumung der Schuttmassen feststellen lassen. Etwa 60 Arbeiter waren an der Stelle des Unglücks beschäftigt.
Schweres Autobusunglück. Mexiko City. — Ein vollbesetzter Bus stürtzte in der Nähe der mexikanischen Haupstadt während der Fahrt in einen Graben. 24 Fahrgäste wurden getötet und 13 verletzt.
Vietminh kämpfen mit sowj. Waffen. Saigon. — Nach Mitteilung französischer Militärkreise benutzen die Vietminh-Streitkräfte in Indochina Waffen, Munition und Ausrüstungsgegenstände, die in der Sowjetunion hergestellt worden sind. Der Propagandachef der französischen Armee in Indochina appellierte am Samstag in einer Rundfunkrede an den Führer der Aufständischen Ho Tschi -Minh, das beiderseitige Blutvergießen endlich einzustellen.
Japan produziert wieder Waffen. Tokio. — Die amerikanischen Besatzungsbehörden haben das über die japanische Industrie verhängte Verbot der Waffenproduktion teilweise aufgehoben, meldete am Montag eine japanische Nachrichtenagentur. Eine offizielle Bestätigung von seiten des amerikanischen Hauptquartiers liegt noch nicht vor.
Berichtigung
Hauptmann a. D. Stennes bat uns um folgende Berichtigung im Zusammenhang mit unserem Kommentar „Freischärler 1952“ vom 27. Februar:
1. Die Organisation „Freikorps Deutschland“ oder irgendeine ihrer Untergliederungen sind mir gänzlich unbekannt.
2. Herr Beck-Broichsitter und Herr Frauenfeld sind mir weder persönlich bekannt, noch habe ich mit ihnen einen Schriftwechsel unterhalten.
3. Von einem Treffen des „Freikorps Deutschland" in der Lüneburger Heide habe ich lediglich durch ihre Pressenotiz Kenntnis erhalten.
Die gegebene Darstellung entspricht daher, soweit meine Person in Frage kommt, in keiner Weise den Tatsachen.
4(i0 Millionen DM Ausiaii
Durch Besatzungsschmuggel
BONN. Das Bundesfinanzministerium warf gestern im „Bulletin“ der Bundesregierung die Frage auf, wie die Angehörigen fremder Streitkräfte bei einer Vermehrung der Trup- peq in Deutschland in Zukunft steuerlich behandelt werden sollen. Einleitend wurde darauf verwiesen, daß gegenwärtig durch den Besatzungsschmuggel dem deutschen Fiskus rund 400 Millionen DM durch Ausfall an Zöllen, Verbrauchssteuern und direkten Steuern verloren gingen, und anschließend die Frage gestellt: „Soll ein deutscher Soldat, der neben einem amerikanischen liegt, für eine Zigarette zehn Pfennig zahlen, während der Amerikaner nur zweieinhalb Pfennig zahlt?“
Gewarnt wurde vor der „psychologischen Ungeschicklichkeit“, Soldaten verschiedener Länder, die zum gleichen Zweck an einem bestimmten Ort untergebracht seien, unterschiedlich zu behandeln. Das gelte für Unterkunft und Verpflegung wie für Ausrüstung und Besoldung. Es werde aber nicht leicht sein, in kurzer Zeit eine völlige Gleichberechtigung herzustellen. Weder dem Unterkunfts- noch dem Herkunftsland dürfe die Unterbringung fremder Truppen zum Vorteil oder Schaden gereichen. Der Beisatzungsschmuggel rühr* daher, daß die Besatzungsangehörigen bedeutend mehr abgabefreie Ware kaufen könnten, als sie wirklich für sich verbrauchten. Jedes Familienmitglied eines amerikanischen Besatzungsangehörigen müsse täglich 25 Tassen Kaffee trinken, wenn der zustehende Kaffe« selbst verbraucht werden solle.
Sollte es nicht möglich sein, den Besatzungsschmuggel und den Schmuggel bei künftigen europäischen Truppen auszuschließen, so müsse das Bundesfinanzministerium eine Senkung der Verbrauchsteuer erwägen, um ein* gewisse Angleichung der deutschen Preise an die der entsprechenden Waren in den anderen westlichen Ländern zu erreichen und damit das Übel an der Wurzel zu fassen. Voraussetzung sei aber auf jeden Fall, daß dadurch kein Einnahmeausfall einfrete. Eingeschränkt könne der Besatzungsschmuggel nur durch ein« scharfe Beschränkung der Einkaufsmöglichkeit abgabefreier Waren auf den wirklichen Eigenbedarf der Besatzungsangehörigen werden.
Geringfügige Aenderungen
Die endgültigen Wahlergebnisse vom 9. März
TÜBINGEN. Im Sitzungssaal des Tübinger Staatsministeriums stellte der Landeswahlausschuß am 17. März in einer öffentlichen Sitzung das endgültige Gesamtergebnis der Wahl vom 9. März für das Gebiet Württemberg-Hohenzollern fest. Gegenüber den vorläufigen Zahlen ergaben sich nur geringfügige Veränderungen, dl« ohne praktische Auswirkungen sind. Der Landeswahlausschuß mußte sich auch in diesem Falle vor allem mit den Grenzfällen befassen, in denen die Wähler sich bei Abgabe ihrer Stimm« nicht genau an die einfache Vorschrift hielten, ihr „Ja“ für einen Kandidaten durch ein Kreus in dem Kreis hinter seinem Namen zum Ausdrude zu bringen. Besonders häufig wurde das umgekehrte Verfahren gewählt, bei den dem Landeswahlausschuß zur Entscheidung vorliegenden Stimmzetteln, indem der Wähler alle Namen bis auf einen durchstrich. Der Landeswahlausschuß entschloß sich, in allen Fällen, in denen er mehrheitlich ein Votum des Wählers für einen Kandidaten erkennen konnte, diese Stimmzettel als gültig anzuerkennen.
Der Ausschuß stellte schließlich folgendes Endergebnis der Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung vom 9. März in Württemberg- Hohenzollern fest:
Zahl der Wahlberechtigten (ohne Vermerk „behindert“ oder „Wahlschein“) 781 236, Zahl der abgegebenen Wahlscheine 5967, Gesamtzahl dar Wahlberechtigten 787 203, Zahl der abgegebenen Stimmen 497 516, Wahlbeteiligung 63,2 Prozent, gültige .Stimmen 488 328 = 98,2 Prozent, ungültige Stimmen 9188 = 1,8 Prozent.
CDU 250 806 Stimmen = 51,4 Prozent, SPD 105 693 = 21,6 Prozent, FDP 78 833 = 16,1 Prozent, KPD 16114 = 3,3 Prozent, BHE 30 098 — 6,2 Prozent, DG 5433 = 1,1 Prozent, Freie Kandidaten 1351 = 0,3 Prozent.
Kleine Weltchronik
UEBE5ROMAN A1E- CHINA VON ANITA HUNTER
Copyright by Hamann-Meyerpress (33. Fortsetzung)
Jennifers Augen brannten, sie fühlte, was dieser Mann ertragen hatte.
„Ich konnte nicht, Jennifer. Nicht meinetwegen, aber meine Mutter lebte noch. Ihr mußte ich den Prozeß ersparen, sie wäre daran gestorben. Percy Hunton konnte ich nicht wieder lebendig machen, aber ich wollte nicht, daß noch ein Mensch sein Leben einbüßte. Meine Mutter war damals schwer herzleidend, sie starb bald darauf, sie hat nie erfahren, daß Percy Huntons Tod kein Unglücksfall war. Sie glaubte, daß ich aus England fortgegangen sei, weil ich eine Mission in China erfüllen sollte. Und so kam ich hierher. Mein Bruder schrieb, es sei besser nie wieder nach England zu kommen, damit keinerlei Verdacht entstünde. Er hätte alles geordnet, es sei besser, wenn ich für sie alle tot sei.
Und ich begann, die Leute von drüben zu hassen und zu verachten. Die Frau, die mich betrogen hatte, den Freund, der .mir mein Liebstes nahm und mich verlachte, die Gesellschaft, die mich fallen ließ, weil sie nicht verstand, daß ich mein Leben den Armen und Unterdrückten widmen wollte. Ich wollte Gutes tun, Jennifer, ich wollte büßen für das was geschehen war. Ich dachte, daß ich dies am besten dadurch tun könnte, daß ich denen half, die keinen Beschützer hatten. Und so wurde ich Wu Tang, der „große Zauberer". Und nun bist du gekommen, Jennifer, und ich darf dich nicht in meine Arme nehmen, weil
ein Toter zwischen uns steht. Aber es ist ein Glück für mich, ein unsagbares Glück und gleichzeitig ein tiefes Leid, das ich dich treffen durfte“.
Er beugte sich zu ihr herab und legte seinen Kopf in ihre Hände.
Sie saß ganz still und rührte sich nicht.
„Nun kennst du Oliver Pershams Geschichte, nun weißt du, weshalb er Wu Tang wurde!“
„Ja, Oliver!"
Sie lächelt ihm zu, aber eine Träne lief langsam über ihr Gesicht. Sie konnte nichts tun, gar nichts, denn sie wußte zu genau, daß es Olivers Ehre verbot, sie zu seiner Frau zu machen.
Eine kleine Weile herrschte Schweigen, Oliver blickte auf die Uhr.
„Es ist Zeit, wir müssen versuchen, hier fortzukommen. Jetzt ist dunkelste Stunde der Nacht. Gib dem Kind dieses Pulver, es ist unschädlich, aber es läßt den Kleinen einige Stunden fest schlafen. Wir müssen aus der Palaststadt heraus durch den geheimen Gang. Ein Flugzeug wartet auf uns nur wenige Kilometer entfernt. Ich ließ es dort startbereit zurück, als ich alleine hierher kam. Es war die einzige Chance, euch zu retten. Bist du bereit, Jennifer?“
Sie nickte. Während sie Yen Sei das Pulver gab, hatte Oliver ein Bündel zusammengeschnürt. Er reichte Jennifer ein Paar Bastschuhe, denn in den hochhackigen Silberschuhen, die zu dem hellblauen Abendkleid gehört hatten, konnte sie nicht gehen.
„Komm, Jennifer!“
Sie sah sich noch einmal in der kleinen chinesischen Grabkammer um. Hier hatte Oliver ihr gesagt, daß er sie liebe — nie würde sie diesen Ort vergessen.
Oliver nahm den schlafenden Knaben auf den Arm. Dann reichte er Jennifer das Bündel.
„Horch, Oliver, was ist das?“
Sie standen einen Augenblick ganz still und lauschten. Ein feines Rieseln, als ob aus einem Brunnenrohr Wasser käme, traf ihr Ohr.
Oliver faßte plötzlich Jennifers Hand mit eisernem, schmerzendem Griff.
„Fort, so schnell wie möglich!“
Er riß sie mit sich fort, sie sah, wie aus dem Boden plötzlich Wasser drang. Unsichtbare Schleusen hatten sich geöffnet. Schon schwammen die Silberschuhe, die sie am Boden hatte liegen lassen, in einer Wasserlache. Das Wasser stieg in unheimlicher Hast. Jetzt hatte es die niedrige Lagerstatt erreicht und leckte an den Decken. Schon krochen die Fluten in den Gang und drangen in hüpfenden, kleinen Wellen an den Wänden empor.
Sie keuchten den engen Gang entlang, Jennifer sah, daß auf Olivers Stirn Schweißtropfen standen. Auch sie fühlte, daß der Tod die Hand nach ihnen ausstreckte.
Jetzt waren sie am Ende des Ganges angelangt. Fieberhaft suchten Olivers Hände den Mechanismus, der den Stein beiseite schieben sollte, aber er fand ihn nicht. Eine unsichtbare Hand mußte die Konstruktion verändert haben.
Jennifer sah, wie Oliver die Zähne zusammenbiß, wie es in seinem Gesicht arbeitete. Er hatte den schlafenden kleinen Chinesenknaben in Jennifers Arme gelegt, seine Hände tasteten fieberhaft an den Steinen entlang. Das Wasser stieg und gurgelte.
Endlich, ganz langsam, bewegte sich der Stein. Aber er schob sich nur halb beiseite, wie eine Fensteröffnung.
Und in dieser Oeffnung erschien ein uraltes Gesicht, starr wie eine Maske, mit tausend Runzeln und Fältchen.
Das Gesicht der Großen Mutter!
Mit einem Aufschrei warf sich Oliver Per- sham gegen die Steinquadern. Aber vergeblich, sie wichen keinen Zoll.
Das Gesicht der Großen Mutter verzog sich zu einem Grinsen.
Oliver hob die Faust, aber Jennifer legte schnell die Hand auf seinen Arm.
„Nicht“, flüsterte sie, „nicht, Oliver!“
„Oliver?“ fragte die Große Mutter, „wenn du Oliver bist, dann bist du Wu Tang!“
Eine unendliche Genugtuung schien sie zu beseelen.
„Wu Tang, fühlst du, wie das Wasser steigt? In wenigen Stunden bist du tot. Du und di« weiße Frau, die meinem Willen trotzen wollte. Ich wollte ihr Bestes, sie ist tapfer, die weiße Frau mit den roten Locken — aber sie nahm den Kampf gegen mich auf. Si« versuchte zu fliehen, doch der Arm der Grossen Mutter reicht weit! Wo ist Yen Sei? Gebt das Kind her!“
Jennifer sah das Gesicht des schlafenden Knaben an. Das Kind atmete tief und ruhig, die kleinen, zarten Hände waren zu Fäusten geballt.
„Oliver", flüsterte sie, „das Kind darf nicht sterben. Sie wird ihm nichts tun, wenn wir es ihr geben. Oliver, wir müssen es tun. Ich kann ein kleines, unschuldiges Kind nicht sterben lassen. Vielleicht kommt Huang Yu, um seinen Sohn zu holen. Oliver, wir müssen ihm die Chance geben!“
„Ja, Jennifer, du hast recht. Aber warte — erst lasse mich mit der Großen Mutter sprechen! Vielleicht gibt es einen Weg!"
Er nahm den Knaben in den Arm und trat dicht an die Fensteröffnung heran. Er hob da» Kind hoch, aber nicht so weit, daß die Groß« Mutter es fassen konnte.
Jennifer sah, wie die Augen der alten Frau gierig aufleuchteten. Sie streckte ihre mageren Arme aus, sie wollte das Kind ergreifen, aber Oliver wich zurück.
Und dann sprach er, lange und eindringlich, in einem chinesischen Dialekt, den Jennifer nicht verstehen konnte. (Forts, folgt)