NUMMER 44

MITTWOCH, 19. MÄRZ 1952

Gefängnisstrafe für Rademacher

Beihilfe zum Totschlag an 1300 Menschen

NÜRNBERG. Das Nürnberger Schwurgericht verurteilte nach sechs Wochen langer Ver­handlung den Legationsrat im ehemaligen Reichsaußenministerium, Franz Radema- cher, wegen Beihilfe zum Totschlag an 1300 Menschen und erfolgloser Aufforderung zur Begehung eines Verbrechens zu drei Jahren und fünf Monaten Gefängnis. Zwei Jahre drei Monate und ein Tag der Strafe gelten durch amerikanische und deutsche Haft als verbüßt. Der Staatsanwalt teilte mit, daß er gegen das Urteil Revision einlegen werde. Die Anklage­vertretung hatte lebenslänglich Zuchthaus be­antragt.

Das Gericht sah, wie es in der Urteilsbe­gründung heißt, die Beihilfe Rademachers bei der Erschießung von 1300 serbischen Juden in Belgrad als erwiesen an und erkannte hierfür auf drei Jahre Gefängnis. Als Beweismaterial lagen dem Gericht Reiseabrechnungen des An­geklagten vor, in denen als ReisezweckLi­quidation von Juden angegeben ist. Die von der Anklage behauptete Anstiftung wies das Gericht zurück. In der Urteilsbegründung heißt es:Rademacher war als Vertreter des Aus­wärtigen Amtes bei den Verhandlungen über die Erschießungen in Belgrad zugegen und hat der Erschießung nicht widersprochen. Dadurch hat er die Stellung des Sicherheitsdienstes der SS gestärkt und den Chef der dortigen Mili­tärverwaltung mit veranlaßt, den Erschie­ßungsbefehl zu erlassen. Wegen der aller­dings erfolglosen Aufforderung an den seiner­zeitigen deutschen Gesandten in Belgien, von Bargen, er solle den deutschen Militärbefehls­haber zum Abtransport der belgischen Juden

... am 25. März

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immer wärmer. Dr. Maier fügte hinzu, er sei auch auf den Wunsch in Ludwigsburg behei­mateter Abgeordneter nicht eingegangen, die Verfassunggebende Landesversammlung in das Ludwigsburger Schloß einzuberufen. Lud­wigsburg als Tagungsort würde der Sitzung der Landesversammlung einewürttember- gische Prägung geben, da dort die württem- bergischen Herzoge residiert hätten.

Ministerpräsident Maier teilte ferner mit, daß der Ministerrat beschlossen habe, die Be­ratung eines gemeinsamen Überleitungsgeset­zes bis zur nächsten Sitzung zurückzustellen. Dr. Maier erklärte, man müsse zunächst die weitere Entwicklung abwarten, da die SPD- Fraktion der Landesversammlung einen eige­nen Entwurf für ein Überleitungsgesetz aus­arbeiten werde. Möglicherweise werde auch die neue DVP/FDP-Fraktion der Landesver­sammlung auf ihrer ersten Sitzung am Diens­tag zu einem ähnlichen Beschluß kommen. Im übrigen wiesen die von den Landesregierun­gen Südwürttembergs und Südbadens ausge­arbeiteten Entwürfe für ein Überleitungsgesetz große Unterschiede auf.

Staatspräsident Dr. Gebhard Müller er­klärte, Württemberg-Hohenzollern lege großen Wert darauf, daß der Ministerrat noch ein Überleitungsgesetz beschließe und der Verfas­sunggebenden Landesversammlung vorlege. Dieses Gesetz sei die Voraussetzung dafür, daß die zu bildende vorläufige Regierung über­haupt funktionsfähig sei. Die von den Landes­regierungen Südwürttembergs und Südbadens ausgearbeiteten Entwürfe stimmten zwar in einigen Punkten nicht überein, so sehe z. B. der südwürttembergische Entwurf vor, daß das Vermögen und die Schulden der Länder sofort auf das neue Bundesland übergehen sol­len, dagegen sollen nach dem südbadischen Entwurf wohl die Schulden, nicht aber das Vermögen auf das neue Land übergehen. Es müsse jedoch trotzdem möglich sein, die bei­den Entwürfe untereinen Hut zu bringen.

Der südwestdeutsche Ministerrat wird am 31. März in Baden-Baden zu seiner nächsten Sitzung zusammentreten.

veranlassen, sprach das Gericht eine Strafe von acht Monaten aus. Die Gesamthaftzeit wurde auf drei Jahre und fünf Monate zusam­mengezogen.

Der Gerichtsvorsitzende, Landgerichtsdirek­tor Schramm, wies darauf hin, daß das Verfahren kein politischer, sondern ein rein strafrechtlicher Prozeß gewesen sei. Die Ver­urteilung Rademachers erfolge nicht, weil er an der Tötung von Juden beteiligt war, son­dern an der Tötung von Menschen. In den weiteren Anklagepunkten Beteiligung an Judenverschickungen aus Frankreich, Rumän- nien, Kroatien und Bulgarien sprach das Gericht den Angeklagten frei. In der Urteils­begründung heißt es dazu:Das deutsche Volk hat in seiner Gesamtheit von der physischen Vernichtung der Juden nichts gewußt. Auch diejenigen, die unmittelbar mit der Durchfüh-

Mehr Pg. im AA. afs unter Hitler

hf. BONN. Nach einer Darstellung des Baye­rischen Rundfunks sind von den leitenden Be­amten des Bonner Außenministeriums heute 85 Prozent ehemalige Pg. Das sind mehr als es unter Hitler gewesen sind, wurde festge­stellt. Zum Beweis seiner Behauptung brachte der Bayerische Rundfunk eine Aufstellung, aus der hervorgeht, mit welchen Aufgaben die lei­tenden Beamten des AA unter Ribbentrop be­schäftigt waren und welche Rollen sie bei der Verwirklichung des politischen Programms des Hitlerregimes gespielt haben.

Von 19 leitenden Beamten der Personalab­teilung sind gegenwärtig in Bonn 14 frühere Parteigenossen und 18 alte Angehörige des AA

SPD fordert Hallsteins Entlassung. Bonn. Die SPD-Bundestagsfraktion forderte gestern von der Bundesregierung Auskunft, weT auf einer privaten Auslandsreise Staatssekretär Prof. Hallstein beauftragt habe, Erklärungen zur deut­schen Politik abzugeben, und was die Regierung zu tun gedenke, um Hallstein von seinen Pflich­ten im Auswärtigen Amt zu entbinden, ferner, was geschehen sei, um von den beanstandeten Äußerungen des Staatssekretärs abzurücken.

Woche der Brüderlichkeit war ein Erfolg. Düs­seldorf. Die im Bundesgebiet veranstaltete Woche der Brüderlichkeit hat in weiten Kreisen eine Resonanz gefunden, die praktische Erfolge für den Gedanken eines brüderlichen Verhältnis­ses zwischen Christen und Juden ermöglicht, sagte der Vorsitzende der Gesellschaft für christ­lich-jüdische Zusammenarbeit, Direktor Hastrich. Der Bundespräsident hat nach seiner Rundfunk­rede zur Eröffnung der Woche viele tausend zu­stimmender Briefe erhalten.

Entnazifizierungssühneverfahren gegenSpan­dauer-Kriegsverbrecher. Berlin. Die Spruch­kammer beim Westberliner Senat hat mit Ge­nehmigung der drei westlichen Besatzungsmäch­te, ohne daß bisher eine Ablehnung von seiten der Sowjets erfolgte, vier der siebenSpan­dauer Kriegsverbrecher mitgeteilt, daß gegen sie ein Entnazifizierungssühneverfahren eröffnet worden sei. Es handelt sich dabei um die ehema­ligen Reichsminister Walter Funk, Albert Speer und v. Neurath sowie den ehemaligenReichs- jugendführer Baldur v. Schirach. Sobald die er­forderlichen Unterlagen vollzählig sind, sollen die entsprechenden Verfahren auch gegen die drei anderen, die früheren Großadmirale Karl Dönitz und Erich Raeder sowie gegen denStell­vertreter de3 Führers, Rudolf Heß, eröffnet werden.

Pestepidemie in China und der Mandschurei. Paris. Nach Berichten französischer Diploma­ten wütet in China und der Mandschurei gegen­wärtig eine fürchterliche Pestepidemie. Die so­wjetischen Behörden sollen bereits in der So­wjetzone Deutschlands Ärzte und Krankenschwe­stern zur Bekämpfung der Seuche verpflichtet haben.

Schweres Grubenunglück in Südafrika. Johan­nesburg. In einem Goldbergwerk im Oranje­

rung vorbereitender Maßnahmen befaßt wa­ren, haben die Vernichtungsabsichten nicht erkannt und nicht erkennen können, weil diese Verbrechen über das Vorstellungsvermö­gen eines Menschen hinausgingen. Das gelte auch für Rademacher. Allerdings sei es in sei­nem Falle schwer zu glauben, daß er als Ju- denrefrent im Auswärtigen Amt nichts von der Vernichtung erfahren und auch das soge­nannte Wannsee-Protokoll über dieEndlö­sung der Judenfrage nicht gesehen haben solle. Sein Verteidigungsargument, daß er un­terEndlösung die Verbringung der Juden in ein Territorium des Ostens verstanden habe, könne ihm jedoch nicht widerlegt werden. Als erwiesen sei nur anzusehen, daß er sich der Rechtswidrigkeit der Deportationen und der damit verbundenen Freiheitsberaubung be­wußt war.Seine erst während des Prozesses abgegebene Erklärung, daß er die Juden we­gen der angeblichen Kriegserklärung Chaim Weizmanns völkerrechtlich als Kriegsgegner angesehen habe, könne nicht ernst genommen werden.

der Wilhelmstraße. In den anderen Abteilun­gen des Bonner Außenministeriums und vor allem in der Besetzung der Schlüsselstellungen sieht es nicht anders aus. Auch in der Beset­zung der Außenstellen des neuen deutschen diplomatischen Dienstes dominieren die Di­plomaten, die bereits imDritten Reich mit entsprechenden Aufgaben betraut worden wa­ren. Von Regierungsseite wird eine Stellung­nahme zu den scharfen Angriffen des Bayeri­schen Senders nicht abgegeben und auf die Arbeit des vom Bundestag eingesetzten Unter­suchungsausschusses verwiesen, der sich seit längerem mit der im Außenministerium ge­triebenen Personalpolitik befaßt und voraus­sichtlich Anfang April seinen Schlußbericht dem Bundestag vorlegen wird.

freistaat brach am Sonntag eine meterdicke Be­tondecke in 1800 m Tiefe zusammen und begrub mit dem nachstürzenden Gestein eine größere Anzahl von Arbeitern unter sich. Die genaue Zahl der Toten wird sich erst nach Wegräumung der Schuttmassen feststellen lassen. Etwa 60 Arbeiter waren an der Stelle des Unglücks be­schäftigt.

Schweres Autobusunglück. Mexiko City. Ein vollbesetzter Bus stürtzte in der Nähe der mexi­kanischen Haupstadt während der Fahrt in einen Graben. 24 Fahrgäste wurden getötet und 13 ver­letzt.

Vietminh kämpfen mit sowj. Waffen. Sai­gon. Nach Mitteilung französischer Militär­kreise benutzen die Vietminh-Streitkräfte in In­dochina Waffen, Munition und Ausrüstungsge­genstände, die in der Sowjetunion hergestellt worden sind. Der Propagandachef der französi­schen Armee in Indochina appellierte am Sams­tag in einer Rundfunkrede an den Führer der Aufständischen Ho Tschi -Minh, das beiderseitige Blutvergießen endlich einzustellen.

Japan produziert wieder Waffen. Tokio. Die amerikanischen Besatzungsbehörden haben das über die japanische Industrie verhängte Verbot der Waffenproduktion teilweise aufgehoben, mel­dete am Montag eine japanische Nachrichten­agentur. Eine offizielle Bestätigung von seiten des amerikanischen Hauptquartiers liegt noch nicht vor.

Berichtigung

Hauptmann a. D. Stennes bat uns um folgende Berichtigung im Zusammenhang mit unserem KommentarFreischärler 1952 vom 27. Februar:

1. Die OrganisationFreikorps Deutschland oder irgendeine ihrer Untergliederungen sind mir gänzlich unbekannt.

2. Herr Beck-Broichsitter und Herr Frauen­feld sind mir weder persönlich bekannt, noch habe ich mit ihnen einen Schriftwechsel unter­halten.

3. Von einem Treffen desFreikorps Deutsch­land" in der Lüneburger Heide habe ich ledig­lich durch ihre Pressenotiz Kenntnis erhalten.

Die gegebene Darstellung entspricht daher, soweit meine Person in Frage kommt, in keiner Weise den Tatsachen.

4(i0 Millionen DM Ausiaii

Durch Besatzungsschmuggel

BONN. Das Bundesfinanzministerium warf gestern imBulletin der Bundesregierung die Frage auf, wie die Angehörigen fremder Streitkräfte bei einer Vermehrung der Trup- peq in Deutschland in Zukunft steuerlich be­handelt werden sollen. Einleitend wurde dar­auf verwiesen, daß gegenwärtig durch den Be­satzungsschmuggel dem deutschen Fiskus rund 400 Millionen DM durch Ausfall an Zöllen, Verbrauchssteuern und direkten Steuern ver­loren gingen, und anschließend die Frage ge­stellt:Soll ein deutscher Soldat, der neben einem amerikanischen liegt, für eine Zigarette zehn Pfennig zahlen, während der Amerikaner nur zweieinhalb Pfennig zahlt?

Gewarnt wurde vor derpsychologischen Ungeschicklichkeit, Soldaten verschiedener Länder, die zum gleichen Zweck an einem be­stimmten Ort untergebracht seien, unterschied­lich zu behandeln. Das gelte für Unterkunft und Verpflegung wie für Ausrüstung und Be­soldung. Es werde aber nicht leicht sein, in kurzer Zeit eine völlige Gleichberechtigung herzustellen. Weder dem Unterkunfts- noch dem Herkunftsland dürfe die Unterbringung fremder Truppen zum Vorteil oder Schaden gereichen. Der Beisatzungsschmuggel rühr* daher, daß die Besatzungsangehörigen bedeu­tend mehr abgabefreie Ware kaufen könnten, als sie wirklich für sich verbrauchten. Jedes Familienmitglied eines amerikanischen Be­satzungsangehörigen müsse täglich 25 Tassen Kaffee trinken, wenn der zustehende Kaffe« selbst verbraucht werden solle.

Sollte es nicht möglich sein, den Besatzungs­schmuggel und den Schmuggel bei künftigen europäischen Truppen auszuschließen, so müsse das Bundesfinanzministerium eine Sen­kung der Verbrauchsteuer erwägen, um ein* gewisse Angleichung der deutschen Preise an die der entsprechenden Waren in den anderen westlichen Ländern zu erreichen und damit das Übel an der Wurzel zu fassen. Voraus­setzung sei aber auf jeden Fall, daß dadurch kein Einnahmeausfall einfrete. Eingeschränkt könne der Besatzungsschmuggel nur durch ein« scharfe Beschränkung der Einkaufsmöglich­keit abgabefreier Waren auf den wirklichen Eigenbedarf der Besatzungsangehörigen wer­den.

Geringfügige Aenderungen

Die endgültigen Wahlergebnisse vom 9. März

TÜBINGEN. Im Sitzungssaal des Tübinger Staatsministeriums stellte der Landeswahlaus­schuß am 17. März in einer öffentlichen Sitzung das endgültige Gesamtergebnis der Wahl vom 9. März für das Gebiet Württemberg-Hohenzol­lern fest. Gegenüber den vorläufigen Zahlen er­gaben sich nur geringfügige Veränderungen, dl« ohne praktische Auswirkungen sind. Der Lan­deswahlausschuß mußte sich auch in diesem Falle vor allem mit den Grenzfällen befassen, in denen die Wähler sich bei Abgabe ihrer Stimm« nicht genau an die einfache Vorschrift hielten, ihrJa für einen Kandidaten durch ein Kreus in dem Kreis hinter seinem Namen zum Aus­drude zu bringen. Besonders häufig wurde das umgekehrte Verfahren gewählt, bei den dem Landeswahlausschuß zur Entscheidung vorliegen­den Stimmzetteln, indem der Wähler alle Namen bis auf einen durchstrich. Der Landeswahlaus­schuß entschloß sich, in allen Fällen, in denen er mehrheitlich ein Votum des Wählers für einen Kandidaten erkennen konnte, diese Stimm­zettel als gültig anzuerkennen.

Der Ausschuß stellte schließlich folgendes End­ergebnis der Wahl zur Verfassunggebenden Lan­desversammlung vom 9. März in Württemberg- Hohenzollern fest:

Zahl der Wahlberechtigten (ohne Vermerk behindert oderWahlschein) 781 236, Zahl der abgegebenen Wahlscheine 5967, Gesamtzahl dar Wahlberechtigten 787 203, Zahl der abgegebenen Stimmen 497 516, Wahlbeteiligung 63,2 Prozent, gültige .Stimmen 488 328 = 98,2 Prozent, ungül­tige Stimmen 9188 = 1,8 Prozent.

CDU 250 806 Stimmen = 51,4 Prozent, SPD 105 693 = 21,6 Prozent, FDP 78 833 = 16,1 Pro­zent, KPD 16114 = 3,3 Prozent, BHE 30 098 6,2 Prozent, DG 5433 = 1,1 Prozent, Freie Kan­didaten 1351 = 0,3 Prozent.

Kleine Weltchronik

UEBE5ROMAN A1E- CHINA VON ANITA HUNTER

Copyright by Hamann-Meyerpress (33. Fortsetzung)

Jennifers Augen brannten, sie fühlte, was dieser Mann ertragen hatte.

Ich konnte nicht, Jennifer. Nicht meinet­wegen, aber meine Mutter lebte noch. Ihr mußte ich den Prozeß ersparen, sie wäre daran gestorben. Percy Hunton konnte ich nicht wieder lebendig machen, aber ich wollte nicht, daß noch ein Mensch sein Leben einbüßte. Meine Mutter war damals schwer herzleidend, sie starb bald darauf, sie hat nie erfahren, daß Percy Huntons Tod kein Unglücksfall war. Sie glaubte, daß ich aus England fortge­gangen sei, weil ich eine Mission in China erfüllen sollte. Und so kam ich hierher. Mein Bruder schrieb, es sei besser nie wieder nach England zu kommen, damit keinerlei Ver­dacht entstünde. Er hätte alles geordnet, es sei besser, wenn ich für sie alle tot sei.

Und ich begann, die Leute von drüben zu hassen und zu verachten. Die Frau, die mich betrogen hatte, den Freund, der .mir mein Liebstes nahm und mich verlachte, die Ge­sellschaft, die mich fallen ließ, weil sie nicht verstand, daß ich mein Leben den Armen und Unterdrückten widmen wollte. Ich wollte Gutes tun, Jennifer, ich wollte büßen für das was geschehen war. Ich dachte, daß ich dies am besten dadurch tun könnte, daß ich denen half, die keinen Beschützer hatten. Und so wurde ich Wu Tang, dergroße Zauberer". Und nun bist du gekommen, Jennifer, und ich darf dich nicht in meine Arme nehmen, weil

ein Toter zwischen uns steht. Aber es ist ein Glück für mich, ein unsagbares Glück und gleichzeitig ein tiefes Leid, das ich dich treffen durfte.

Er beugte sich zu ihr herab und legte sei­nen Kopf in ihre Hände.

Sie saß ganz still und rührte sich nicht.

Nun kennst du Oliver Pershams Ge­schichte, nun weißt du, weshalb er Wu Tang wurde!

Ja, Oliver!"

Sie lächelt ihm zu, aber eine Träne lief langsam über ihr Gesicht. Sie konnte nichts tun, gar nichts, denn sie wußte zu genau, daß es Olivers Ehre verbot, sie zu seiner Frau zu machen.

Eine kleine Weile herrschte Schweigen, Oliver blickte auf die Uhr.

Es ist Zeit, wir müssen versuchen, hier fortzukommen. Jetzt ist dunkelste Stunde der Nacht. Gib dem Kind dieses Pulver, es ist un­schädlich, aber es läßt den Kleinen einige Stunden fest schlafen. Wir müssen aus der Palaststadt heraus durch den geheimen Gang. Ein Flugzeug wartet auf uns nur wenige Ki­lometer entfernt. Ich ließ es dort startbereit zurück, als ich alleine hierher kam. Es war die einzige Chance, euch zu retten. Bist du bereit, Jennifer?

Sie nickte. Während sie Yen Sei das Pul­ver gab, hatte Oliver ein Bündel zusammen­geschnürt. Er reichte Jennifer ein Paar Bast­schuhe, denn in den hochhackigen Silber­schuhen, die zu dem hellblauen Abendkleid gehört hatten, konnte sie nicht gehen.

Komm, Jennifer!

Sie sah sich noch einmal in der kleinen chinesischen Grabkammer um. Hier hatte Oliver ihr gesagt, daß er sie liebe nie würde sie diesen Ort vergessen.

Oliver nahm den schlafenden Knaben auf den Arm. Dann reichte er Jennifer das Bün­del.

Horch, Oliver, was ist das?

Sie standen einen Augenblick ganz still und lauschten. Ein feines Rieseln, als ob aus einem Brunnenrohr Wasser käme, traf ihr Ohr.

Oliver faßte plötzlich Jennifers Hand mit eisernem, schmerzendem Griff.

Fort, so schnell wie möglich!

Er riß sie mit sich fort, sie sah, wie aus dem Boden plötzlich Wasser drang. Unsicht­bare Schleusen hatten sich geöffnet. Schon schwammen die Silberschuhe, die sie am Bo­den hatte liegen lassen, in einer Wasserlache. Das Wasser stieg in unheimlicher Hast. Jetzt hatte es die niedrige Lagerstatt erreicht und leckte an den Decken. Schon krochen die Fluten in den Gang und drangen in hüpfen­den, kleinen Wellen an den Wänden empor.

Sie keuchten den engen Gang entlang, Jen­nifer sah, daß auf Olivers Stirn Schweiß­tropfen standen. Auch sie fühlte, daß der Tod die Hand nach ihnen ausstreckte.

Jetzt waren sie am Ende des Ganges ange­langt. Fieberhaft suchten Olivers Hände den Mechanismus, der den Stein beiseite schieben sollte, aber er fand ihn nicht. Eine unsicht­bare Hand mußte die Konstruktion verändert haben.

Jennifer sah, wie Oliver die Zähne zusam­menbiß, wie es in seinem Gesicht arbeitete. Er hatte den schlafenden kleinen Chinesen­knaben in Jennifers Arme gelegt, seine Hände tasteten fieberhaft an den Steinen entlang. Das Wasser stieg und gurgelte.

Endlich, ganz langsam, bewegte sich der Stein. Aber er schob sich nur halb beiseite, wie eine Fensteröffnung.

Und in dieser Oeffnung erschien ein ur­altes Gesicht, starr wie eine Maske, mit tau­send Runzeln und Fältchen.

Das Gesicht der Großen Mutter!

Mit einem Aufschrei warf sich Oliver Per- sham gegen die Steinquadern. Aber vergeb­lich, sie wichen keinen Zoll.

Das Gesicht der Großen Mutter verzog sich zu einem Grinsen.

Oliver hob die Faust, aber Jennifer legte schnell die Hand auf seinen Arm.

Nicht, flüsterte sie,nicht, Oliver!

Oliver? fragte die Große Mutter,wenn du Oliver bist, dann bist du Wu Tang!

Eine unendliche Genugtuung schien sie zu beseelen.

Wu Tang, fühlst du, wie das Wasser steigt? In wenigen Stunden bist du tot. Du und di« weiße Frau, die meinem Willen trotzen wollte. Ich wollte ihr Bestes, sie ist tapfer, die weiße Frau mit den roten Locken aber sie nahm den Kampf gegen mich auf. Si« versuchte zu fliehen, doch der Arm der Gros­sen Mutter reicht weit! Wo ist Yen Sei? Gebt das Kind her!

Jennifer sah das Gesicht des schlafenden Knaben an. Das Kind atmete tief und ruhig, die kleinen, zarten Hände waren zu Fäusten geballt.

Oliver", flüsterte sie,das Kind darf nicht sterben. Sie wird ihm nichts tun, wenn wir es ihr geben. Oliver, wir müssen es tun. Ich kann ein kleines, unschuldiges Kind nicht sterben lassen. Vielleicht kommt Huang Yu, um seinen Sohn zu holen. Oliver, wir müssen ihm die Chance geben!

Ja, Jennifer, du hast recht. Aber warte erst lasse mich mit der Großen Mutter spre­chen! Vielleicht gibt es einen Weg!"

Er nahm den Knaben in den Arm und trat dicht an die Fensteröffnung heran. Er hob da» Kind hoch, aber nicht so weit, daß die Groß« Mutter es fassen konnte.

Jennifer sah, wie die Augen der alten Frau gierig aufleuchteten. Sie streckte ihre mage­ren Arme aus, sie wollte das Kind ergreifen, aber Oliver wich zurück.

Und dann sprach er, lange und eindringlich, in einem chinesischen Dialekt, den Jennifer nicht verstehen konnte. (Forts, folgt)