NUMMER 155
FREITAG, 5. OKTOBER 1951
Bis zum lebten Paragraphen
Der Kampf um das Neugliederungsgesete vor dem Bundesverfassungsgericht
KARLSRUHE. Gestern befaßte sich das Bundesverfassungsgericht mit der Rechtsgültigkeit einzelner Bestimmungen des zweiten Neugliederungsgesetzes. Die Vertreter von Südbaden, Württemberg-Baden und Württem- berg-Hohenzoliern legten die Auffassungen ihrer Regierungen dar. Die eigentliche grundsätzliche Debatte um das Gesetz war schon am Mittwoch vorhergegangen.
Am Mittwoch befaßte sich der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit dem zweiten Neugliederungsgesetz. In seiner Begründung des südbadischen Antrags auf Nichtigkeitserklärung des Gesetzes beanstandete Rechtsanwalt Dr. K o p f, Freiburg, vor allem, daß das Gesetz das Prinzip der Volksbefragung verletze, die ja den echten Willen des Volkes zum Ausdruck bringen solle. Bei den vorgesehenen Abstimmungsmodalitäten könne aber ein Land durch das Gewicht der übrigen Länder majorisiert werden. Damit sei der verfassungsmäßig garantierte Gleichheitsgrundsatz verletzt. Es sei ein prinzipielles Wesensmerkmal des Bundesstaates, daß in ihm die Erhaltung der Länder garantiert werde und die Änderung ihre Grenzen nur mit Zustimmung des Volkes möglich sei. Wenn man der heutigen Staatsrechtslehre folge, sei die Bundesrepublik mit dem ehemaligen Deutschen Reich identisch. Dann sei aber Baden nach wie vor als ein Gliedstaat des Bundes anzusehen, der durch das Land Südbaden repräsentiert werde. Die ohne Volksabstimmung, lediglich durch einen Zwangsakt der Besatzungsmilchte erfolgte Ausgliederung des nordbadischen Teües müsse rechtlich als nicht stattgefunden betrachtet werden. Die logische Konsequenz aus dieser Rechtslage sei, daß nur die alten Länder Ausgangspunkte einer Volksabstimmung sein dürften.
Als Vertreter der Bundesregierung entgeg- pete Ritter v. L e x auf die Ausführungen von Rechtsanwalt Dr. Kopf, die Bundesregierung Sei der Auffassung, daß das Gesetz rechtskräftig sei. Das Gesetz habe den ihm im Grundgesetz vorgeschriebenen Rahmen'nicht überschritten. Es sei selbstverständlich, daß die Vorschriften der Volksbefragung dem Gesetzgeber jederzeit die Freiheit lassen, die Abstimmungsbezirke festzulegen. Der Vertreter des Bundestages, Kurt Kiesinger, schloß sich der Ansicht des Vertreters der Bundesriegerung an. Kiesinger sagte, den Argumenten von Rechtsanwalt Dr. Kopf fehle
Manöver nach Koreaerfahrungen
Schwere Flurschäden
FRANKFURT. Das dritte der großen alliierten Herbstmanöver in Deutschland begann am Mittwoch in der amerikanischen Zone. 160 000 amerikanische Soldaten, unterstützt von anderen alliierten Einheiten, verteidigen in dem Unternehmen „Combine“ den Westen gegen einen angenommenen Angriff einer starken Feindmacht im Osten. Nach den Koreaerfahrungen werden die unter dem Oberkommando von General Eisenhower stehenden Übungen in drei Phasen eingeteilt: Eröffnung des Kampfes durch den Angreifer und Rückzug der alliierten Truppen auf vorbereitete Verteidigungslinien, Umgruppierung bei .den Alliierten und- Vorbereitung ihres Gegenstoßes, und schließlich die Großoffensive, die den Feind in sein Land zurückwirft. Die Manöver sollen zeigen, welche Fortschritte die in Europa stationierten amerikanischen Einheiten in den letzten sechs Monaten auf Grund der Ausbildung nach den letzten Koreaerfahrungen gemacht haben.
Aus dem Landkreis Heidelberg werden schwere Flurschäden gemeldet. Vor allem wird bedauert, daß viele noch nicht abgeemtete Kartoffel- und Rübenfelder in Mitleidenschaft gezogen worden sind.
jedes Fundament. Die Bedenken, die man jetzt gegen das Grundgesetz vorgebracht habe, hätten geltend gemacht werden müssen, als das Grundgesetz behandelt worden sei.
Als Vertreter der Länder Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollem bat Prof. Dr. Schneider, Tübingen, den Senat, die von Baden eingereichten Anträge als unzulässig und unbegründet zurückzuweisen. Der Artikel 118 des Bundesgesetzes verstoße nicht gegen das föderalistische Prinzip, sondern fördere es. Bei einer Neugliederung müsse ja ausschlaggebend sein, daß die neuen Länder die ihnen vom Bund gestellten Aufgaben erfüllen können. Es werde aber anerkannt, daß die gegenwärtigen Länder Württemberg-Ho- henzollern und Südbaden dazu nicht in der Lage seien.
Innenminister Viktor Renner, Württemberg-Hohenzollem, bezeichnete die Ausführungen von Rechtsanwalt Dr. Kopf als eine
„merkwürdige Theorie“. Das Argument, Südbaden sei für Nordbaden verantwortlich, sei geradezu absurd. Der württembergisch-ba- dische Wirtschaftsminister Dr. Herrn. Veith legte dem Senat in der Nachmittagsverhandlung ein Gutachten des Heidelberger Universitätsprofessors Dr. Walter Jellineck vor. Jellineck kommt darin in 14 Thesen zu dem Schluß, daß der Bundesgesetzgeber die ihm eingeräumten Entscheidungsbefugnisse mit dem Neugliederungsgesetz nicht überschritten habe. Staatspräsident Dr. Gebhard Müller bezeichnete es als zwecklos, über rein theoretische Begriffe zu sprechen. Entscheidend sei vielmehr die Frage, welches der Wille des Verfassungsgesetzgebers bei der Einführung des Artikels 118 in das Grundgesetz gewesen sei. Dieser Wille sei politischer Natur gewesen und man müsse zugeben, daß die Bundesorgane mit dem Neugliederungsgesetz eine Lösung gefunden hätten, die dem Höchstmaß einer gerechten und zweckdienlichen Regelung im Südwestraum entspreche. Im übrigen seien nach dem Ergebnis der Probeabstimmung für beide Parteien bei einer Durchzählung in vier Abstimmungsbezirken „die Chancen völlig offen“.
Heute Entscheidung
Acht Länder gegen Aufwandsteuer
HAMBURG. Die Entscheidung über die von der Bundesregierung geplante Aufwandsteuer für Waren des gehobenen Bedarfs wird heute im Bundesrat fallen. Nach Württemberg-Baden, Südbaden, Hessen, Bremen, Hamburg und Bayern gaben auch das nordrhein-westfälische und das niedersächsische Kabinett die Ablehnung der Regierungsvorlage bekannt. Damit haben acht der elf Bundesländer beschlossen, im Bundesrat gegen die Aufwandsteuer zu stimmen. Die Bundesregierung hält aber an ihr wie an der Autobahnsteuer fest, da diese beiden Steuern zur Deckung unabweisbarer Ausgaben notwendig seien. Es gehe nicht an, diese durch eine Erhöhung der Umsatzsteuer decken zu wollen, da eine Erhöhung über vier Prozent unmöglich sei.
Ein Bundestagsbeschluß über die Investitionshilfe der Wirtschaft wird nicht vor Ende Oktober erwartet. In den Bundestagsausschüssen für Wirtschaft und für Finanzen wird zur
zeit geprüft, in welcher Höhe die Investitionsumlage erhoben werden kann. Eine starke Minderheit in den Ausschüssen meint, daß durch die Umlage eine Milliarde DM jährlich nicht aufgebracht werden könne. Eine Förderung der Grundstoffindustrie durch Erhöhung der Preise von Kohle und Stahl sei deshalb unumgänglich.
Stabilisierung der Preise
WASHINGTON. Dfe Preisstruktur der Vereinigten Staaten habe sich zumindest für die nächsten vier bis fünf Monate stabilisiert, erklärte der Leiter des amerikanischen Preisstabilisierungsamtes, Johnston, in Paris. Er befindet sich zurzeit auf einer Instruktionsreise durch Frankreich, die Bundesrepublik und England zum Studium der Inflationstendenzen. Johnston ist davon überzeugt, daß die Stabilität der amerikanischen Preise einen „entscheidenden Einfluß auf die Erhaltung des derzeitigen Preisniveaus in Europa“ haben wird. Amerika werde nach und nach alle Rohstoffpreise drücken.
Kleine Weltchronik
FRANKFURT. Der erste Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Christian Fette, ist nach dreiwöchigem Aufenthalt in den USA wieder in Deutschland eingetroffen.
FRANKFURT. Insgesamt 68 deutsche Züge werden mit Wirkung vom 7. Oktober keine Sonderabteile für alliiertes Personal mehr führen.
BONN. Die Deutsche Bundesbahn verzeichnet noch 1,2 Milliarden DM Kriegsschäden. Bisher wurden 1,8 Milliarden DM zur Beseitigung von Kriegsschäden ausgegeben.
BONN. Der Flugpassagierverkehr und der Luftfracht- und Luftpostverkehr im Bundesgebiet und mit Westberlin nehmen fortgesetzt zu. Im April d. J. wurden 66 981, im Juli 87 219 Personen befördert.
KASSEL. Mitte der Woche wurde in Kassel ein „Verband ehemaliger Wehrmachtshelferinnen“ gegründet. Der Verband will engen Kontakt zum VdS auf nehmen und beabsichtigt, sich mit Nachdruck für die noch in sowjetischen Lagern befindlichen Wehrmachtshelferinnen einzusetzen.
DÜSSELDORF. Eine Erhöhung der Altbaumieten um 20 Prozent forderte der Zentralverband der Haus- und Grundbesitzer am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Düsseldorf.
HAMBURG. Nach dem westdeutschen Schiffsbauprogramm, das gegenwärtig von der Bundesregierung ausgearbeitet wird, soll die Tonnagezahl der Bundesrepublik in etwa zwei Jahren mit vier Millionen Tonnen nahezu 50 Prozent der Vorkriegstonnage erreichen, was bedeutet, daß bis Ende 1951 1,14 Millionen Bruttoregistertonnen neu gebaut werden müssen.
HAMBURG. Der Haftbeschwerdetermin des Hamburger Journalisten Dr. Platow und seines Mitarbeiters Dr. Wegrich vor dem Hamburger
Landgericht konnte am Mittwoch nicht stattfinden, da der Haftrichter die Akten bisher noch nicht an das Landgericht weiter gab. — Das britische Hohe Kommissariat hat das Bundesjustizministerium gebeten, ihm Einblick in das gegen Dr. Platow vorliegende Material zu gewähren, da dieser in seinem Dienst auch Informationen gebracht habe, die britische Belange beträfen.
BERLIN. An der Sektorengrenze kam es am Mittwochabend im französisch besetzten Bezirk Wedding zu schweren Zusammenstößen, als etwa 7000 Angehörige der FDJ trotz des Verbots einer im französischen Sektor geplanten FDJ-Ver- sammlung in den Westsektor Vordringen wollten. Der Polizei gelang es, mit Hilfe von Wasserwerfern die Demonstranten wieder zurückzudrängen.
SALZBURG. Die amerikanische Armee gab am Mittwochabend die Verhaftung mehrerer Mitglieder eines gegen die amerikanischen Streitkräfte in Österreich und Deutschland arbeitenden tschechoslowakischen Spionagerings bekannt.
PALERMO. Das Banditentum in Sizilien scheint sich wieder zu organisieren. Mitte der Woche wurden die beiden ersten Todesopfer einer offenbar neugebildeten Räuberbande im Gebiet von Montelepre aufgefunden, ein Cara- biniere und ein Polizeiagent.
WASHINGTON. Der Handel zwischen den USA und der Tschechoslowakei ist durch die Aufhebung der Prag von seiten der USA gewährten Handelskonzessionen praktisch zum Erliegen gekommen.
BUENOS AIRES. Der argentinische Staatsanwalt beantragte am Donnerstag das Todesurteil für den Führer des am vergangenen Freitag gescheiterten Putsches gegen Peron, General Me- nendez.
Oberst a. D. Gümbel
jk. Sprecher des Verbandes deutscher Soldaten haben sich, kaum daß dieser offiziell anerkannt ist, merkwürdige und bedenkliche Entgleisungen zuschulden kommen lassen. Die Alliierten äußerten erhebliche Mißstimmung, die Bundesregierung hat getadelt und das Andenken der Männer des 20. Juli demonstrativ geehrt. Ebensowenig aber, wie solche Äußerungen einzelner für den Geist der deutschen Soldatenbünde kennzeichnend sein mögen, ebensowenig verhallen sie andererseits auch einfach im leeren Raum. Im Gegenteil: sie werden mit sehr hellhöriger Aufmerksamkeit registriert. Schon allein das Konzert der Pressestimmen des Westens mag den törichten und wirklichkeitsfremden Rednern handgreiflich eröffnet haben, welchen Bärendienst sie der Bundesrepublik geleistet haben. In der Tat sind die Folgen für den Gang der Verhandlungen um die politische Rehabilitierung unabsehbar.
Zwar ist tröstlich, daß sich aus den* Soldatenbünden selbst Proteste erheben; so hatten die Landesleitung Bayern und der Landesverband Württemberg-Baden den sofortigen Rücktritt Frießners gefordert, gleichzeitig dessen Äußerungen vor der ausländischen Presse auf das schärfste mißbilligt und sich von Oberst a. D. Gümbel distanziert. Aber nun ist das Porzellan zerschlagen; es scheint geradezu das Schicksal der Bundesrepublik zu sein, daß immer wieder dann solche überflüssigen, ja sinnlosen Störungen auftreten, wenn um die heikelsten Dinge gerungen wird.
Es wäre gut, man könnte die anmaßenden Erklärungen dieser Herren mitsamt ihrem unangebrachten Pathos durch eine wegwerfende Handbewegung abtun — um so mehr, als die Soldaten selbst offenbar wenig Neigung haben, an diesem von einigen ihrer Exponenten geübten Spiel mit Ressentiments mitzutun. Aber gerade die Gümbelschen Auslassungen beanspruchen gebieterisch unsere Stellungnahme, so traurig es auch sein mag, daß eine Diskussion über den 20. Juli überhaupt notwendig ist. Gümbel zollte glattzüngig den Männern des 20. Juli Anerkennung und Würdigung für ihr schweres Opfer, um dann aber zu fordern: „Von ihrem Idealismus aber glauben wir, ableiten zu dürfen, daß sie jeden Versuch unterlassen, in das deutsche Soldatentum zurückzukehren und darin Einfluß zu nehmen.“
Das mag Gümbels eigene anmaßende Meinung sein. Als Blutordensträger muß er ja notwendigerweise Anschauungen huldigen, die sich von denen der von ihm vertretenen Sol-., daten weitgehend unterscheiden. Uns selber sollten wir in unserer Vergeßlichkeit aber in die Erinnerung rufen, daß schon lange vor dem 20. Juli 1944 Hunderttausende deutscher Soldaten in zwar hilfloser, aber scharfer Opposition zu den Verantwortlichen einer entmenschten Politik und Kriegsführung standen, zutiefst überzeugt von der Nutzlosigkeit der Front und Heimat auferlegten beispiellosen Opfer. Die Geschichte der Männer des 20. Juli muß erst noch geschrieben werden. Durch die bewußten Fälschungen des Regimes und später durch die verzerrten Darstellungen in- und ausländischer Autoren hat sich verständlicherweise in weiten Bevölkerungskreisen ein total verschobenes Bild festgesetzt, das zu korrigieren nun endlich an der Zeit wäre. Oberst a. D. Gümbel aber müssen wir das Recht aberkennen, über die Männer des 20. Juli zu urteilen — auch wenn er dieses Urteil mit einer schon peinlich wirkenden doppelzüngigen Anerkennung ihres Opfers verbrämt.
*
Im übrigen hat der Verband deutscher Soldaten kurz vor Redaktionsschluß offiziell erklärt, er sei nicht gewillt, die Frage des 20. Juli erneut zum Anlaß eines fruchtlosen Streites werden zu lassen, und fest entschlossen, einen Strich untei das Vergangene zu ziehen und in Gemeinschaft mit allen, die guten Willens sind, an der Gestaltung einer besseren Zukunft zusammenzuarbeiten. Die kürzlich von Oberst a. D. Gümbel an den Männern des 20. Juli geübte Kritik stelle lediglich die „persönliche Auffassung“ Gümbels dar.
Ein heiterer Roman oon l ranz Goßt:
„Nachsaison"
Copyright by Schwäb. Verlagsgesellschaft, Tübingen
Im fahlen Schein, den die armselige Mondsichel fünf Tage vor dem gänzlichen Verschwinden noch zu geben vermochte, schlich eine dunkle Gestalt verdächtig mit schrittdämpfenden eingeknickten Knien um das Anwesen des Obermoser Ander herum. Aus der ebenerdigen Stube drang noch ein Lichtschimmer. Vorsichtig pirschte sich die Gestalt heran und spähte durch einen Spalt des Vorhangs. Was sie sah, schien sie sehr zu befriedigen, denn ein gedämpftes „Ah!“ entschlüpfte ihr. Die Lisi saß allein drinnen und stichelte an irgendeinem Wäscheschrank herum.
Leisd* trommelten die Fingerknöchel an die Scheiben. Die Lisi fuhr etwas zusammen und setzte mit ihrer Arbeit aus. Doch rasch faßte sie sich wieder. Was sich so vorsichtig ankündete, konnte nicht übermäßig gefährlich sein. Und Geisterstunde war ja auch noch nicht.
Sie ging zum Fenster hin. — „Mach auf, Lisi!“, flüsterte es vernehmlich.
„Zu mir kommt man bei Tag durch die Tür und nicht die Nacht zum Fenster“, verwies sie den nächtlichen Besucher auf den geraden, allerdings weniger romantischen Weg.
„Mach doch keine Flausen, Lisi!“, bestürmte sie der Bursch, „ich bin’s ja nur, der Martin.“
„Was willst, denn überhaupt?“ fragte sie ihn, mehr, um Zeit zum Überlegen zu gewinnen, als aus wirklicher Unkenntnis über Zweck und Ziel nächtlicher Besuche.
„Ich muß dir was Wichtiges sagen“, tat der Martin geheimnisvoll und versuchte, das ein wenig geöffnete Fenster weiter aufzudrücken. Er stieß allerdings auf wenig Verständnis dafür.
„Aber Martin!“, verwahrte sich die Lisi, „was ist denn dir zu Kopf gestiegen? Paß auf, wenn der Vater kommt!“
„Der sitzt gut in unserer Stube. Es lebe der Amerikaner!“, beruhigte sie der Martin und lachte verschmitzt, daß die Zähne trotz der windigen Beleuchtung aufblitzten. „Der Amerikaner zahlt und die anderen saufen wie die Löcher. Dein Vater mit — kannst dir ja denken, wenn’s nichts kostet.“
„Du, mach meinen Vater nicht schlecht!“, schmollte die Lisi, „er hat halt seine Schwächen.“
„Wo werd’ ich!“ entgegnete der Martin beschwörend, „ich tät ihm dafür ja am liebsten um den Hals fallen — aber weil er nicht da ist — hm, was meinst, könntest nicht du ihn vertreten.“
„Das könnt dir so passen!“ wehrte sie ab, aber Martin geschärftes Ohr vernahm ein unterdrücktes Lachen der Lisi.
Das machte ihn gleich kühner: „Stell dich nicht so, Lisi, mach doch auf!“
„Hätt’st gern!“ ließ sie sich nicht erweichen, „und jetzt verschwind, es zieht.“
„Geh, sei doch nicht so!“ bettelte der Martin, daß es ein hartgesotteneres Herz als der Lisi ihres zum Erweichen hätte bringen können, „mir ist heiliger Emst.“
„Dann wart ein bißl!“ befahl ihm die Lisi und verschwand vom Fenster. Martin stand nun da und wußte nicht, wie er sich das deuten solle. Hatte sie ihn wirklich so glatt abfahren lassen? Und er meinte doch immer, auch sie sähe ihn nicht gerade ungern ...
Während er noch überlegte, huschte sie um die Ecke und stand plötzlich in voller Lebensgröße vor ihm: „So, da bin ich! Jetzt sag, was du willst!“
Lang brauchte der Martin nicht, um sich von der Überraschung zu erholen, und anstatt jeder Antwort packte er sie beim Kopf und pappte ihr ein Bußl hinauf, das nicht von schlechten Eltern war. Nun war es an ihr, die Überraschung zu verdauen. Auch sie brauchte
nicht lange dazu: „Oha, Manndl, so haben wir nicht gewettet! Gute Nacht!“
Gerade, daß er sie noch erwischte und zurückhalten konnte:
„Aber Lisi, sei doch gescheit! Ich will dich ja heiraten!“
Dieses Wort genügte allerdings, um ihre Rückzugsabsichten etwas zu bremsen: „Ist das dein Emst, Martin? Spielen laß ich mit mir nicht, das laß dir gesagt sein!“
„Wenn ich es schon sag, Lisi!“ beteuerte der Martin. Und da gerade eine Bank in der Nähe war, setzten sie sich hin, um das weitere zu besprechen. Merkwürdigerweise wurde dabei trotz eifriger Lippentätigkeit sehr wenig geredet.
*
Erschreckt fuhr plötzlich die Lisi auf: „Mein Gott, Martin, der Vater!“
Mit der gelassenen Ruhe eines, der mit sich und der übrigen Welt zufrieden ist, warf der Martin hin: „Laß ihn, der beißt heut nimmer!“ Das Gebaren des alten Obermoser rechtfertigte jedoch in keiner Weise eine solch zuversichtliche Auslegung seines Tuns. Denn während er drinnen im Haus die Stiege hinaufkletterte und dabei anscheinend jede Stufe mit seinen Grobgenagelten auf ihre Festigkeit prüfte, bullerte er vor sich hin: „... da um’s Ecke . . . hupp . . . der Schatten . . . aha! da ist er, der Hundsknochen, der lumpige . . . hupp!“ — es tat einen grausamen Pumperer — „er... oder ich!... wart nur, Bürschl!.... mit dir . . . hupp . . . jetzt springt er her ... es kracht . . . hupp . . . Kruzitürken! . . . au! au! au!“ — und zugleich hörte man einen Rumpler, daß einem die hellichte Angst anspringen konnte. In der Hitze des Gefechtes, einer Nachwirkung der haarsträubenden Erzählungen des Amerikaners, war der gute Obermoser über die im Gang stehende Truhe gestolpert, wobei es ihm in der Länge nach hinhaute. Dann war es unheimlich still.
„O Gott! O Gott!“ jammerte die Lisi, „was ist denn jetzt passiert?“
Kaltherzig bemerkte der Martin: „Nur keine Aufregung! Einem Besoffenen geschieht nichts! — Da — hörst — er rappelt sich wieder auf.“
Tatsächlich. Mordsmäßig fluchend klaubte der Obermoser seine Knochen zusammen, man hörte ihn an seiner Kammertür knaspeln — er war seit Jahren Witwer, sein einziger Sohn gegenwärtig beim Militär — eine Tür schlug zu. Damit war wieder Ruhe im Hause.
„Du Martin“, wandte sich Lisi wieder ihrem Besuch zu, „du bist ein schlechter Mensch.“
„Wieso denn auf einmal?“ fragte er unschuldig.
„Herzlos bist!“ fauchte sie ihn an, „du könntest kaltblütig Zusehen, wie ein Mensch zugrund geht. Das hab ich jetzt gemerkt.“
„Aber geh, Lisele“, redete er ihr gut zu, „da hab ich mehr Erfahrung als du. So schnell geht ein ordentlicher Mann wegen einem Rausch nicht kaputt. Ich kenn das.“
„Du — ich mein, du hast sonst auch allerhand Erfahrung“, argwöhnte sie weiter.
„Wieso?“ — Harmloser konnte sich ein neugeborenes Kind auch nicht benehmen.
„Bei den Mädchen“, half sie ihm auf den rechten Gedankengang.
„Lisele, da schneidest dich jetzt“, beteuerte der Martin ehrlich, „du bist die einzige, die ich mag, jetzt und alleweil!“
„Wenn man dir glauben könnte!“ seufzte Sie.
„So wahr ich da sitz!“ schwor er, weil ihm im Augenblick keine bessere Beteuerung einfiel
..... und so wahr du jetzt verschwinden
mußt“, ergänzte sie die Formel.
Das war so deutlich, daß von vornherein jeder Widerspruch zwecklos erschien. Und so verschwand Martin ebenso geräuschlos, wie er gekommen war, in der Nacht. Die Lisi huscht® durch die hintere Haustür, durch die sie auch herausgekommen war, hinein. Nun erst war vollkommene Ruhe im und ums Haus.
(Fortsetzung folgt)