NUMMER 143

FREITAG, 14. SEPTEMBER 1951

Kanzler fordert zum Aushalten auf

Appell an die Deutschen im Osten / Feierstunde im Bundeshaus

BONN. In einer feierlichen Erklärung zum nationalen Gedenktag des deutschen Volkes ap­pellierte Bundeskanzler Dr. Adenauer am Mittwochnachmittag im festlich geschmückten Plenarsaal des Bundeshauses an die Deutschen im Osten,fest und standhaft bis zum Tag der friedlichen Wiederherstellung der deutschen Einheit auszuhalten. Dieser Tag wird kommen. Wir gedenken gerade in diesen Tagen mit be­sonderer Liebe Berlins und der deutschen Brü­der und Schwestern jenseits des eisernen Vor­hangs.

Der Bundeskanzler gab seine Erklärung vor dem Bundespräsidenten, den Abgeordneten des Bundestags und Bundesrats, Mitgliedern der Bundesregierung und des Diplomatischen Korps und den Stellvertretern der drei Hohen Kommissare ab. Außerdem hatten sich Ver­treter der Gewerkschaften, der Flüchtlings­organisationen und des Soldatenverbandes, so- yrie sonstige Vertreter des öffentlichen Lebens eingefunden.

Im weiteren Verlauf seiner Ansprache hob cjer Bundeskanzler hervor, daß der Gedenktag ln die Zeitdramatischer internationaler Span­nungen falle.Die westliche Welt, die die Mit­arbeit Deutschlands zur Verteidigung des Frie­dens und der Freiheit will, muß sich darüber klar sein, daß nur ein freies, in Wahrheit freies Volk mit ganzem Herzen seine Kraft einsetzt. Scharf wandte sich Adenauer gegen diejenigen Kreise, die der Arbeit am Aufstieg Deutschlandsteilnahmslos oder sogar höh-

Regelnng der Auslieferung

Deutsch-französischer Vertragsentwurf

BONN. In die Bundesrepublik desertierte deutsche Fremdenlegionäre brauchen künftig nicht mehr an Frankreich ausgeliefert werden, falls sie nicht kriminelle Delikte begangen ha­ben. Dies ist eine der Bestimmungen des zwi­schen der Bundesrepublik und Frankreich vorgesehenen Auslieferungsvertrags, der dieser tage vom Bundeskabinett verabschiedet wor­den ist. Die französische Militärpolizei kann danach deutsche Staatsbürger nicht mehr we­gen in Frankreich begangener Delikte verhaf­ten. Ihre Festnahme und Auslieferung ist Sa­che der deutschen Polizei. Von dem Abkommen unberührt bleibt das Kontrollratsgesetz Nr. 10, das die Auslieferung deutscher Kriegsverbre­cher an andere Länder regelt. Die Bundes­regierung hofft aber, in Kürze zu einer ande­ren Regelung zu kommen.

Amtliche französische Kreise sind über die Veröffentlichung des noch zur Diskussion ste­henden Vertragsentwurfs über die gegensei­tige Auslieferung von straffällig gewordenen Personen zwischen den beiden Ländern er­staunt; der Vertrag sei noch nicht unterzeichnet.

Robinson wieder Weltmeister

NEW YORK. Sugar Ray Robinson (USA) schlug den bisherigen Weltmeister im Mittel­gewicht, Randolph Turpin (England), am Mittwochabend in New York in der 10. Runde durch technischen ko. und holte sich damit seinen Weltmeistertitel wieder. Das Ende des Kampfes kam völlig überraschend für die Zu­schauer. Auf eine furchtbare Linke hin mußte Turpin bis neun zu Boden. Als er wieder hoch kam, trieb Robinson ihn gegen die Seile und deckte ihn mit schweren Doubletten ein. Um ernsthafte Verletzungen Turpins zu ver­meiden, nahm der Ringrichter den tapferen Verlierer aus dem Ring und erklärte Robin­son zum Sieger durch technischen ko. Turpin trug den Titel nur zwei Monate.

Margarinepreise frei

BONN. Ab Samstag fallen die Preisbin­dungsvorschriften für Margarine, Speise- und Kunstspeisefette außer Ölen fort, wie eine im Bundesanzeiger am 13. September veröffentlichte Verordnung besagt. Die Preis­vorschriften für Butter werden davon nicht berührt.

nisch" gegenüberstehen. Im Anschluß an den Bundeskanzler hielt Prof. Eduard Spran- g e r (Tübingen) die Festrede (siehe an anderer Stelle dieser Ausgabe).

Den Ausklang der Bonner Festlichkeiten zum nationalen Gedenktag bildete eine Feier­stunde auf dem Bonner Marktplatz, in der Bundesminister Jakob Kaiser sprach. Kaiser bejahte die Frage, ob ein Anlaß zur Veranstal­tung eines nationalen Gedenktages bestehe. Der 12. September sei ein Tag der Besinnung auf das, was Deutschland heute sei, und zu­gleich auf das, was es wieder werden müsse. Die Bundesrepublik sei eine Notlösung, jedoch die Zusammenfassung aller Deutschen, denen

die Möglichkeit gegeben wäre, sich offen zu Freiheit und Demokratie zu bekennen, gleich­zeitig aber auch die Hoffnung der 20 Millio­nen Menschen, die diese Möglichkeit in der Sowjetzone und in Ostberlin nicht hätten.

Erste Aufgabe sei es, diesen Kern gesund, stark und anziehend zu machen. Der erste wirkliche nationale Feiertag werde der Tag sein, an dem die heutige Sowjetzone nicht mehr ein Exerzierfeld des Bolschewismus sei, der Tag, an dem die Heimatvertriebe­nen und politischen Flüchtlinge ihre Schritte wieder ostwärts lenken könnten in die alte Heimat.

Aus dem In- und Ausland sind dem Bun­despräsidenten zum nationalen Gedenktag viele Glückwünsche zugegangen, u. a. vom amerikanischen Außenminister Acheson im Namen von Präsident T r u m a n und vom italienischen Staatspräsidenten E i n a u d i.

Storch vermittelt im hessischen Streik

Die Bundesregierung will schlichten: Wenn die Sozialpartner es wünschen

FRANKFURT. Bundesarbeitsminister An­ton Storch hat sich am Mittwoch mit einem Vermittlungsversuch in den hessischen Metall­arbeiterstreik eingeschaltet. Die Vertreter der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände un­terbrachen ihre mit Ministerpräsident Georg Zinn geführten Besprechungen über eine Bei­legung des Streiks und fuhren am Mittwoch­nachmittag zur Information Storchs nach Bonn. Der Bundesarbeitsminister hatte vom Kabinett den Auftrag, sich über die Meinungen und Ab­sichten der Sozialpartner zu informieren.

In Bonner politischen Kreisen hält man es für möglich, daß die hessischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Bundesregierung zur Schlichtung des Lohnstreikes auffordem wer­den. Ein Regierungssprecher erklärte, daß die Bundesregierung keine Möglichkeit habe, in die Löhnverhandlungen direkt einzugreifen. Beide Sozialpartner müßten den Wunsch dazu äußern.

Die Bezirksgruppe Nordhessen der IG Me­tall teilte mit, daß sich bereits viele junge Me-

Kleine Weltchronik

FRANKFURT. Die alliierte Hohe Kommission hat sämtliche Flüge der tschechoslowakischen Luftverkehrsgesellschaft über westdeutsches Ge­biet untersagt. Gründe für das Verbot wurden bisher noch nicht mitgeteilt.

FRANKFURT. Der Vorsitzende des DGB, Christian Fette, ist nach den USA geflogen, um an der Jahrestagung der amerikanischen Ge­werkschaftsorganisation AFL teilzunehmen.

BONN. Ein Sprecher des Bundesverkehrsmini­steriums kündigte eine umfassende Verkehrs­erziehungsaktion für die 15 Millionen Radfah­rer im Bundesgebiet an. Täglich verlören vier Radfahrer ihr Leben durch Verkehrsunfälle.

BONN. Ordensauszeichnungen mit dem Haken­kreuz, die ein Bonner Uniformgeschäft mehrere Tage ausgestellt hatte, wurden von der Krimi­nalpolizei beschlagnahmt. Das Geschäft hatte von einem anderen Uniformgeschäft Ordensrestbe­stände übernommen, da es mit einer großen Nachfrage rechnete.

BONN. Argentinien hat den Kriegszustand mit der Bundesrepublik beendet und gleichzeitig dem ersten deutschen Botschafter der Nachkriegszeit in Argentinien, Dr. Terdenge, das Agreement er­teilt.

BONN. Bundesfinanzminister Schaffer rechnet zurzeit nicht damit, daß die Bundesrepublik eine Ausländsanleihe erhält.

DÜSSELDORF. Der Präsident des Zentralver­bandes der Haus- und Grundbesitzer, Dr. Hand­schumacher, kündigte an, daß der am vergangenen Wochenende von Landwirtschaft, Handwerk und Grundbesitz gegründete Mittelstandsblock in Kürze bei allen maßgeblichen Regierungsstellen seine Forderungen anmelden werde. Der neue Block sei keine neue Partei, strebe aber an, als Vertreter mehrerer Millionen Menschen in den geplanten wirtschaftlichen Gremien bei der Bun­desregierung Sitz und Stimme zu erhalten.

BAD EMS. Am Mittwoch begann in Bad Ems der Jahreskongreß derNouvelle Equipe In­ternationale (NEI), eine internationale Verei-

tallarbeiter gemeldet hätten, die Arbeit im Ausland annehmen wollen. Der Bundesvor­stand der IG Metall hatte sich ernsthaft damit beschäftigt, ledigen Metallarbeitern bis zu 30 Jahren, die sich im Streik befinden, Arbeits­möglichkeiten im Ausland zu vermitteln. Der Arbeitgeberverband der hessischen Metallindu­strie erklärte dazu, der Gewerkschaft sei je­des Mittel recht, um ihre Streikziele zu errei­chen. Dieser Plan komme praktisch einerDe­portation deutscher Arbeiter gleich und be­deute eine rücksichtslose Opferung aller menschlichen und heimatlichen Bindungen zu­gunsten eines Prestigeerfolges der Gewerk­schaft.

Zu größeren Zwischenfällen ist es im hessi­schen Streik bis jetzt nicht gekommen. Die hessische Regierung hat erneut an beide Par­teien appelliert, den Streik in Fairneß als wirtschaftliche Auseinandersetzung zu führen. Die Polizei ist angewiesen worden, Arbeitswil­ligen auf Anforderung entsprechenden Schutz gegen Streikposten zu gewähren.

nigung christlich-demokratischer Gruppen. Bun­deskanzler Adenauer wird heute vor dem Kon­greß über das ThemaDeutschland und der Friede in Europa sprechen.

BRAUNSCHWEIG. Zu insgesamt 250 DM Geld­strafe wurden vom Braunschweiger Amtsgericht sechs Angehörige des Bundesgrenzschutzes und ein Kaufmann verurteilt, weil sie am 3. Sep­tember in einer Kaserne das Englandlied,Bom­ben auf Engeland und den Anfang des Horst- Wessel-Liedes gesungen hatten. Die Verurtei­lung erfolgte wegen groben Unfugs, da die An­geklagten angaben, andere Texte auf die be­kannten Melodien gesungen zu haben. Die An­gehörigen des Grenzschutzes wurden sofort vom Dienst suspendiert.

ROM. In einer Enzyklika zum 1500. Jahrestag des Konzils von Chalcedon forderte Papst Pius die Christenheitzur Sammlung unter einem Banner wider dem Ansturm des höllischen Fein­des auf und richtete insbesondere an die rus­sische, griechisch-orthodoxe und die orientali­sche Kirche einen Appell, in den Schoß der ka­tholischen Kirche Roms zurückzukehren.

Bund nicht Städte

TÜBINGEN. In unserer Mittwochausgabe mel­deten wir, Ministerialrat Vowinkel habe im Finanzausschuß des Landtags einen SPD-Antrag auf Genehmigung von 1,6'' Mill. DM aus Lan­desmitteln für den Ausbau von Besatzungswoh­nungen abgelehnt mit der Begründung, die Städte hätten genügend Geld hierfür. Das Finanzmini­sterium bestreitet in einer Zuschrift diese Dar­stellung entschieden und teilt mit, die Ableh­nung des Antrags sei ausdrücklich deshalb er­folgt, weil nicht das Land, sondern der Bund für die Tragung solcher Kosten zuständig sei. Dem sei lediglich von Vertretern des Finanzministe­riums angefügt worden, daß den Städten did Aufbringung von Mitteln für diesen Zweck eher möglich sei als dem Lande, wenn schon der hier­für zuständige Bund nichts geben könne.

Wir haben ihn

Ih. Jetzt ist er da, der neue Verdienstorden, den der Bundespräsident aus Anlaß des zwei­ten Jahrestages der Gründung der Bundes­republik gestiftet hat. Diesen Orden, den dem­nächstverdiente Männer und Frauen des deutschen Volkes und auch Ausländer als äußeren Ausdruck für Dank und Anerken­nung tragen werden, gibt es in diversen Aus­führungen: als schmuckloses Verdienstkreuz, als Großes Verdienstkreuz und als Großkreuz. Je nach Verdienst.

Wer sich so verdient gemacht hat, daß er der Dekorierung mit dem Großen Verdienst­kreuz mit Stern oder gar mit dem Großkreuz für würdig befunden wird, darf sich außer­dem noch mit einer bunten Schärpe schmük- ken, die gemäß der präsidialkanzleilichen Vorschrift von der rechten Schulter zur linken Hüfte geschlungen sein muß.

Zu den Sorgen um die Zukunft des Staates kommen also wieder die Sorgen um den rich­tigen Sitz der Ordensschärpe. Man wird sich im Spiegel nicht allein wegen des Zustandes der pomadisierten Frisur und wegen des richtigen Sitzes der Frackschleife beschauen, sondern auch wegen des ordnungsgemäßen Verlaufes der Schärpe. Gottlob, daß diejenigen, die sich ums tägliche Brot sorgen müssen, nicht auch noch dieser Not ausgesetzt sein werden. Ihnen wird es ja wohl kaum zum Großen Verdienst­kreuz mit Stern und zum Großkreuz und zur Schärpe reichen. Und der Frack fehlt ihnen ja auch. Können Sie sich vielleicht einen Hand­werker im gezwirnten Straßenanzug mit der Schärpe über der Brust beim Stiftungsfest de» Gesangvereins vorstellen? Wenn es aber schon Orden gibt, sollte man diekleinen Leute, die sich in ihrem Lebens- und Aufgabenbereich nicht weniger um das deutsche Volk verdient machen können als irgendeiner, der im Blick­feld der Öffentlichkeit steht, nicht übersehen.

Den Staat kostet das ja auch außer einer neuen Ordenskanzlei und außer einigen Gramm Metall nicht viel. In der Weimarer Republik waren Anerkennungen in Gestalt von Meiße­ner Porzellanservicen nicht billig. Deshalb ist man von dieser bürgerlichen Form des Aus­zeichnens wieder abgekommen,denn der Bun- despräsident hat kein Geld für Porzellan und ähnliche Dinge. Heute macht man das Aus­zeichnen entgegen der üblichen Tendenz weni­ger kostspielig.

Die Vertreter der Länder

Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts

TÜBINGEN. Bei der mündlichen Verhand­lung der südbadischen Klage gegen die Nau- gliederungsgesetze vor dem Bundesverfasi sungsgericht am 2. Oktober werden voraus'« sichtlich Staatspräsident Dr. Müller, In-, nenminister Renner und Univ.-Professor Schneider Württemberg - Hohenzollern,» der stellv. Ministerpräsident und Wirtschafts-' minister Dr. Veit, Univ.-Professor Dr«i Gönnenwein, Heidelberg, und Oberland desgerichtspräsident Martens Württcm«i berg-Baden und der Freiburger Bundestags-* abgeordnete Rechtsanwalt Kopf Südbad erf vertreten. Freiburg hat sich die Benennung weiterer Vertreter noch Vorbehalten.

Das Bundesverfassungsgericht wird am 29* September in Karlsruhe in Anwesenheit von? Bundespräsident Heuß und Bundeskanzler:! Adenauer mit einem feierlichen Staats­akt eröffnet.

Klage gegen Staiger

REUTLINGEN. Nachdem, wie berichtet, de*. Pfullinger Stadtrat Jakob Staiger ge en die Zeugen im Dienststrafverfahren Kalb \1,' Landrat Kern, Hotelier Büttner und La-, brikant Danzer, Anzeige wegen Meinr'. 1s ; erstattet hat, haben die drei genannten Zcu-c gen ihrerseits gegen Jakob Staiger Beleidi­gungsklage erhoben. Ob die Staatsanwalt­schaft die Klage Staigers weiterverfolgen oder! die Sache einstellen wird, steht noch nichtj fest. Auf das Dienststrafverfahren Kalbfell 1 haben diese Streitigkeiten keinen Einfluß.

E1TERES vSpIEL

IM NECKARTAL Ein fi ältlicher Roman von Else Jung 31] Copyright by Verlag Bechthold

Sie haben ihn, Thilo!

Mit diesem, gleich einem Fanfarenstoß klingenden Ausruf begann Immas Brief. Sechs engbeschriebene Bogen lagen vor Thilo, die in Immas lebendiger, ein wenig sprung­hafter Art von den Ereignissen der letzten Tage berichteten.

Am Vorabend seiner Verlobung tappte der Gauner in die Falle, ahnungslos wie ein Bär, den man mit Honigbrot gelockt hatte. Die arme Muschi, sie hat viel durchgemacht und weiß noch immer nicht, wem sie die Be­freiung von diesem Menschen zu danken hat.

Aber ich weiß es! Großmama hat es mir ge­sagt.

O Thilo, dich hat uns der Himmel geschickt!

Ich kann es noch immer nicht fassen, daß es solche Zufälle gibt, und Großmama meint: Es sei kein Zufall, sondern Bestimmung ge­wesen. Sicher hat sie recht.

Auf Muschi hat diese schlimme Geschichte So niederschmetternd gewirkt, daß sie von Verlobung und Hochzeit nichts mehr hören will.

Das macht mir ernste Sorge, Thilo, denn was soll jetzt aus uns beiden werden?

Ich habe ihr gesagt, sie möge das Heiraten lieber mir überlassen, ich würde ihr eines Tages einen Mann bringen, der in jeder Be­ziehung einwandfrei sei.

Und was hat sie mir geantwortet?

Erstens: Ich sei noch viel zu jung, um an eine Ehe zu denken. Und zweitens: Sie werde fair meinen Zukünftigen selber aussuchen.

Wir hätten uns beinahe wieder verkracht, als ich mir zu bemerken erlaubte, ob sie mir vielleicht den neuen Prokuristen als Ehemann zugedacht habe. Er heißt Sauermann und sieht auch so aus. Dieses Mal hat sich Muschi nicht von dem Anblick eines schönen Gesich­tes betören lassen. Sauermann ist alles andere als schön, und nur die Auskünfte, die Mu­schi, durch Schaden klug gemacht, über ihn einholte, sind bestechend. Er tritt morgen sei­nen Posten an, und dann sind es nur noch zwanzig Tage, bis du kommst.

O Thilo, ich kann es kaum mehr erwarten!

Hat Isa schon ihren Walter geheiratet?

Ach, wenn wir doch auch schon soweit wä­ren, lieber Thilo! Aber ich fürchte, wir wer­den es mit Muschi nicht leicht haben.

Du wenn es uns gelänge, sie zu über­listen.

Wenn du zum Beispiel so tüchtig wärst ich meine im Betrieb, daß sie selber auf den Gedanken käme, dich und mich ...

Junge, das wäre die einzig mögliche Lö­sung! Laß es dir mal durch den Kopf gehen und schreibe mir, was du darüber denkst.

Natürlich müßten wir unter Muschis Augen ein bißchen Theater spielen und so tun, als könnten wir uns nicht ausstehen.

O du gerissenes, kleines Frauenzimmer!

An dieser Stelle hielt Thilo im Lesen inne.

Theater spielen die Mutter überlisten so tun, als ob wir uns nicht ausstehen könn­ten!

Ich weiß nicht, ob ich dir das versprechen kann, du liebe, süße Intrigantin du! Wenn ich dich sehe, brenne ich lichterloh. Aber tüchtig will ich sein, so tüchtig, daß mich die Frau Mama nicht mehr entbehren kann, das gelobe ich dir.

Weißt du auch, daß mein Chef wie vor den Kopf geschlagen war, als ich kündigte? Gol­dene Berge hat er mir versprochen, wenn ich bliebe, und mein Selbstbewußtsein ist seit­dem beträchtlich gestiegen. Ich muß doch un­ersetzlich sein, weil mich der Mann mit allen

Mitteln halten will, aber es hat nichts ge­nützt. Dein Thilo hat den Lockungen wider­standen und tritt pünktlich am ersten No­vember in den Neckartaler Kunsthandwerk­stätten an.

Imma, liebes, geliebtes Mädel du!

Dein Bild steht vor mir auf dem wack­ligen Tisch meiner Bude und lacht mich an. Bald wirst du selber vor mir stehen, bezau­berndes Geschöpf aus Fleisch und Blut, Atem und Stimme. Küssen werde ich dich und dir immer wieder sagen, wie sehr ich dich liebe. Keine Macht der Welt, keine Muschi, die von den Männern nichts mehr wissen will, wer­den es verhindern können, daß du mein wirst.

Thilo nahm den Briefblock aus der Tisch­schublade und begann an Imma zu schrei­ben. Es wurde ein zärtlicher Brief voller Sie­gesgewißheit und Zukunftshoffnung.

Zehntes Kapitel

In diesem Jahr schien der November ver­gessen zu haben, was er seiner Bestimmung schuldig war. Mit drei großen Koffern, in denen Regen, Nebel und Schnee noch fest ver­packt waren, hatte er im Neckartal Einzug gehalten und sich damit begnügt, nur auf dem Kalender zu stehen. Ohne Schlechtwetterman­tel und Kapuze lief er im herrlichsten Sonnen­schein spazieren, ein freundlich und milde ge­sinnter, alter Herr, der Ferien vom Ich machte.

Imma und Thilo waren ihm ob dieser Bum­melei nicht gram, und wenn die Stunden, in denen sie sich heimlich trafen, auch karg be­messen waren, so empfanden sie es doch dank­bar, daß die verschwiegene Bank im Walde lange Wochen geschützt und trocken blieb.

Hier brauchten sie sich nicht zu verstecken, wie sie es unten im Werk tun mußten. Hier konnten sie sich nach Herzenlust küssen und brauchten ihre Augen nicht so ängstlich zu hüten wie in der Kantine, in der sie sich wäh­rend des Mittagessens gegenübersaßen.

Manchmal muckte Thilo auf.

Das Theaterspielen machte ihm keinen Spaß' mehr, und Imma mußte ihn beschwören. Ge­duld zu haben.

Warte, Thilo, warte um Himmels willen 1 ; noch einen Monat oder zwei. Muschi lobt dich jetzt schon über den grünen Klee, ich muß es doch am besten wissen.

Thilo horchte auf.

So? tut sie das ist sie mit mir zufrieden? Imma nickte.

Sie hat große Pläne mit dir vor Groß­mama hat es mir verraten.

Was für Pläne, Imma?

Davon habe Großmama nicht gesprochen, weil sie Näheres nicht wisse. Sicher wäre nur, daß Thilo auf dem besten Wege sei, sich Mu­schis vollstes Vertrauen zu erwerben.

Nach einer Äußerung zu Großmama hält sie dich für einen ungewöhnlich begabten Menschen und freut sich, daß sie dich für ihre Werkstätten gewonnen hat.

Thilo verbeugte sich lachend. Ein so hohes Lob, meinte er, habe er nach einer knapp dreiwöchigen Tätigkeit kaum erwartet. Selbst­verständlich sei er glücklich darüber und werde alles tun, um es zu rechtfertigen.

Was Thilo sich immer gewünscht hatte, war ihm an seiner neuen Arbeitsstätte endlich er­füllt worden: Angelika Lorentzen ließ ihm freie Hand. Er durfte sich in allen Abteilun­gen umsehen und sich Anregungen für seine Entwürfe holen, wo er sie fand. Wenn es ihm gefiel, auf der Drehscheibe eine Schale oder einen Krug zu formen; wenn er in der Gold­schmiedewerkstatt mit der Metallsäge ein Blumenomament aus einer Silberplatte schnei­den oder in der Abteilung Holzschnitzerei sich mit dem Schnitzmesser vertraut machen wollte, so gab es niemanden, der es ihm verwehrt hätte. Thilo lernte auf diese Weise das Ma­terial kennen, für das seine verschiedenen Entwürfe bestimmt waren, und er merkte sehr bald, wie sehr ihm diese Kenntnis zu­gute kam. (Fortsetzung folgt)