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Flüchtlingshilfe und Verteidigung

den Steuern, die dem Bund jährlich je 1Q0 Mill. DM. bringen sollen, werden dem Bundesrat Anfang September zugeleitet werden.

Der Haushaltsplan 1951/52 mit dem Nach­tragsetat schließt mit einer Gesamtsumme von 20 460 000 000 DM ab. Der ordentliche Haus­halt, der nach den Angaben Schaffers in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen ist, beträgt 17,260 Milliarden DM. Der außeror­dentliche Haushalt beläuft sich auf 3,200 Mil­liarden DM. In den Haushalt hat der Bundes­finanzminister den Betrag von 6,6 Milliarden DM als Verteidigungskosten eingesetzt. Von diesen 6,6 Millarden DM entfielen 5 Milliarden DM auf den ordentlichen und 1,6 Milliarden

Haushaltsplan mit Aufwandsteuer und Autobahnbenutzungssteuer genehmigt

BONN. Die Gesamtbelastung durch Flücht­linge, durch die Berlinhilfe und durch die Be­satzung beträgt für den Bund im Jahre 1951 Insgesamt 13,436 Milliarden DM. Diese Summe wird in einer Denkschrift genannt, die das Bundesfinanzministerium über die Flüchtlings­und Verteidigungslasten des Bundes zusam­mengestellt hat und in den nächsten Tagen herausgeben wird.

Durch diese Lasten werden über zwölf Pro­zent des Brutto-Sozialproduktes beansprucht, das für 1951 mit 110 Milliarden DM angesetzt worden ist.

Die Denkschrift will durch Zusammenstel­lung der Leistungen für die Flüchtlinge nicht die berechtigten Forderungen der Flüchtlinge kritisieren. Ein sozialer Ausgleich sei innerhalb eines Staatsganzen eine staatspolitische Not­wendigkeit. Der plötzliche und anorganische Bevölkerungszuwachs durch die Flüchtlinge habe jedoch die Volkswirtschaft überlastet und einen großen Teil ihrer Steuerkraft absorbiert.

Diese Vorbelastung müsse die Leistungsfähig­keit der Bundesrepublik für sonstige Staats­aufgaben und Verteidigungsmaßnahmen stark vermindern. Die Denkschrift will zeigen, daß sich die Aufgaben der Flüchtlingshilfe und des Verteidigungsbeitrages gegenseitig begrenzen.

Am Freitag genehmigte das Bundeskabinett den Nachtragshaushalt 1951/52 und sprach sich damit grundsätzlich für die Erhebung einer Aufwandsteuer und einer Autobahnbenut­zungsgebühr aus. Die Vorlagen für diese bel­

auf den außerordentlichen Haushalt, für die noch keine Deckung vorhanden ist. Der Bun­desfinanzminister äußerte sich jedoch opti­mistisch über die Möglichkeit, den fehlenden Betrag überverschiedene Kreditmöglichkei­ten decken zu können.

Das Bundeskabinett hat am Freitag auch den Entwurf eines Bundesvertriebenengesetzes gebilligt. Dieses Gesetz soll die Voraussetzung schaffen, daß die Vertriebenen in allen Län­dern des Bundes nach einheitlichen Richtlinien und Grundsätzen behandelt werden. Das Ge­setz gewährt den Vertriebenen auch weiterhin Begünstigungen, durch die sie so gestellt wer­den sollen wie vor der letzten Änderung des Einkommensteuergesetzes. Das soll erreicht werden durch Erstattung der steuerlichen Mehrbelastung, die durch den Fortfall der Ver­günstigungen entsteht. Diese Regelung soll vorerst bis Ende 1952 gelten.

DM muß stabil bleiben

Blücher vor den Bombengeschädigten / Entschädigung durch Kredite

Harriman bei Tito

Jugoslawische Waffenhilfe kann anlaufen

BELGRAD. Der jugoslawische Staatschef Marschall Tito empfing am Samstag in Bled Präsident Trumans Sonderbotschafter Averell Harriman. Nach einem Essen, das Tito für die amerikanischen Gäste gab, unter denen sich auch einige hohe USA-Offiziere befanden, un­terhielten sich der Marschall und Harriman über Maßnahmen und Methoden zur Erhaltung des Friedens auf dem Balkan.

Der Außenpolitische und der Militärausschuß des USA-Senats nahmen am Freitag einen Zu­satzantrag zur Auslandshilfsvorlage an, der die gesetzlichen Grundlagen für Waffenhilfslie­ferungen an Jugoslawien und Spanien schafft. Der Zusatzantrag sieht vor, daß bis zu zehn Prozent der Gelder für die Militärhilfe an Eu- ' ropa für Länder außerhalb des Atlantikpaktes verwendet werden dürfen, was etwa 500 Millio­nen Dollar von den fünf Milliarden der Ge­samtvorlage ausmachen würde.

Harriman flog am Sonntagnachmittag über Triest nach Paris, um noch am gleichen Abend nach London weiterzureisen.

Vertrag mit Saudf-Arabien

LONDON. Großbritannien und Saudi-Ara­bien haben sich in dreiwöchigen Verhandlun­gen über die Hauptpunkte eines Abkommens zur Regelung ihrer territorialen Ansprüche im ölreichen Persischen Golf grundsätzlich ge­einigt. Nach einem gemeinsamen britisch- Saudi-arabischen Kommunique sind beträcht­liche Fortschritte bei der Regelung folgender Fragen erzielt worden: Abgrenzung der saudi­arabischen Grenzen gegenüber den britischen Schutzgebieten Oman und Katar auf dem ara­bischen Festland; die Souveränität von neun Inseln im östlichen Persischen Golf, darunter Koweit und Bahrein; Abgrenzung der Unter­wasser-Ölausbeutungsrechte vor der ara­bischen Küste.

Die Saudi-Arabisch-Amerikanische Ölgesell­schaft Aramco (Arabian American Oil Co) ist in ihrer Juliproduktion an die Spitze der Welt­ölgesellschaften gerückt. Mit einer täglichen Förderung von 820110 Barrels liegt sie jetzt vor der venezuelanischen Erdölgesellsdiaft Creole Oil Company, die im Juli täglich 766 000 Barrels förderte.

HAMBURG. Vizekanzler Franz Blücher bezeichnete gestern auf einer Kundgebung des Reichsverbandes der Bombengeschädigten in Hamburg die Stabilisierung der Deutschen Mark und die Abwehr einer Inflation als eine der Hauptaufgaben der Bundesregierung.Nur so wird es möglich sein, die berechtigten An­sprüche aller Geschädigten in Westdeutschland zu erfüllen. Die erstrebte soziale Befriedung wiederum sei das sicherste Mittel, um das deut­sche Volk gegenüber dem Bolschewismus im­mun zu machen. Die deutsche Währung sei heute allein durch die Arbeitskraft des deut­schen Volkes gesichert. Die Bundesregierung sei in allen ihren Maßnahmen bestrebt, den Zahlungswert der deutschen Mark durch ver­stärkte wirtschaftliche Produktion zu erhalten und möglichst noch zu erhöhen.

Blücher erkannte einen Rechtsanspruch der Bombengeschädigten an. Dieser Anspruch könne aber nur realisiert werden, wenn es ge­linge, die steigende Kurve der Produktion bei­zubehalten. Vertriebene und Bombengeschä­digte könnten dann nach seiner Ansicht durch

Kredite entschädigt werden. Bei Kleinbetrie­ben könnten Geschädigte beteiligt werden. Blü­cher, der sich als Vertreter des linken Flügels der FDP bezeichnet, sagte, daß die Gewerk­schaften als Interessenvertretung der Arbeit­nehmer notwendig seien. Er lehne aber eine politische Machtentwicklung durch wirtschaft­liche Organisationen ab. In diesem Zusammen­hang sprach sich der Vizekanzler erneut für den Leistungslohn aus.

Blücher wandte sich sodann scharf gegen die kleine Schicht von Leuten, die früher nicht gelernt hätten, mit Geld umzugehen und die nun unverantwortlicherweise der Welt das Schauspiel eines vorgetäuschten Wohlstandes und einer Talmifassade von Westdeutschland böten und damit nicht nur innenpolitisch, son­dern auch außenpolitisch großen Schaden an­richteten.

Zu Beginn der Kundgebung gab der Vor­sitzende des Reichsverbandes den Zusammen­schluß der verschiedenen Bombengeschädig- ten-Organisationen zumZentralverband der Kriegssachgeschädigten bekannt.

Kleine Weltchronik

TÜBINGEN, Das Staatsministerium von Würt- temberg-Hohenzoll ern hat beschlossen, beim Bundesverfassungsgerichtshof zu beantragen, den Antrag der badischen Regierung auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zur Verlegung des Wahltermins vom 16. September abzulehnen.

TÜBINGEN. Der Bundesminister der Finanzen hat Ministerialrat Paul. Vowinkel zum ständigen Vertreter des Oberfinanzpräsidenten in Tübingen ernannt und ihm damit die Leitung der Ober­finanzdirektion übertragen. Da voraussichtlich im Südweststaat die Oberfinanzdirektion Tübingen mit der von Stuttgart zusammengelegt wird, wird die Leitung der Oberfinanzdirektion Tübin­gen wie bisher nur stellvertretend besetzt.

STUTTGART. Das württemberg-badische In­nenministerium erließ am Samstag ein allgemei­nes Verbot aller öffentlichen Veranstaltungen und Kundgebungen der Sozialistischen Reichs­partei.

KARLSRUHE. Auf der Schlußsitzung des drei­tägigen Kongresses des Bundes deutscher Föde­ralisten erklärte Bundesfinanzminister Schaffer, wenn Deutschland ein Land der Kultur und der Freiheit bleiben wolle, müsse es sich seine fö­deralistische Staatsform bewahren. Auf der Schlußsitzung sprachen außerdem der südbadische Staatspräsident Leo Wohieb und der Chef­redakteur des Bayerischen Rundfunks, Helmut von Cube, über Fragen des deutschen Föderalis­mus und über das Südweststaatproblem.

WEINHEIM (Bergstraße). In einem Telegramm an den Bundespräsidenten bekannten sich auf einem Treffen am Samstag die Angehörigen der ehemaligen 93. deutschen Infanteriedivision zur westlichen Demokratie und zu einem geeinten Europa ohne nationale Grenzen unter Einschluß ganz Deutschlands. An dem Treffen nahm auch Bundeswohnungsminister Eberhard Wildermuth als ehemaliger Bataillonskommandeur teil.

FRANKFURT. Gegen 50 000 Metallarbeiter aus den südhessischen Bezirken Frankfurt, Offen­bach, Darmstadt und Hanau sind heute in den

Ausstand getreten. In Gewerkschaftskreisen rech­net man jedoch mit einer frühzeitigen Beilegung des Streiks, da schon jetzt verschiedene Firmen des Metallgewerbes die Forderungen der Arbeiter auf eine Erhöhung aller Stundenlöhne um 12 Pfennig angenommen haben. Die Gewerkschafts­leitung hat sich mit der Weiterarbeit der Metall­arbeiter dieser Betriebe einverstanden erklärt.

BONN. Deutsche der Bundesrepublik können jetzt zur Einreise in die schweizerische Grenz­zone einen Tagesschein in Form der sogenann­ten Spezialbewilligung (Einzel- oder Sammel­spezialbewilligung) mit dreitägiger Gültigkeits­dauer erhalten. Die Spezialbewilligungen wer­den in Baden von den Grenzlandratsämtern aus­gestellt.

SAARBRÜCKEN. In einer am Samstag ver­öffentlichten Eingabe an die saarländische Regie­rung fordert die Sozialdemokratische Partei des Saarlandes die Rückgabe der von der Saar­regierung und dem Hohen Kommissar beschlag­nahmten Wohnungen und Möbel. In der Erklä­rung heißt es, daß das Saarland kein besetz­tes Gebiet mehr sei und demzufolge die Beibe­haltung der Requisitionen nicht mehr gerecht­fertigt sei.

HAMBURG. Der Bund der Verfolgten des Naziregimes hat die Bundesbehörden in einer Eingabe aufgefordert, alleIndividualschuldigen des NS-Systems aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen und sie auch von der Pensionierung auszuschließen. Als Individualschuldige sieht der BVN alle ehemaligen Nationalsozialisten an, die freiwillig bei Terrormaßnahmen mitwirkten und sich damit beamten-, straf-, Völker- oder privat­rechtlich schuldig gemacht haben.

PARIS. Mit 20:18 Stimmen bei drei Enthaltun­gen billigte der Finanzausschuß der französischen Nationalversammlung am Freitag die gesamte Gesetzesvorlage für die Unterstützung der Privat­schulen. Für die Annahme stimmten die Volks­republikaner, die Gaullisten, die Bauernvertre­ter und die unabhängigen Republikaner.

MONTAG, 2 7. AUGUST 1951

Ende des Besa^ungsstatuls?

Entscheidung fällt in Washington

LONDON. Die Dreimächte-Konferenz zwi­schen England, Frankreich und den Vereinig­ten Staaten, die Mitte September in Washing­ton stattfindet, ist seit Dezember vorigen Jah­res die erste Deutschlandkonferenz und vor­aussichtlich die letzte im Zeichen des Besat­zungsstatuts. Sie wird sich mit drei umfang­reichen Dokumenten zu befassen haben: dem Protokoll über die Besprechungen deutscher Militärsachverständiger mit Vertretern der Hohen Kommission in Bonn, mit dem Zwi­schenbericht über die Plevenplan-Konferenz in Paris und den Vorschlägen über die Ab­lösung des Besatzungsstatuts.

Als Sachverständige über deutsche Fragen nehmen die Hohen Kommissare an den Bera­tungen der drei Außenminister Acheson, Mor­rison und Schuman teil. Die stärkste Delega­tion werden die Franzosen stellen. Die Kon­ferenz wird einheitliche Vorschläge der Be­satzungsmächte für den deutschen Verteidi­gungsbeitrag und für die Verträge mit der Bundesrepublik ausarbeiten, die an die Stelle des Besatzungsstatuts treten sollen. Wenn sich die drei Mächte über die beiden Hauptpunkte einigen und auch die sich anschließenden Ver­handlungen in Bonn planmäßig verlaufen, wird dies die letzte Konferenz im Zeichen des Besatzungsstatuts sein.

Genug Getreide, zuwenig Fleisch

DÜSSELDORF.Wenn nicht besondere Er­eignisse eintreten, ist die Brotgetreideversorgung der Bundesrepublik für das am 1. Juli ange­laufene Ernährungsjahr gesichert, erklärte Bun- desemährungsminister Niklas am vergange­nen Samstag. Es sei gelungen, 300 000 t Weizen zu günstigen Preisen einzukaufen. Die Versor­gung mit Margarine bezeichnete Niklas als nor­mal; von der auf 226 000 ha vergrößerten An­baufläche bei Zuckerrüben verspreche man sich einen Ertrag von rund 960 000 t. Die Nachfrage nach tierischen Erzeugnissen werde wahrschein­lich in der Bundesrepublik und in Westeuropa zunehmen; es sei nicht damit zu rechnen, daß der Bedarf an Fleisch und Fleischwaren in ge­wünschtem Maße im Ausland gedeckt werden könne. Man werde aber alle Anstrengungen ma­chen, um den gestiegenen Fleischverbrauch in der Bundesrepublik auch weiter zu befriedigen; 1950 seien pro Kopf der Bevölkerung 36,5 kg ge­genüber 51 kg vor dem Kriege verbraucht wor­den. Selbst wenn es gelinge, die für dieses Jahr vorgesehene Einfuhr von 235 000 t Fleisch durch­zuführen, werde man mit 41 kg immer noch 10 kg unter dem Vorkriegsverbrauch liegen.

Textilproduktion zu groß

, MÜNCHEN. Im Verhältnis zu den gegenwär­tigen Absatzmöglichkeiten sei die Textilproduk­tion im Bundesgebiet viel zu groß, stellt das Münchner IFO-Institut für Wirtschaftsforschung fest. Auch in der Industrie seien die Lagerbe­stände erheblich größer als vor einem Jahr; bei den Leinen- und Kammgarnspinnereien hätten bereits Produktionseinschränkungen eingeführt werden müssen. Nach den Feststellungen des Instituts sollen für etwa ein Drittel der 100 Mil­lionen Dollar, die für Wolleinfuhren zur Verfü­gung gestellt worden seien, noch keine Kaufver­träge abgeschlossen worden sein. Die laufende Erzeugung werde stark beeinträchtigt, wenn sich die Wollindustrie nicht rechtzeitig mit Rohstof­fen eindecke.

US-WolIfachleute prophezeien Baisse

NEW YORK. Die Wollgenossen der New Yor­ker Baumwollbörse rechnen damit, daß die Preise in der am 27. August beginnenden neuen austra­lischen Wollversteigerungssaison etwa auf das Niveau vor Ausbruch des Koreakonflikts zurück­gehen werden. Die Nachfrage der Welt nach Wolle habe erheblich nachgelassen und die Deckung des militärischen Bedarfs werde die Wollmärkte nur vorübergehend beeinflussen.

Stärkster Konkurrent

MÜNCHEN. Fast alle wichtigen Industrie­zweige Frankreichs bezeichnen die Bundesrepu­blik, wie das Münchner IFO-Institut aus einer Umfrage desInstituts National de la Statisti- que et des Etudes Economiques, Paris, festge­stellt hat, als größten Konkurrenten, besonders auch auf dem Binnenmarkt.

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TERES s3pIEL

IM NECKARTAL

Ein fiöhllcher Roman von Else Jung

21] Copyright b, Verlag Bechthold

Der neue Zeichner der Firma Karl Wörth & Co. war ein komischer Mensch. Eines Abends, kurz vor Schluß, schlenderte er durch den großen Websaal und fragte den alten Webmeister Lebrecht, ob ein freier Stuhl für ihn zu haben sei.

Der Alte strich sich über den grauen, fus­seligen Bart und sah Thilo über die Brillen­gläser hinweg an.

Was wollen Sie denn bei uns, Herr Falck?

Weben, Meister, der Chef hat nichts da­gegen.

Soso, der Chef! Er mußte ja wissen, was er tat.

Thilo bekam seinen Webstuhl und blieb von diesem Augenblick an sich selbst über­lassen.

So schien es wenigstens.

Aber Lebrecht hielt seine wachsamen Au­gen über ihm. Er war sehr mißtrauisch, der Alte, denn daß einer, der vom Zeichenbrett kam, etwas vom zunftgerechten Weben ver­stehen könne, glaubte er nicht.

Der in seinem Fach Ergraute wußte nicht, daß Thilo ein wenig praktische Erfahrung besaß und daß er sich gründlich vorbereitet hatte, ehe er sich an den Webstuhl setzte.

Bald merkte er, daß Übung den Meister mache.

Das Schiffchen flog ihm wie geölt aus der werfenden Hand und blieb nicht mehr in den Kettfäden hängen. Die Tritte klappten rhyth­misch auf und nieder, und die Lade schlug

den Schußfaden an. Langsam wuchs das Mu- Ster aus Kette und Einschlag heraus.

Donnerwetter ja!

Isa hatte ihm keinen schlechten Rat ge­geben. Diese Arbeit machte ihm wirklich Freude.

Zärtlich strichen seine Hände über das Ge­webe, und immer wieder mutete es ihn wie ein Wunder an, daß aus einzelnen Fäden im sinnvollen Regelwerk des Stuhles Stoff ent­stand, wecher, glänzender, in Farben und Formen aufgeteilter Stoff.

Hoho, der alte Griesgram Lebrecht schaute längst nicht mehr so mißtrauisch drein, wenn der Neuling im Webstuhl nach Feierabend er­schien und sich an die Arbeit setzte. Manch­mal baute er sich neben ihm auf, sah ihm auf die Finger und kraulte sich den Bart. Manch­mal brummte er Unverständliches, wenn er wieder ging.

Thilo lachte in sich hinein.

Mein Lieber, du sollst noch Respekt vor mir haben, ja, jai

Die neuen Muster gefielen dem Chef. Thilo bekam einen Jacquardstuhl und brauchte nur noch einen halben Arbeitstag am Zeichentisch zuzubringen.

Nachdem ihn ein älterer Jacquardweber in die Mechanik des weit komplizierten Gerätes eingeweiht hatte, ging er daran, seine auf Karten gestochenen Muster in Stoff umzu­setzen. Bald merkte er, wie recht Imma ge­habt hatte. Ihm mangelte tatsächlich die Ma­terialerfahrung, und mit zähem Eifer eignete er sich an, was ihm bis dahin noch gefehlt hatte.

Es war ihm eine liebe Gewohnheit gewor­den, regelmäßig an Isa zu schreiben. Sie er­hielt jede Woche einen ausführlichen Brief von ihm, in dem er ihr von seinen Fortschrit­ten berichtete, und das Erstaunlichste war, daß Isa ihm regelmäßig antwortete.

E» waren köstliche Briefe voll launiger Ein­

fälle und Humor. Manchmal stand auch etwas von Imma darin.

Zum Beispiel:

Imma wird sich freuen, wenn sie hört, daß du fleißig bist. Weißt du denn noch immer nicht, wie sie heißt und wo sie wohnt?

(Ach, wenn er es nur wüßte!)

Du hast sie doch nicht schon vergessen, alter Junge?

(O Gott, wie konnte Isa so etwas denken!)

Ich glaube, Imma arbeitet auch in einer Weberei. Vielleicht gar in den Neckartaler Kunsthandwerkstätten?

(Sollte das ein Tip sein? Aber nein, der Prokurist Schreyer wußte von keiner Imma.)

Da war er wieder, dieser rätselhafte Herr Schreyer, über den Thilo noch sehr oft nach­gedacht Hbtte. Manchmal tauchte sein Gesicht vor ihm auf, und Thilo verfiel ins Grübeln. Der Name war ihnf fremd, aber das Gesicht kannte er: Das dunkle, glattgescheitelte Haar, die schmale Nase und den etwas weichen, sinnlichen Mund unter einem kleinen, kurzge­stutzten Bärtchen.

Einmal, ganz plötzlich, sah Thilo dieses Ge­sicht ohne den Bart vor sich, und sogleich fiel ihm der Name eines Schulkameraden ein.

Rapp hatte er geheißen Richard Rapp!

Thilo schlug mit der Hand auf die Tisch­platte. Jetzt wußte er endlich, an wen ihn der Prokurist der Neckartaler Werksätten er­innert hatte. Die Ähnlichkeit mit Rapp war verblüffend, auch wenn man die vierzehn Jahre berücksichtigte, die inzwischen vergangen wa­ren. Der Oberprimaner Rapp hatte schon da­mals ein sehr ausgeprägtes, frühreifes Gesicht gehabt, und Thilo erinnerte sich, daß er hatte Schauspieler werden wollen. Kurz vor dem Abitur war er dann von der Schule gejagt worden.

Eine ganz üble Sache war passiert: Rapp hatte einem der Professoren die Brieftasche mit dem vollen Monatsgehalt aus dem Lehrer­zimmer entwendet. Der Diebstahl war sofort

entdeckt worden, niemand durfte das Schul­gebäude verlassen, und bei der nachfolgenden Durchsuchung wurde das Geld bei Rapp ge­funden. Die leere Brieftasche hatte er einem anderen Lehrer in die Innentasche des Über­ziehers gesteckt.

Drei Jahre später war Thilo dem ehemali­gen Schulkameraden während einer Reise nach Griechenland, wohin er seinen Vater beglei­tete, in Budapest begegnet. Rapp hatte sich in der Gesellschaft einer mit auffälliger Ele­ganz gekleideten Dame befunden, die Thilo am gleichen Abend in der Halle seines Ho­tels wiedersah. Kurz bevor Professor Falck und sein Sohn nach Athen weiterfuhren, hör­ten sie, daß die Frau eine langgesuchte Hochstaplerin mit ihrem Liebhaber, der Sich Baron von Kreutsch genannt hatte, ver­haftet worden war.

Rapps weitere Laufbahn schien demnach außer Zweifel zu stehen.

Thilo dachte an Schreyer, und der Mann tat ihm leid.

Es mußte verdammt unangenehm sein, dem Dieb und Hochstapler Rapp so ähnlich zu sehen, wie ein Zwillingsbruder dem anderen. Aber er wußte es zu seinem Glück nicht, der Bedauernswerte.

^Richard Schreyer stand im weißgekachelten waschraum des Betriebes, bürstete sich den straffgezogenen Scheitel und betrachtete wohl­gefällig sein Gesicht in dem rahmenlosen Wandspiegel.

Angelika hatte ihm heute sehr verheißungs­voll zugelächelt, als sie ihn zum Abendessen auf die Burg einlud.

Schreyer nickte seinem Spiegelbild zu.

Nütze deine Chancen, mein Junge, sie kom­men so bald nicht wieder.

Die Alte war fort. Wahrscheinlich wieder bei Verwandten.

Und Imma?

Nun, mit diesem Grünschnabel würde e* auch fertig werden. (Fortsetzung folgt)