NUMMER 1!
Flüchtlingshilfe und Verteidigung
den Steuern, die dem Bund jährlich je 1Q0 Mill. DM. bringen sollen, werden dem Bundesrat Anfang September zugeleitet werden.
Der Haushaltsplan 1951/52 mit dem Nachtragsetat schließt mit einer Gesamtsumme von 20 460 000 000 DM ab. Der ordentliche Haushalt, der nach den Angaben Schaffers in Einnahmen und Ausgaben ausgeglichen ist, beträgt 17,260 Milliarden DM. Der außerordentliche Haushalt beläuft sich auf 3,200 Milliarden DM. In den Haushalt hat der Bundesfinanzminister den Betrag von 6,6 Milliarden DM als Verteidigungskosten eingesetzt. Von diesen 6,6 Millarden DM entfielen 5 Milliarden DM auf den ordentlichen und 1,6 Milliarden
Haushaltsplan mit Aufwandsteuer und Autobahnbenutzungssteuer genehmigt
BONN. Die Gesamtbelastung durch Flüchtlinge, durch die Berlinhilfe und durch die Besatzung beträgt für den Bund im Jahre 1951 Insgesamt 13,436 Milliarden DM. Diese Summe wird in einer Denkschrift genannt, die das Bundesfinanzministerium über die Flüchtlingsund Verteidigungslasten des Bundes zusammengestellt hat und in den nächsten Tagen herausgeben wird.
Durch diese Lasten werden über zwölf Prozent des Brutto-Sozialproduktes beansprucht, das für 1951 mit 110 Milliarden DM angesetzt worden ist.
Die Denkschrift will durch Zusammenstellung der Leistungen für die Flüchtlinge nicht die berechtigten Forderungen der Flüchtlinge kritisieren. Ein sozialer Ausgleich sei innerhalb eines Staatsganzen eine staatspolitische Notwendigkeit. Der plötzliche und anorganische Bevölkerungszuwachs durch die Flüchtlinge habe jedoch die Volkswirtschaft überlastet und einen großen Teil ihrer Steuerkraft absorbiert.
Diese Vorbelastung müsse die Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik für sonstige Staatsaufgaben und Verteidigungsmaßnahmen stark vermindern. Die Denkschrift will zeigen, daß sich die Aufgaben der Flüchtlingshilfe und des Verteidigungsbeitrages gegenseitig begrenzen.
Am Freitag genehmigte das Bundeskabinett den Nachtragshaushalt 1951/52 und sprach sich damit grundsätzlich für die Erhebung einer Aufwandsteuer und einer Autobahnbenutzungsgebühr aus. Die Vorlagen für diese bel
auf den außerordentlichen Haushalt, für die noch keine Deckung vorhanden ist. Der Bundesfinanzminister äußerte sich jedoch optimistisch über die Möglichkeit, den fehlenden Betrag über „verschiedene Kreditmöglichkeiten” decken zu können.
Das Bundeskabinett hat am Freitag auch den Entwurf eines Bundesvertriebenengesetzes gebilligt. Dieses Gesetz soll die Voraussetzung schaffen, daß die Vertriebenen in allen Ländern des Bundes nach einheitlichen Richtlinien und Grundsätzen behandelt werden. Das Gesetz gewährt den Vertriebenen auch weiterhin Begünstigungen, durch die sie so gestellt werden sollen wie vor der letzten Änderung des Einkommensteuergesetzes. Das soll erreicht werden durch Erstattung der steuerlichen Mehrbelastung, die durch den Fortfall der Vergünstigungen entsteht. Diese Regelung soll vorerst bis Ende 1952 gelten.
„DM muß stabil bleiben“
Blücher vor den Bombengeschädigten / Entschädigung durch Kredite
Harriman bei Tito
Jugoslawische Waffenhilfe kann anlaufen
BELGRAD. Der jugoslawische Staatschef Marschall Tito empfing am Samstag in Bled Präsident Trumans Sonderbotschafter Averell Harriman. Nach einem Essen, das Tito für die amerikanischen Gäste gab, unter denen sich auch einige hohe USA-Offiziere befanden, unterhielten sich der Marschall und Harriman über Maßnahmen und Methoden zur Erhaltung des Friedens auf dem Balkan.
Der Außenpolitische und der Militärausschuß des USA-Senats nahmen am Freitag einen Zusatzantrag zur Auslandshilfsvorlage an, der die gesetzlichen Grundlagen für Waffenhilfslieferungen an Jugoslawien und Spanien schafft. Der Zusatzantrag sieht vor, daß bis zu zehn Prozent der Gelder für die Militärhilfe an Eu- ' ropa für Länder außerhalb des Atlantikpaktes verwendet werden dürfen, was etwa 500 Millionen Dollar von den fünf Milliarden der Gesamtvorlage ausmachen würde.
Harriman flog am Sonntagnachmittag über Triest nach Paris, um noch am gleichen Abend nach London weiterzureisen.
Vertrag mit Saudf-Arabien
LONDON. Großbritannien und Saudi-Arabien haben sich in dreiwöchigen Verhandlungen über die Hauptpunkte eines Abkommens zur Regelung ihrer territorialen Ansprüche im ölreichen Persischen Golf grundsätzlich geeinigt. Nach einem gemeinsamen britisch- Saudi-arabischen Kommunique sind beträchtliche Fortschritte bei der Regelung folgender Fragen erzielt worden: Abgrenzung der saudiarabischen Grenzen gegenüber den britischen Schutzgebieten Oman und Katar auf dem arabischen Festland; die Souveränität von neun Inseln im östlichen Persischen Golf, darunter Koweit und Bahrein; Abgrenzung der Unterwasser-Ölausbeutungsrechte vor der arabischen Küste.
Die Saudi-Arabisch-Amerikanische Ölgesellschaft Aramco (Arabian American Oil Co) ist in ihrer Juliproduktion an die Spitze der Weltölgesellschaften gerückt. Mit einer täglichen Förderung von 820110 Barrels liegt sie jetzt vor der venezuelanischen Erdölgesellsdiaft Creole Oil Company, die im Juli täglich 766 000 Barrels förderte.
HAMBURG. Vizekanzler Franz Blücher bezeichnete gestern auf einer Kundgebung des Reichsverbandes der Bombengeschädigten in Hamburg die Stabilisierung der Deutschen Mark und die Abwehr einer Inflation als eine der Hauptaufgaben der Bundesregierung. „Nur so wird es möglich sein, die berechtigten Ansprüche aller Geschädigten in Westdeutschland zu erfüllen.“ Die erstrebte soziale Befriedung wiederum sei das sicherste Mittel, um das deutsche Volk gegenüber dem Bolschewismus immun zu machen. Die deutsche Währung sei heute allein durch die Arbeitskraft des deutschen Volkes gesichert. Die Bundesregierung sei in allen ihren Maßnahmen bestrebt, den Zahlungswert der deutschen Mark durch verstärkte wirtschaftliche Produktion zu erhalten und möglichst noch zu erhöhen.
Blücher erkannte einen Rechtsanspruch der Bombengeschädigten an. Dieser Anspruch könne aber nur realisiert werden, wenn es gelinge, die steigende Kurve der Produktion beizubehalten. Vertriebene und Bombengeschädigte könnten dann nach seiner Ansicht durch
Kredite entschädigt werden. Bei Kleinbetrieben könnten Geschädigte beteiligt werden. Blücher, der sich als Vertreter des linken Flügels der FDP bezeichnet, sagte, daß die Gewerkschaften als Interessenvertretung der Arbeitnehmer notwendig seien. Er lehne aber eine politische Machtentwicklung durch wirtschaftliche Organisationen ab. In diesem Zusammenhang sprach sich der Vizekanzler erneut für den Leistungslohn aus.
Blücher wandte sich sodann scharf gegen die „kleine Schicht von Leuten“, die früher nicht gelernt hätten, mit Geld umzugehen und die nun unverantwortlicherweise der Welt das Schauspiel eines vorgetäuschten Wohlstandes und einer Talmifassade von Westdeutschland böten und damit nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch großen Schaden anrichteten.
Zu Beginn der Kundgebung gab der Vorsitzende des Reichsverbandes den Zusammenschluß der verschiedenen Bombengeschädig- ten-Organisationen zum „Zentralverband der Kriegssachgeschädigten“ bekannt.
Kleine Weltchronik
TÜBINGEN, Das Staatsministerium von Würt- temberg-Hohenzoll ern hat beschlossen, beim Bundesverfassungsgerichtshof zu beantragen, den Antrag der badischen Regierung auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung zur Verlegung des Wahltermins vom 16. September abzulehnen.
TÜBINGEN. Der Bundesminister der Finanzen hat Ministerialrat Paul. Vowinkel zum ständigen Vertreter des Oberfinanzpräsidenten in Tübingen ernannt und ihm damit die Leitung der Oberfinanzdirektion übertragen. Da voraussichtlich im Südweststaat die Oberfinanzdirektion Tübingen mit der von Stuttgart zusammengelegt wird, wird die Leitung der Oberfinanzdirektion Tübingen wie bisher nur stellvertretend besetzt.
STUTTGART. Das württemberg-badische Innenministerium erließ am Samstag ein allgemeines Verbot aller öffentlichen Veranstaltungen und Kundgebungen der Sozialistischen Reichspartei.
KARLSRUHE. Auf der Schlußsitzung des dreitägigen Kongresses des Bundes deutscher Föderalisten erklärte Bundesfinanzminister Schaffer, wenn Deutschland ein Land der Kultur und der Freiheit bleiben wolle, müsse es sich seine föderalistische Staatsform bewahren. Auf der Schlußsitzung sprachen außerdem der südbadische Staatspräsident Leo Wohieb und der Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks, Helmut von Cube, über Fragen des deutschen Föderalismus und über das Südweststaatproblem.
WEINHEIM (Bergstraße). In einem Telegramm an den Bundespräsidenten bekannten sich auf einem Treffen am Samstag die Angehörigen der ehemaligen 93. deutschen Infanteriedivision zur westlichen Demokratie und zu einem geeinten Europa ohne nationale Grenzen unter Einschluß ganz Deutschlands. An dem Treffen nahm auch Bundeswohnungsminister Eberhard Wildermuth als ehemaliger Bataillonskommandeur teil.
FRANKFURT. Gegen 50 000 Metallarbeiter aus den südhessischen Bezirken Frankfurt, Offenbach, Darmstadt und Hanau sind heute in den
Ausstand getreten. In Gewerkschaftskreisen rechnet man jedoch mit einer frühzeitigen Beilegung des Streiks, da schon jetzt verschiedene Firmen des Metallgewerbes die Forderungen der Arbeiter auf eine Erhöhung aller Stundenlöhne um 12 Pfennig angenommen haben. Die Gewerkschaftsleitung hat sich mit der Weiterarbeit der Metallarbeiter dieser Betriebe einverstanden erklärt.
BONN. Deutsche der Bundesrepublik können jetzt zur Einreise in die schweizerische Grenzzone einen Tagesschein in Form der sogenannten Spezialbewilligung (Einzel- oder Sammelspezialbewilligung) mit dreitägiger Gültigkeitsdauer erhalten. Die Spezialbewilligungen werden in Baden von den Grenzlandratsämtern ausgestellt.
SAARBRÜCKEN. In einer am Samstag veröffentlichten Eingabe an die saarländische Regierung fordert die Sozialdemokratische Partei des Saarlandes die Rückgabe der von der Saarregierung und dem Hohen Kommissar beschlagnahmten Wohnungen und Möbel. In der Erklärung heißt es, daß das Saarland kein besetztes Gebiet mehr sei und demzufolge die Beibehaltung der Requisitionen nicht mehr gerechtfertigt sei.
HAMBURG. Der Bund der Verfolgten des Naziregimes hat die Bundesbehörden in einer Eingabe aufgefordert, alle „Individualschuldigen des NS-Systems“ aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen und sie auch von der Pensionierung auszuschließen. Als Individualschuldige sieht der BVN alle ehemaligen Nationalsozialisten an, die freiwillig bei Terrormaßnahmen mitwirkten und sich damit beamten-, straf-, Völker- oder privatrechtlich schuldig gemacht haben.
PARIS. Mit 20:18 Stimmen bei drei Enthaltungen billigte der Finanzausschuß der französischen Nationalversammlung am Freitag die gesamte Gesetzesvorlage für die Unterstützung der Privatschulen. Für die Annahme stimmten die Volksrepublikaner, die Gaullisten, die Bauernvertreter und die unabhängigen Republikaner.
MONTAG, 2 7. AUGUST 1951
Ende des Besa^ungsstatuls?
Entscheidung fällt in Washington
LONDON. Die Dreimächte-Konferenz zwischen England, Frankreich und den Vereinigten Staaten, die Mitte September in Washington stattfindet, ist seit Dezember vorigen Jahres die erste Deutschlandkonferenz und voraussichtlich die letzte im Zeichen des Besatzungsstatuts. Sie wird sich mit drei umfangreichen Dokumenten zu befassen haben: dem Protokoll über die Besprechungen deutscher Militärsachverständiger mit Vertretern der Hohen Kommission in Bonn, mit dem Zwischenbericht über die Plevenplan-Konferenz in Paris und den Vorschlägen über die Ablösung des Besatzungsstatuts.
Als Sachverständige über deutsche Fragen nehmen die Hohen Kommissare an den Beratungen der drei Außenminister Acheson, Morrison und Schuman teil. Die stärkste Delegation werden die Franzosen stellen. Die Konferenz wird einheitliche Vorschläge der Besatzungsmächte für den deutschen Verteidigungsbeitrag und für die Verträge mit der Bundesrepublik ausarbeiten, die an die Stelle des Besatzungsstatuts treten sollen. Wenn sich die drei Mächte über die beiden Hauptpunkte einigen und auch die sich anschließenden Verhandlungen in Bonn planmäßig verlaufen, wird dies die letzte Konferenz im Zeichen des Besatzungsstatuts sein.
Genug Getreide, zuwenig Fleisch
DÜSSELDORF. „Wenn nicht besondere Ereignisse eintreten, ist die Brotgetreideversorgung der Bundesrepublik für das am 1. Juli angelaufene Ernährungsjahr gesichert“, erklärte Bun- desemährungsminister Niklas am vergangenen Samstag. Es sei gelungen, 300 000 t Weizen zu günstigen Preisen einzukaufen. Die Versorgung mit Margarine bezeichnete Niklas als normal; von der auf 226 000 ha vergrößerten Anbaufläche bei Zuckerrüben verspreche man sich einen Ertrag von rund 960 000 t. Die Nachfrage nach tierischen Erzeugnissen werde wahrscheinlich in der Bundesrepublik und in Westeuropa zunehmen; es sei nicht damit zu rechnen, daß der Bedarf an Fleisch und Fleischwaren in gewünschtem Maße im Ausland gedeckt werden könne. Man werde aber alle Anstrengungen machen, um den gestiegenen Fleischverbrauch in der Bundesrepublik auch weiter zu befriedigen; 1950 seien pro Kopf der Bevölkerung 36,5 kg gegenüber 51 kg vor dem Kriege verbraucht worden. Selbst wenn es gelinge, die für dieses Jahr vorgesehene Einfuhr von 235 000 t Fleisch durchzuführen, werde man mit 41 kg immer noch 10 kg unter dem Vorkriegsverbrauch liegen.
Textilproduktion zu groß
, MÜNCHEN. Im Verhältnis zu den gegenwärtigen Absatzmöglichkeiten sei die Textilproduktion im Bundesgebiet viel zu groß, stellt das Münchner IFO-Institut für Wirtschaftsforschung fest. Auch in der Industrie seien die Lagerbestände erheblich größer als vor einem Jahr; bei den Leinen- und Kammgarnspinnereien hätten bereits Produktionseinschränkungen eingeführt werden müssen. Nach den Feststellungen des Instituts sollen für etwa ein Drittel der 100 Millionen Dollar, die für Wolleinfuhren zur Verfügung gestellt worden seien, noch keine Kaufverträge abgeschlossen worden sein. Die laufende Erzeugung werde stark beeinträchtigt, wenn sich die Wollindustrie nicht rechtzeitig mit Rohstoffen eindecke.
US-WolIfachleute prophezeien Baisse
NEW YORK. Die Wollgenossen der New Yorker Baumwollbörse rechnen damit, daß die Preise in der am 27. August beginnenden neuen australischen Wollversteigerungssaison etwa auf das Niveau vor Ausbruch des Koreakonflikts zurückgehen werden. Die Nachfrage der Welt nach Wolle habe erheblich nachgelassen und die Deckung des militärischen Bedarfs werde die Wollmärkte nur vorübergehend beeinflussen.
Stärkster Konkurrent
MÜNCHEN. Fast alle wichtigen Industriezweige Frankreichs bezeichnen die Bundesrepublik, wie das Münchner IFO-Institut aus einer Umfrage des „Instituts National de la Statisti- que et des Etudes Economiques“, Paris, festgestellt hat, als größten Konkurrenten, besonders auch auf dem Binnenmarkt.
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TERES s3pIEL
IM NECKARTAL
Ein fiöhllcher Roman von Else Jung
21] Copyright b, Verlag Bechthold
Der neue Zeichner der Firma Karl Wörth & Co. war ein komischer Mensch. Eines Abends, kurz vor Schluß, schlenderte er durch den großen Websaal und fragte den alten Webmeister Lebrecht, ob ein freier Stuhl für ihn zu haben sei.
Der Alte strich sich über den grauen, fusseligen Bart und sah Thilo über die Brillengläser hinweg an.
„Was wollen Sie denn bei uns, Herr Falck?“
„Weben, Meister, der Chef hat nichts dagegen.“
Soso, der Chef! Er mußte ja wissen, was er tat.
Thilo bekam seinen Webstuhl und blieb von diesem Augenblick an sich selbst überlassen.
So schien es wenigstens.
Aber Lebrecht hielt seine wachsamen Augen über ihm. Er war sehr mißtrauisch, der Alte, denn daß einer, der vom Zeichenbrett kam, etwas vom zunftgerechten Weben verstehen könne, glaubte er nicht.
Der in seinem Fach Ergraute wußte nicht, daß Thilo ein wenig praktische Erfahrung besaß und daß er sich gründlich vorbereitet hatte, ehe er sich an den Webstuhl setzte.
Bald merkte er, daß Übung den Meister mache.
Das Schiffchen flog ihm wie geölt aus der werfenden Hand und blieb nicht mehr in den Kettfäden hängen. Die Tritte klappten rhythmisch auf und nieder, und die Lade schlug
den Schußfaden an. Langsam wuchs das Mu- • Ster aus Kette und Einschlag heraus.
Donnerwetter ja!
Isa hatte ihm keinen schlechten Rat gegeben. Diese Arbeit machte ihm wirklich Freude.
Zärtlich strichen seine Hände über das Gewebe, und immer wieder mutete es ihn wie ein Wunder an, daß aus einzelnen Fäden im sinnvollen Regelwerk des Stuhles Stoff entstand, wecher, glänzender, in Farben und Formen aufgeteilter Stoff.
Hoho, der alte Griesgram Lebrecht schaute längst nicht mehr so mißtrauisch drein, wenn der Neuling im Webstuhl nach Feierabend erschien und sich an die Arbeit setzte. Manchmal baute er sich neben ihm auf, sah ihm auf die Finger und kraulte sich den Bart. Manchmal brummte er Unverständliches, wenn er wieder ging.
Thilo lachte in sich hinein.
Mein Lieber, du sollst noch Respekt vor mir haben, ja, jai
Die neuen Muster gefielen dem Chef. Thilo bekam einen Jacquardstuhl und brauchte nur noch einen halben Arbeitstag am Zeichentisch zuzubringen.
Nachdem ihn ein älterer Jacquardweber in die Mechanik des weit komplizierten Gerätes eingeweiht hatte, ging er daran, seine auf Karten gestochenen Muster in Stoff umzusetzen. Bald merkte er, wie recht Imma gehabt hatte. Ihm mangelte tatsächlich die Materialerfahrung, und mit zähem Eifer eignete er sich an, was ihm bis dahin noch gefehlt hatte.
Es war ihm eine liebe Gewohnheit geworden, regelmäßig an Isa zu schreiben. Sie erhielt jede Woche einen ausführlichen Brief von ihm, in dem er ihr von seinen Fortschritten berichtete, und das Erstaunlichste war, daß Isa ihm regelmäßig antwortete.
E» waren köstliche Briefe voll launiger Ein
fälle und Humor. Manchmal stand auch etwas von Imma darin.
Zum Beispiel:
Imma wird sich freuen, wenn sie hört, daß du fleißig bist. Weißt du denn noch immer nicht, wie sie heißt und wo sie wohnt?
(Ach, wenn er es nur wüßte!)
Du hast sie doch nicht schon vergessen, alter Junge?
(O Gott, wie konnte Isa so etwas denken!)
Ich glaube, Imma arbeitet auch in einer Weberei. Vielleicht gar in den Neckartaler Kunsthandwerkstätten?
(Sollte das ein Tip sein? — Aber nein, der Prokurist Schreyer wußte von keiner Imma.)
Da war er wieder, dieser rätselhafte Herr Schreyer, über den Thilo noch sehr oft nachgedacht Hbtte. Manchmal tauchte sein Gesicht vor ihm auf, und Thilo verfiel ins Grübeln. Der Name war ihnf fremd, aber das Gesicht kannte er: Das dunkle, glattgescheitelte Haar, die schmale Nase und den etwas weichen, sinnlichen Mund unter einem kleinen, kurzgestutzten Bärtchen.
Einmal, ganz plötzlich, sah Thilo dieses Gesicht ohne den Bart vor sich, und sogleich fiel ihm der Name eines Schulkameraden ein.
Rapp hatte er geheißen — Richard Rapp!
Thilo schlug mit der Hand auf die Tischplatte. Jetzt wußte er endlich, an wen ihn der Prokurist der Neckartaler Werksätten erinnert hatte. Die Ähnlichkeit mit Rapp war verblüffend, auch wenn man die vierzehn Jahre berücksichtigte, die inzwischen vergangen waren. Der Oberprimaner Rapp hatte schon damals ein sehr ausgeprägtes, frühreifes Gesicht gehabt, und Thilo erinnerte sich, daß er hatte Schauspieler werden wollen. Kurz vor dem Abitur war er dann von der Schule gejagt worden.
Eine ganz üble Sache war passiert: Rapp hatte einem der Professoren die Brieftasche mit dem vollen Monatsgehalt aus dem Lehrerzimmer entwendet. Der Diebstahl war sofort
entdeckt worden, niemand durfte das Schulgebäude verlassen, und bei der nachfolgenden Durchsuchung wurde das Geld bei Rapp gefunden. Die leere Brieftasche hatte er einem anderen Lehrer in die Innentasche des Überziehers gesteckt.
Drei Jahre später war Thilo dem ehemaligen Schulkameraden während einer Reise nach Griechenland, wohin er seinen Vater begleitete, in Budapest begegnet. Rapp hatte sich in der Gesellschaft einer mit auffälliger Eleganz gekleideten Dame befunden, die Thilo am gleichen Abend in der Halle seines Hotels wiedersah. Kurz bevor Professor Falck und sein Sohn nach Athen weiterfuhren, hörten sie, daß die Frau — eine langgesuchte Hochstaplerin — mit ihrem Liebhaber, der Sich Baron von Kreutsch genannt hatte, verhaftet worden war.
Rapps weitere Laufbahn schien demnach außer Zweifel zu stehen.
Thilo dachte an Schreyer, und der Mann tat ihm leid.
Es mußte verdammt unangenehm sein, dem Dieb und Hochstapler Rapp so ähnlich zu sehen, wie ein Zwillingsbruder dem anderen. Aber er wußte es zu seinem Glück nicht, der Bedauernswerte. „
^Richard Schreyer stand im weißgekachelten waschraum des Betriebes, bürstete sich den straffgezogenen Scheitel und betrachtete wohlgefällig sein Gesicht in dem rahmenlosen Wandspiegel.
Angelika hatte ihm heute sehr verheißungsvoll zugelächelt, als sie ihn zum Abendessen auf die Burg einlud.
Schreyer nickte seinem Spiegelbild zu.
Nütze deine Chancen, mein Junge, sie kommen so bald nicht wieder.
Die Alte war fort. Wahrscheinlich wieder bei Verwandten.
Und Imma?
Nun, mit diesem Grünschnabel würde e* auch fertig werden. (Fortsetzung folgt)