Schuhmacher: Kampfansage
SPD will Kohle und Stahl sozialisieren / Bürgenstock-Gespräche: „Zeitgewinn“
vorgegangen worden als in den Pariser Verhandlungen um den Schumanplan. Alliierte Versprechungen, eine deutsche Zustimmung nicht zu erzwingen und nicht zu erkaufen, würden hierbei durch die Praxis widerlegt, „denn das ist doch der Versuch zu kaufen, und zwar billig zu kaufen“. In der Saarfrage hält Dr. Schumacher eine neue Debatte für notwendig.
Zu den neu erstehenden Soldatenbünden meinte Schumacher, grundsätzlich solle man die Organisation früherer Angehöriger der Wehrmacht nicht hindern, solange sie sich auf eine materielle Interessenvertretung und die Pflege der Kameradschaft beschränkten.
Scharfe Kritik übte Dr. Schumacher an verschiedenen Ausführungen des französischen Hohen Komissars, Frangois-Poncet, wobei er zu dem Ergebnis kam, „daß das deutsche
BONN. Der SPD-Vorsitzende Dr. Kurt Schumacher kündigte am Mittwoch in Bonn an, daß die SPD ihren eigenen Kampf gegen die alliierten Entscheidungen über die Besatzungskosten und den Kohlenexport führen werde. Ein gemeinsamer Kampf mit den Regierungsparteien sei nicht möglich, da die Argumente zu verschieden seien. Schumacher übte scharfe Kritik an der Politik der Bundesregierung und sagte: „Die Regierung hat es so weit gebracht, daß die Alliierten glauben, in ihren Handlungen keine Rücksicht mehr auf sie nehmen zu brauchen.“ Er verlangte Neuwahlen zum Bundestag und die Ablösung der gegenwärtigen Regierung als internationale und -nationale Notwendigkeiten im Kampf gegen den Kommunismus.
Zur Klärung der Höhe der Besatzungskosten schlug Dr. Schumacher eine Art National-Bud- get vor, „in dem das sozial Notwendige und das militärisch Mögliche auf einen Nenner gebracht“ werde. Der Welt müsse klargemacht werden, was Deutschland durch Beiträge in Wohnungsbau, Lastenausgleich und Kriegsopferversorgung zur Sicherheit der Demokratie leiste.
Auf die Kohlenexportquote eingehend, meinte Schumacher, durch bestimmte Handelsverträge werde mehr Kohle exportiert, als die Alliierten verlangten. In der SPD bestehe grundsätzlich die Absicht, Vorschläge zur Sozialisierung von Kohle und Stahl einzubringen. Über den taktischen Ansatzpunkt für dieses Vorhaben werde in den nächsten 14 Tagen entschieden. Die Bürgenstock-Gespräche zwischen dem Bundeskanzler und den Gewerkschaftsvertretern hätten den Sinn gehabt, Zeit zu gewinnen. Der Bundeskanzler habe wahrscheinlich versucht, „durch Versprechungen eine gute Atmosphäre zu erzeugen“.
In den Verhandlungen über die Ablösung des Besatzungsstatuts durch eine Reihe von zweiseitigen Verträgen sei auf deutscher Seite „nicht mit größerer Einsicht, Weitsicht und größerem politischen Verhandlungsvermögen“
London will Osthandel
Verzicht fällt zu schwer
LONDON. Großbritannien hat am Mittwoch durch seinen Handelsminister Sir Hartley Shawcross klargemacht, daß es auf den Handel mit den kommunistischen Ländern angewiesen sei und ihn auch auf die Gefahr hin fortsetzen werde, daß darüber Unstimmigkeiten mit dem amerikanischen Verbündeten entstünden. Das allgemeine . westliche Embargo über die Ausfuhr kriegswichtiger Güter nach kommunistischen Ländern werde England aber halten, betonte Shawcross. Er sagte mit deutlicher Anspielung auf die zurzeit im amerikanischen Kongreß eingebrachte Vorlage, die eine Einstellung aller amerikanischen Hilfeleistungen an die mit dem Ostblock Handel treibenden Länder vorsieht: „Diese Frage (des Ost-West-Handels) kann nicht dadurch gelöst werden, -daß man einseitige Bedingungen niederlegt. Sie ist vielmehr ein Gegenstand für offene, aber freundschaftliche Diskussion unter Verbündeten.“ Shawcross erwähnte die sowjetische Drohung, die vertraglichen Holzlieferungen für Großbritannien zu kündigen, wenn nicht als Gegenleistung Kautschuk geliefert werde.
Hearst gestorben
BEVERLY HILLS (Kalifornien). Der bekannte amerikanische Zeitungsverleger und Besitzer zahlreicher' Zeitschriften und Zeitungen, William Randolph Hearst, ist am Dienstag nach langjähriger Krankheit im Alter von 88 Jahren auf seinem Besitz in Beverly Hills gestorben.
Hearst besaß u. a. eine der bedeutendsten Kunstsammlungen in den Staaten. Auf seinem Besitz in Kalifornien standen vier Schlösser, die in Europa gekauft, abgebaut und Stein für Stein nach Amerika gebracht wurden.
Volk ohne Unterschied der Parteien den französischen Hohen Kommissar nach jeder Richtung für eine ,Misplaced Person’ in Deutschland hält“. Der französische Hohe Kommissar hatte Schumacher kürzlich in einer Rede mit dem ewig unzufriedenen Faust verglichen und gesagt, Schumacher werde erst zufrieden sein, wenn er wie Faust ein freies Volk auf freiem Boden sehe. Dabei solle er. aber auch die verschleppten Personen (Displaced Persons) nicht vergessen.
Schumacher zitierte in seiner Kritik dann aus den „Tischgesprächen Hitlers“, daß Hitler froh gewesen wäre, wenn, er „unter unseren Botschaftern einen Mann vom Format Francois Poncet’ hätte, denn dieser Franzose sei in seiner Konzilianz und Freigebigkeit mit Pralinen und dergleichen ein nicht zu unterschätzender Fechter auf der diplomatischen Bühne. Der Umfang seiner Verbindung erhelle aus der Tatsache, daß er sich einmal einen ganzen Waggon Pralinen aus Frankreich habe kommen lassen“.
Thema: Besatjungskosten
Sondersitzung des FDP-Vorstandes
BONN. Bundesfinanzminister Fritz S c h ä f- fer führte gestern mit den Vorsitzenden der drei Regierungsfraktionen erste Besprechungen über die künftige Regelung der Höhe der Besatzungskosten. Am Dienstag wird das Bundeskabinett erstmalig unter Vorsitz von Bundeskanzler Dr. Adenauer zusammentreten, um dasselbe Thema zu erörtern. Die endgültige Entscheidung wird vom Ergebnis der Verhandlungen des Bundeskanzlers mit den drei Hohen Kommissaren abhängen.
Zu einer außerordentlichen Sitzung trat in Bonn gestern der FDP-Vorstand zusammen, um über den Standpunkt der FDP zu den bevorstehenden wichtigen politischen Entschei
dungen zu beraten. Es wird die Auffassung vertreten, daß die Revision des Besatzungsstatuts grundsätzlich die Wiederherstellung der vollen deutschen Souveränität zum Ziel haben müsse. Die FDP wende sich deshalb auch dagegen, daß diese Revision von der Leistung eines deutschen Verteidigungsbeitrages abhängig gemacht werden könnte. Das grundsätzliche Ja der Bundesrepublik zu einem Verteidigungsbeitrag wird nicht abgelehnt, die FDP will jedoch wissen, welcher Art und wie hoch der deutsche Sicherheitsbeitrag sein und wie er ermöglicht werden soll.
Der Bund der Steuerzahler hat sich in einem offenen Brief an die drei Hohen Kommissare gegen die „ungeheuren Lasten“ gewandt, die den Bundesfinanzen weiterhin auferlegt würden, wenn keine fühlbare Senkung der Besatzungskosten erfolge.
Kleine Weltchronfk
TÜBINGEN. Das Staatsministerium von Würt- temberg-Hohenzollern hat dem Landtag einen Gesetzentwurf vorgelegt, nachdem die Zahl der Amtsgerichte von 23 auf 29 erhöht werden soll. Das Staatsministerium will mit dieser Regelung, die den Zustand von vor 1945 im wesentlichen wieder herstellt, Gerichtsbezirke schaffen, die nach ihrer Größe den Richtern einen engeren Kontakt mit der Bevölkerung ihres Amtsgebietes ermöglichen.
BONN. Am Mittwoch traf der Vizepräsident von Brasilien, Cafe Filho, zu einem privaten Besuch in der Bundesrepublik ein. Filho, der mit der Bundesregierung auch über die Auswanderung Deutscher nach Brasilien verhandeln wird, wurde gestern von Bundespräsident Prof. Heuß empfangen.
BONN. Bundestagsvizepräsident Dr. Hermann Schäfer, der am Mittwoch vom Liberalen Weltkongreß in Upsala (Schweden) zurückkehrte, erklärte, die Tagung habe gezeigt, daß es einen langsamen aber stetigen Kräftezuwachs der liberalen Partei und des neuliberalen Gedankengutes in den Ländern gebe, „in denen die Ernüchterung über die sozialistische Illusion angesichts der Erfahrungen mit sozialistischen Regierungen Fortschritte macht“.
BONN. Zum erstenmal in der deutschen Geschichte wurde ein kanadischer Botschafter bei einer deutschen Regierung akkreditiert. T. C. Davies, der Vertreter Kanadas bei der Bundesregierung. überreichte Bundespräsident Theodor Heuß gestern sein Beglaubigungsschreiben. Vor dem Kriege war Kanada als britisches Dominion durch den damaligen britischen Botschafter in Berlin diplomatisch vertreten.
DÜSSELDORF. Der angekündigte Streik der 60 000 Versicherungsangestellten in der Bundesrepublik ist vorläufig zurückgestellt worden. Die Sozialpartner wollen die Verhandlungen über eine Gehaltserhöhung wieder aufnehmen.
KIEL. Nach zweitägiger Sitzung verabschiedete der schleswig-holsteinische Landtag seinen Etat für das Wirtschaftsjahr 1950/51, der ein Defizit von 145 Millionen DM aufweist.
WINSEN. Seit Dienstag finden südlich Hamburg in der Lüneburger Heide die bisher größten Manöver britischer Panzer- und Infanterieeinheiten seit 1945 statt. An den Übungen nahmen auch Düsenjäger teil.
HAMBURG. Der erste Fernseh-Sendewagen wurde von der Fernseh-GmbH (Darmstadt) gemeinsam mit Ingenieuren des Nordwestdeutschen Fernsehfunks (NWDF) fertiggestellt. Der neue Wagen wird dazu beitragen, den aktuellen Dienst des NWDF auszuweiten.
PARIS. Der französische General Augustin Guillaume wird nach zuverlässiger Mitteilung in Kürze an Stelle des Generals Alfonse Juin zum Generalresidenten Frankreichs in Marokko ernannt werden. Juin würde dadurch in die Lage versetzt, seinen Posten als Oberbefehlshaber der Atlantikpaktstreitkräfte im Mittelabschnitt Europas zu übernehmen.
GENF. Nach Washington wird als zweite Hauptstadt Bonn ein Zweigbüro des Hohen Kommissars für UN-Flüchtlingsfragen erhalten. Das Büro wird am 1. September seine Arbeit aufnehmen. Zum Leiter wurde der Norweger Arnold Rorholt ernannt.
JERUSALEM. Zum ersten Male in der Geschichte des Zionismus begann am Mittwoch ein Zionisten-Kongreß in Jerusalem. Der israelitische Staatspräsident Chaim Waizmann und Ministerpräsident Ben Gurion sagten in einer Grußbotschaft, Israel werde sich vor allem geistig behaupten müssen, um die Mission zu erfüllen, die ihm von alters her gegeben sei.
WASHINGTON. Das amerikanische Repräsentantenhaus sprach sich fast einstimmig für den sofortigen Abruch der Handelsbeziehungen zwischen den USA und der Tschechoslowakei aus, bis der AP-Korrespondent William Oatis freigelassen wird. Oatis wurde in Prag wegen angeblicher Spionage zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.
NEW YORK. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen trat gestern in die Erörterung der von den drei Westmächten unterstützten Resolution Israels ein, die Ägypten zur Aufhebung aller Beschränkungen der Suez-Kanalschiffahrt zwingen soll. Es ist fraglich, ob die Resolution durchgehen wird.
NEW YORK. Der Aviso „Grille“, Hitlers Privatjacht, soll in Kürze verschrottet werden. Das 2500 t große Schiff war nach dem Kriege an einen libanesischen Fabrikanten von der britischen Admiralität verkauft worden. Der Libanesier ließ die „Grille“ in den Vereinigten Staaten als Attraktion zeigen.
Zwischenfälle in Berlin
Friedliche Invasion dauert aber an
BERLIN. Erstmalig seit Beginn der kommunistischen Weltjugend-Festspiele haben am Mittwoch Marschgruppen der FDJ versucht, an verschiedenen Stellen in Westberlin ein- zudringen. Unter Führung von Ostberliner Kommunisten marschierten die Demonstranten mit dem Ruf „Ami, go home“ und unter Absingen kommunistischer Lieder in geschlossener Ordnung über die Zonengrenze. Einsatzkommandos der Westberliner Polizei haben die Demonstranten zum Teil mit Hilfe von Wasserwerfern in den Sowjetsektor zurückgedrängt. Im Bezirk Kreuzberg stürzten die FDJler einen Funkwagen um und warfen Steine gegen Westberliner Polizisten. Nach etwa drei Stunden herrschte an der gesamten Zonengrenze wieder Ruhe. Wie die Westberliner Polizei am Mittwochabend mitteilte, sind bei den Zwischenfällen insgesamt 120 FDJ-An- gehörige festgenommen worden. Insgesamt elf Polizisten seien verletzt worden.
Westberliner Beobachter glauben, daß die Kommunisten durch die planmäßigen Demonstrationen die FDJler vom friedlichen Besuch in Westberlin abschrecken wollten. Nach zuverlässigen Schätzungen haben bisher 750 000 Blauhemden die Sektorengrenze nach Westen in friedlicher Absicht überschritten, davon waren 600 000 in den Westberliner Jugendheimen zu Gast. Die friedliche Invasion dauert an.
Notfalls Bundesexekutive
Bonn zur Wohleb-Note
BONN. Das Bundeskabinetf werde sich in Kürze mit der Eingabe des südbadischen Staatspräsidenten Wo hieb zur Südweststaat-Volksabstimmung beschäftigen, teilteein Regierungssprecher in Bonn mit. Wohieb drohte in seiner Eingabe, daß die südbadische Regierung die Volksabstimmung nicht vorbereiten werde, falls nicht das Bundesverfassungsgericht über ihre Klage in dieser Frage vorher entscheide. Bonn weist darauf hin, daß Artikel 37 des Grundgesetzes die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats ermächtige, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um ein Land „im Wege des Bundeszwanges zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten“, wenn „ein Land die ihm nach dem Grundgesetz oder einem anderen Bundesgesetz obliegenden Bundespflichten nicht erfüllt.“
Der Oppositionsführer im Bundestag, Dr. Kurt Schumacher, sagte am Mittwoch, er könne sich nicht vorstellen, daß der südbadische Staatspräsident mit seinem Protest gegen die Südweststaatabstimmung am 16. 9. Erfolg haben werde. Er glaube auch nicht, daß das französische Hohe Kommissariat eine Bundesexekutive verwehren würde, wenn diese zur Abstimmung notwendig sein sollte.
US-Lager nach Frankreich
Bisher HKL aus Beamten
FRANKFURT. Das Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte in Europa beschäftigt sich zurzeit mit der Lösung des Problems, wie die nahe der Zonengrenze liegenden Versor- gungs- und Ersatzlager in Deutschland hinter die Kampfeinheiten zurückgezogen werden können. Um die Verteidigungsstellung zu verstärken, sollen alle Lager und Depots, die zur Versorgung der Kampftruppe notwendig sind, nach Frankreich verlegt werden. Ein besonderes Problem wird dabei die Frage der Unterbringung sein. In Deutschland kann auf Grund des Besatzungsrechts sowohl Wohn- als auch Betriebsraum beschlagnahmt werden, jenseita der Grenze aber wird die amerikanische Armee als normaler Mieter auftreten müssen.
Zurzeit bietet sich den militärischen Sachverständigen in Deutschland ein völlig ungewöhnliches Bild: Während die Hauptmacht der amerikanischen Truppen entlang des Rhein* stationiert ist, liegen die Versorgungsdepots bis zu_300 km entfernt in Richtung Osten. Ein Angreifer würde sich also hauptsächlich-einer Armee von „Lagerverwaltern und Technikern“ gegenübersehen, die wahrscheinlich recht bald überrannt sein würden.
EITE RES ^5pIEL
IM NECKARTAL Bin fröhlicher Roman von Else Jung 15] Copyright by Verlag Bechthold
Eine weitere Stunde verbrachte Thilo damit, von einem Autobesitzer zum anderen zu laufen, und als er endlich für viel Geld und gute Worte einen alten, abscheulich klappernden Wagen aufgetrieben hatte, stellte er zu seinem Schrecken fest, daß es ein Viertel nach elf und die verabredete Stunde des Treffens längst überschritten war.
Er fuhr wie ein Wilder und holte aus dem ächzenden Kasten an Geschwindigkeit heraus, was nur herauszuholen war. Die Hoffnung, daß Imma dennoch auf ihn warten möge, wie eine beschwörende Formel in seinem Herzen bewegend.
Zwei Uhr war es, als der Wagen die Anhöhe zum Dilsberg hinaufkeuchte und durch das alte Tor in die romantische kleine Stadt auf dem Bergkegel einfuhr.
Thilo nahm sich kaum die Zeit, die schäbige Karosse zu einem Hotel zu fahren. Er klemmte sie in einen Winkel an der Stadtmauer und fragte sich nach der alten Linde durch. Ein kraushaariger Hosenmatz, pitschnaß vom immer noch strömenden Regen, führte ihn durch einen niedrigen Mauerschlupf.
Da stand die Linde.
Eine hölzerne Bank lief um ihren Stamm. Ein einsamer Platz unter tropfenden Blättern hoch über dem grauverhangenen Neckartal.
Schon von weitem sah Thilo, daß die Bank leer war. Trotzdem gab er die Hoffnung nicht auf, daß Imma ihm vielleicht ein Zeichen hinterlassen haben könne: ein Zettelchen in
einem Astloch oder unter einem Stein in einer Mauerritze versteckt.
Mit der Gründlichkeit eines Kriminalisten suchte er alles ab, jeden Stein kehrte er um, jede Ritze durchstocherte er und ging sogar den Fußspuren nach, die jedoch vom Regen schon arg verwaschen waren.
Nichts. Alles Suchen war vergebens.
Als letztes blieb ihm noch, die Leute im Ort nach einem blonden jungen Mädchen auszufragen und die Hotels abzuklappem. Dilsberg war klein, und eine Fremde mußte den Einheimischen doch aufgefallen sein, wenn sie hier gewesen war.
Endlich fand sich ein alter Mann, der sich schweigsam Thilos Beschreibung anhörte, langsam die Pfeife aus dem zahnlosen Munde nahm und kopfnickend sagte, daß ein blondes Fräulein in einem grünen Regenmantel um die Mittagszeit eine Weile vor der Jugendherberge am Tor gestanden habe und dann wieder fortgegangen sei.
„Wohin?“ fragte Thilo erregt.
„Da ’naus!“ erwiderte der Alte und wies mit dem Pfeifenstiel auf den Stadtausgang.
„Trug die Dame wirklich einen grünen Regenmantel — kein graues Regencape?“
Nein, der Herr könne es ihm glauben, es sei ein grüner Mantel gewesen.
Thilo vergaß den quälenden Hunger, und er sah nicht einmal den hochaufragenden Turm der alten Dilsburg, deren Romantik an diesem trübseligen Tag nichts Anziehendes für ihn hatte.
Die Enge der Stadt bedrückte ihn. Ohne Imma erschien sie ihm öde und trostlos.
War sie dagewesen?
Der grüne Regenmantel ließ ihn daran zweifeln.
Enttäuscht holte er den Wagen aus seinem Versteck und verließ Dilsberg mit einem Gefühl ohnmächtiger Wut auf den Silbergrauen, der ihn um das ersehnte Wiedersehen mit Imma betrogen hatte.
Ein Unglück kommt selten allein, und wer in einer Pechsträhne sitzt, sollte sich nicht von Gefühlen der Enttäuschung und Wut leiten lassen. Wäre Thilo seiner Absicht gefolgt, in den Hotels nachzufragen, so hätte sich alles noch zum Guten wenden können. So aber fuhr er ergrimmt davon, und wenige Minuten später trat ein junges Mädchen in grünem Regenmantel aus der Haustür des Hotels „Zur schönen Aussicht“ und ging langsam durch die Straße, kam zu dem kleinen Durchlaß in der Mauer und warf, ehe es auf der Nordseite des Berges den Waldweg zum Neckar hinabstieg, einen Blick nach der einsamen, regentropfenden Linde.
Sie stand noch genau so verlassen da wie am Vormittag.
Thilo war nicht gekommen.
Er hatte sich auch nicht um die Stellung beworben, und die drei Wochen vergeblichen Wartens waren für Imma eine erregende und herzbeklemmende Zeit gewesen.
Der Ritter von Stolzeneck machte seinem Namen Ehre, er strafte das Fräulein von Homeck dafür, daß es ihm heimlich entflohen war, mit Nichtachtung. Es war ihm nicht einmal eingefallen, der Treulosen nachzuspüren, und noch viel weniger hatte er von ihrer Fürsprache Gebrauch gemacht.
Mit dieser Fürsprache sah es freilich windig genug aus.
Die Unterredung mit Muschi war nicht so glimpflich verlaufen, wie Imma es erwartet hatte. Mit Großmama hatte sie es leichter gehabt. Muschi war ganz die strenge, empörte Mutter gewesen und nicht gewillt, den kopflosen Streich der Tochter mit ein paar Worten zu tadeln oder gar zu verzeihen. Es hatte ganz hübsch gekracht und geblitzt, so daß Imma nicht den Mut aufgebracht hatte, von ihrer Wanderfahrt mit Thilo zu berichten. Zum Glück war Muschi nicht darauf verfallen, sie eingehend auszufragen. Ein dringendes Ferngespräch hatte sie abgerufen, und später hatte die immer Geschäftige es vergessen, die Aus
sprache fortzusetzen. Imma war an ihren Arbeitsplatz am Webstuhl geschickt worden, und am Abend, als sie zu dritt auf der Burg um den Eßtisch saßen, hatte Großmama den Zorn der Tochter mit gütigen Worten zu beschwichtigen verstanden.
„Laß es gut sein, Angelika. Imma ist wieder da, und der kleine Ausflug hat ihr nicht* geschadet.“
Großmama und Enkelin hatten sich verständnisinnig angesehen, und Muschi war gleich darauf wieder von anderen Gedanken in Anspruch genommen worden.
Langsam wanderte Imma über die schmale Eisenbahnbrücke des Stauwerkes, die das Ufer unterhalb Dilsberg mit der kleinen Stadt Neckarsteinach verband. Der Regen hatte nachgelassen, er sprühte nur noch ganz fein gegen Immas Gesicht.
Ja, sie war nun wieder daheim, aber ihr Herz war noch nicht zu Hause, und in diesem Augenblick sehnte es sich sehr nach Thilo.
So voller Erwartung und Freude war sie am Morgen im grauen Regen über diese Brücke gelaufen. Großmama hatte sie gesagt, es könne sein, daß sie ihr heute zum Mittag- 1 essen einen Gast mitbringe. Und dann hatte , sie vom Dilsberg zur Burg hinübertelefonieren müssen, daß sie erst später käme und daß ’ man sich nicht um sie sorgen möge. i
Muschi war nach Heidelberg gefahren, und Imma hatte das bestimmte Gefühl, daß sie dort nicht allein sein werde.
Ach, es war schon ein Kreuz, eine Mutter zu haben, die trotz ihrer Jahre noch so jugendlich und hübsch aussah, daß auch die reizendsten jungen Mädchen neben ihr verblaßten, wenn sie sich in ihrer Gesellschaft zeigte. Muschis sprühendes Temperament und Geist bezauberten alle Männer, und seit sich dieser unausstehliche Schreyer auf Schritt und Tritt an ' ihre Fersen heftete, war sie sich dieser Macht erst wieder richtig bewußt geworden.
Imma seufzte tief auf. (Fortsetzung folgt) ,