Schuhmacher: Kampfansage

SPD will Kohle und Stahl sozialisieren / Bürgenstock-Gespräche:Zeitgewinn

vorgegangen worden als in den Pariser Ver­handlungen um den Schumanplan. Alliierte Versprechungen, eine deutsche Zustimmung nicht zu erzwingen und nicht zu erkaufen, wür­den hierbei durch die Praxis widerlegt,denn das ist doch der Versuch zu kaufen, und zwar billig zu kaufen. In der Saarfrage hält Dr. Schumacher eine neue Debatte für notwendig.

Zu den neu erstehenden Soldatenbünden meinte Schumacher, grundsätzlich solle man die Organisation früherer Angehöriger der Wehrmacht nicht hindern, solange sie sich auf eine materielle Interessenvertretung und die Pflege der Kameradschaft beschränkten.

Scharfe Kritik übte Dr. Schumacher an ver­schiedenen Ausführungen des französischen Hohen Komissars, Frangois-Poncet, wobei er zu dem Ergebnis kam,daß das deutsche

BONN. Der SPD-Vorsitzende Dr. Kurt Schumacher kündigte am Mittwoch in Bonn an, daß die SPD ihren eigenen Kampf gegen die alliierten Entscheidungen über die Besatzungskosten und den Kohlenexport füh­ren werde. Ein gemeinsamer Kampf mit den Regierungsparteien sei nicht möglich, da die Argumente zu verschieden seien. Schumacher übte scharfe Kritik an der Politik der Bundes­regierung und sagte:Die Regierung hat es so weit gebracht, daß die Alliierten glauben, in ihren Handlungen keine Rücksicht mehr auf sie nehmen zu brauchen. Er verlangte Neu­wahlen zum Bundestag und die Ablösung der gegenwärtigen Regierung als internationale und -nationale Notwendigkeiten im Kampf ge­gen den Kommunismus.

Zur Klärung der Höhe der Besatzungskosten schlug Dr. Schumacher eine Art National-Bud- get vor,in dem das sozial Notwendige und das militärisch Mögliche auf einen Nenner ge­bracht werde. Der Welt müsse klargemacht werden, was Deutschland durch Beiträge in Wohnungsbau, Lastenausgleich und Kriegs­opferversorgung zur Sicherheit der Demokra­tie leiste.

Auf die Kohlenexportquote eingehend, meinte Schumacher, durch bestimmte Handels­verträge werde mehr Kohle exportiert, als die Alliierten verlangten. In der SPD bestehe grundsätzlich die Absicht, Vorschläge zur So­zialisierung von Kohle und Stahl einzubrin­gen. Über den taktischen Ansatzpunkt für die­ses Vorhaben werde in den nächsten 14 Tagen entschieden. Die Bürgenstock-Gespräche zwi­schen dem Bundeskanzler und den Gewerk­schaftsvertretern hätten den Sinn gehabt, Zeit zu gewinnen. Der Bundeskanzler habe wahr­scheinlich versucht,durch Versprechungen eine gute Atmosphäre zu erzeugen.

In den Verhandlungen über die Ablösung des Besatzungsstatuts durch eine Reihe von zwei­seitigen Verträgen sei auf deutscher Seite nicht mit größerer Einsicht, Weitsicht und größerem politischen Verhandlungsvermögen

London will Osthandel

Verzicht fällt zu schwer

LONDON. Großbritannien hat am Mittwoch durch seinen Handelsminister Sir Hartley Shawcross klargemacht, daß es auf den Handel mit den kommunistischen Ländern an­gewiesen sei und ihn auch auf die Gefahr hin fortsetzen werde, daß darüber Unstimmigkei­ten mit dem amerikanischen Verbündeten ent­stünden. Das allgemeine . westliche Embargo über die Ausfuhr kriegswichtiger Güter nach kommunistischen Ländern werde England aber halten, betonte Shawcross. Er sagte mit deut­licher Anspielung auf die zurzeit im ameri­kanischen Kongreß eingebrachte Vorlage, die eine Einstellung aller amerikanischen Hilfelei­stungen an die mit dem Ostblock Handel trei­benden Länder vorsieht:Diese Frage (des Ost-West-Handels) kann nicht dadurch gelöst werden, -daß man einseitige Bedingungen nie­derlegt. Sie ist vielmehr ein Gegenstand für offene, aber freundschaftliche Diskussion un­ter Verbündeten. Shawcross erwähnte die so­wjetische Drohung, die vertraglichen Holzlie­ferungen für Großbritannien zu kündigen, wenn nicht als Gegenleistung Kautschuk ge­liefert werde.

Hearst gestorben

BEVERLY HILLS (Kalifornien). Der be­kannte amerikanische Zeitungsverleger und Besitzer zahlreicher' Zeitschriften und Zei­tungen, William Randolph Hearst, ist am Dienstag nach langjähriger Krankheit im Al­ter von 88 Jahren auf seinem Besitz in Be­verly Hills gestorben.

Hearst besaß u. a. eine der bedeutendsten Kunstsammlungen in den Staaten. Auf seinem Besitz in Kalifornien standen vier Schlösser, die in Europa gekauft, abgebaut und Stein für Stein nach Amerika gebracht wurden.

Volk ohne Unterschied der Parteien den fran­zösischen Hohen Kommissar nach jeder Rich­tung für eine ,Misplaced Person in Deutsch­land hält. Der französische Hohe Kommis­sar hatte Schumacher kürzlich in einer Rede mit dem ewig unzufriedenen Faust verglichen und gesagt, Schumacher werde erst zufrieden sein, wenn er wie Faust ein freies Volk auf freiem Boden sehe. Dabei solle er. aber auch die verschleppten Personen (Displaced Persons) nicht vergessen.

Schumacher zitierte in seiner Kritik dann aus denTischgesprächen Hitlers, daß Hitler froh gewesen wäre, wenn, erunter unseren Botschaftern einen Mann vom Format Fran­cois Poncet hätte, denn dieser Franzose sei in seiner Konzilianz und Freigebigkeit mit Pralinen und dergleichen ein nicht zu unter­schätzender Fechter auf der diplomatischen Bühne. Der Umfang seiner Verbindung er­helle aus der Tatsache, daß er sich einmal ei­nen ganzen Waggon Pralinen aus Frankreich habe kommen lassen.

Thema: Besatjungskosten

Sondersitzung des FDP-Vorstandes

BONN. Bundesfinanzminister Fritz S c h ä f- fer führte gestern mit den Vorsitzenden der drei Regierungsfraktionen erste Besprechun­gen über die künftige Regelung der Höhe der Besatzungskosten. Am Dienstag wird das Bun­deskabinett erstmalig unter Vorsitz von Bun­deskanzler Dr. Adenauer zusammentreten, um dasselbe Thema zu erörtern. Die endgül­tige Entscheidung wird vom Ergebnis der Ver­handlungen des Bundeskanzlers mit den drei Hohen Kommissaren abhängen.

Zu einer außerordentlichen Sitzung trat in Bonn gestern der FDP-Vorstand zusammen, um über den Standpunkt der FDP zu den be­vorstehenden wichtigen politischen Entschei­

dungen zu beraten. Es wird die Auffassung vertreten, daß die Revision des Besatzungs­statuts grundsätzlich die Wiederherstellung der vollen deutschen Souveränität zum Ziel haben müsse. Die FDP wende sich deshalb auch dagegen, daß diese Revision von der Leistung eines deutschen Verteidigungsbeitra­ges abhängig gemacht werden könnte. Das grundsätzliche Ja der Bundesrepublik zu ei­nem Verteidigungsbeitrag wird nicht abge­lehnt, die FDP will jedoch wissen, welcher Art und wie hoch der deutsche Sicherheitsbeitrag sein und wie er ermöglicht werden soll.

Der Bund der Steuerzahler hat sich in einem offenen Brief an die drei Hohen Kommissare gegen dieungeheuren Lasten gewandt, die den Bundesfinanzen weiterhin auferlegt wür­den, wenn keine fühlbare Senkung der Be­satzungskosten erfolge.

Kleine Weltchronfk

TÜBINGEN. Das Staatsministerium von Würt- temberg-Hohenzollern hat dem Landtag einen Gesetzentwurf vorgelegt, nachdem die Zahl der Amtsgerichte von 23 auf 29 erhöht werden soll. Das Staatsministerium will mit dieser Regelung, die den Zustand von vor 1945 im wesentlichen wieder herstellt, Gerichtsbezirke schaffen, die nach ihrer Größe den Richtern einen engeren Kontakt mit der Bevölkerung ihres Amtsgebietes ermöglichen.

BONN. Am Mittwoch traf der Vizepräsident von Brasilien, Cafe Filho, zu einem privaten Be­such in der Bundesrepublik ein. Filho, der mit der Bundesregierung auch über die Auswande­rung Deutscher nach Brasilien verhandeln wird, wurde gestern von Bundespräsident Prof. Heuß empfangen.

BONN. Bundestagsvizepräsident Dr. Hermann Schäfer, der am Mittwoch vom Liberalen Welt­kongreß in Upsala (Schweden) zurückkehrte, er­klärte, die Tagung habe gezeigt, daß es einen langsamen aber stetigen Kräftezuwachs der libe­ralen Partei und des neuliberalen Gedankengutes in den Ländern gebe,in denen die Ernüchte­rung über die sozialistische Illusion angesichts der Erfahrungen mit sozialistischen Regierungen Fortschritte macht.

BONN. Zum erstenmal in der deutschen Ge­schichte wurde ein kanadischer Botschafter bei einer deutschen Regierung akkreditiert. T. C. Davies, der Vertreter Kanadas bei der Bundes­regierung. überreichte Bundespräsident Theodor Heuß gestern sein Beglaubigungsschreiben. Vor dem Kriege war Kanada als britisches Dominion durch den damaligen britischen Botschafter in Berlin diplomatisch vertreten.

DÜSSELDORF. Der angekündigte Streik der 60 000 Versicherungsangestellten in der Bundes­republik ist vorläufig zurückgestellt worden. Die Sozialpartner wollen die Verhandlungen über eine Gehaltserhöhung wieder aufnehmen.

KIEL. Nach zweitägiger Sitzung verabschiedete der schleswig-holsteinische Landtag seinen Etat für das Wirtschaftsjahr 1950/51, der ein Defizit von 145 Millionen DM aufweist.

WINSEN. Seit Dienstag finden südlich Ham­burg in der Lüneburger Heide die bisher größ­ten Manöver britischer Panzer- und Infanterie­einheiten seit 1945 statt. An den Übungen nah­men auch Düsenjäger teil.

HAMBURG. Der erste Fernseh-Sendewagen wurde von der Fernseh-GmbH (Darmstadt) ge­meinsam mit Ingenieuren des Nordwestdeutschen Fernsehfunks (NWDF) fertiggestellt. Der neue Wagen wird dazu beitragen, den aktuellen Dienst des NWDF auszuweiten.

PARIS. Der französische General Augustin Guillaume wird nach zuverlässiger Mitteilung in Kürze an Stelle des Generals Alfonse Juin zum Generalresidenten Frankreichs in Marokko er­nannt werden. Juin würde dadurch in die Lage versetzt, seinen Posten als Oberbefehlshaber der Atlantikpaktstreitkräfte im Mittelabschnitt Euro­pas zu übernehmen.

GENF. Nach Washington wird als zweite Haupt­stadt Bonn ein Zweigbüro des Hohen Kommis­sars für UN-Flüchtlingsfragen erhalten. Das Bü­ro wird am 1. September seine Arbeit aufneh­men. Zum Leiter wurde der Norweger Arnold Rorholt ernannt.

JERUSALEM. Zum ersten Male in der Ge­schichte des Zionismus begann am Mittwoch ein Zionisten-Kongreß in Jerusalem. Der israelitische Staatspräsident Chaim Waizmann und Minister­präsident Ben Gurion sagten in einer Grußbot­schaft, Israel werde sich vor allem geistig be­haupten müssen, um die Mission zu erfüllen, die ihm von alters her gegeben sei.

WASHINGTON. Das amerikanische Repräsen­tantenhaus sprach sich fast einstimmig für den sofortigen Abruch der Handelsbeziehungen zwi­schen den USA und der Tschechoslowakei aus, bis der AP-Korrespondent William Oatis freige­lassen wird. Oatis wurde in Prag wegen angeb­licher Spionage zu zehn Jahren Gefängnis ver­urteilt.

NEW YORK. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen trat gestern in die Erörterung der von den drei Westmächten unterstützten Resolution Israels ein, die Ägypten zur Aufhebung aller Be­schränkungen der Suez-Kanalschiffahrt zwingen soll. Es ist fraglich, ob die Resolution durchgehen wird.

NEW YORK. Der AvisoGrille, Hitlers Pri­vatjacht, soll in Kürze verschrottet werden. Das 2500 t große Schiff war nach dem Kriege an ei­nen libanesischen Fabrikanten von der britischen Admiralität verkauft worden. Der Libanesier ließ dieGrille in den Vereinigten Staaten als At­traktion zeigen.

Zwischenfälle in Berlin

Friedliche Invasion dauert aber an

BERLIN. Erstmalig seit Beginn der kom­munistischen Weltjugend-Festspiele haben am Mittwoch Marschgruppen der FDJ versucht, an verschiedenen Stellen in Westberlin ein- zudringen. Unter Führung von Ostberliner Kommunisten marschierten die Demonstran­ten mit dem RufAmi, go home und unter Absingen kommunistischer Lieder in geschlos­sener Ordnung über die Zonengrenze. Einsatz­kommandos der Westberliner Polizei haben die Demonstranten zum Teil mit Hilfe von Wasserwerfern in den Sowjetsektor zurück­gedrängt. Im Bezirk Kreuzberg stürzten die FDJler einen Funkwagen um und warfen Steine gegen Westberliner Polizisten. Nach etwa drei Stunden herrschte an der gesamten Zonengrenze wieder Ruhe. Wie die Westber­liner Polizei am Mittwochabend mitteilte, sind bei den Zwischenfällen insgesamt 120 FDJ-An- gehörige festgenommen worden. Insgesamt elf Polizisten seien verletzt worden.

Westberliner Beobachter glauben, daß die Kommunisten durch die planmäßigen Demon­strationen die FDJler vom friedlichen Besuch in Westberlin abschrecken wollten. Nach zu­verlässigen Schätzungen haben bisher 750 000 Blauhemden die Sektorengrenze nach Westen in friedlicher Absicht überschritten, davon waren 600 000 in den Westberliner Jugend­heimen zu Gast. Die friedliche Invasion dauert an.

Notfalls Bundesexekutive

Bonn zur Wohleb-Note

BONN. Das Bundeskabinetf werde sich in Kürze mit der Eingabe des südbadischen Staatspräsidenten Wo hieb zur Südwest­staat-Volksabstimmung beschäftigen, teilteein Regierungssprecher in Bonn mit. Wohieb drohte in seiner Eingabe, daß die südbadische Regierung die Volksabstimmung nicht vorbe­reiten werde, falls nicht das Bundesverfas­sungsgericht über ihre Klage in dieser Frage vorher entscheide. Bonn weist darauf hin, daß Artikel 37 des Grundgesetzes die Bundesregie­rung mit Zustimmung des Bundesrats ermäch­tige, die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um ein Landim Wege des Bundeszwanges zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten, wennein Land die ihm nach dem Grundge­setz oder einem anderen Bundesgesetz oblie­genden Bundespflichten nicht erfüllt.

Der Oppositionsführer im Bundestag, Dr. Kurt Schumacher, sagte am Mittwoch, er könne sich nicht vorstellen, daß der süd­badische Staatspräsident mit seinem Protest gegen die Südweststaatabstimmung am 16. 9. Erfolg haben werde. Er glaube auch nicht, daß das französische Hohe Kommissariat eine Bun­desexekutive verwehren würde, wenn diese zur Abstimmung notwendig sein sollte.

US-Lager nach Frankreich

Bisher HKL aus Beamten

FRANKFURT. Das Hauptquartier der ame­rikanischen Streitkräfte in Europa beschäftigt sich zurzeit mit der Lösung des Problems, wie die nahe der Zonengrenze liegenden Versor- gungs- und Ersatzlager in Deutschland hinter die Kampfeinheiten zurückgezogen werden können. Um die Verteidigungsstellung zu ver­stärken, sollen alle Lager und Depots, die zur Versorgung der Kampftruppe notwendig sind, nach Frankreich verlegt werden. Ein besonde­res Problem wird dabei die Frage der Unter­bringung sein. In Deutschland kann auf Grund des Besatzungsrechts sowohl Wohn- als auch Betriebsraum beschlagnahmt werden, jenseita der Grenze aber wird die amerikanische Ar­mee als normaler Mieter auftreten müssen.

Zurzeit bietet sich den militärischen Sach­verständigen in Deutschland ein völlig unge­wöhnliches Bild: Während die Hauptmacht der amerikanischen Truppen entlang des Rhein* stationiert ist, liegen die Versorgungsdepots bis zu_300 km entfernt in Richtung Osten. Ein Angreifer würde sich also hauptsächlich-einer Armee vonLagerverwaltern und Technikern gegenübersehen, die wahrscheinlich recht bald überrannt sein würden.

EITE RES ^5pIEL

IM NECKARTAL Bin fröhlicher Roman von Else Jung 15] Copyright by Verlag Bechthold

Eine weitere Stunde verbrachte Thilo damit, von einem Autobesitzer zum anderen zu lau­fen, und als er endlich für viel Geld und gute Worte einen alten, abscheulich klappernden Wagen aufgetrieben hatte, stellte er zu sei­nem Schrecken fest, daß es ein Viertel nach elf und die verabredete Stunde des Treffens längst überschritten war.

Er fuhr wie ein Wilder und holte aus dem ächzenden Kasten an Geschwindigkeit heraus, was nur herauszuholen war. Die Hoffnung, daß Imma dennoch auf ihn warten möge, wie eine beschwörende Formel in seinem Herzen bewegend.

Zwei Uhr war es, als der Wagen die Anhöhe zum Dilsberg hinaufkeuchte und durch das alte Tor in die romantische kleine Stadt auf dem Bergkegel einfuhr.

Thilo nahm sich kaum die Zeit, die schä­bige Karosse zu einem Hotel zu fahren. Er klemmte sie in einen Winkel an der Stadt­mauer und fragte sich nach der alten Linde durch. Ein kraushaariger Hosenmatz, pitsch­naß vom immer noch strömenden Regen, führte ihn durch einen niedrigen Mauer­schlupf.

Da stand die Linde.

Eine hölzerne Bank lief um ihren Stamm. Ein einsamer Platz unter tropfenden Blättern hoch über dem grauverhangenen Neckartal.

Schon von weitem sah Thilo, daß die Bank leer war. Trotzdem gab er die Hoffnung nicht auf, daß Imma ihm vielleicht ein Zeichen hin­terlassen haben könne: ein Zettelchen in

einem Astloch oder unter einem Stein in einer Mauerritze versteckt.

Mit der Gründlichkeit eines Kriminalisten suchte er alles ab, jeden Stein kehrte er um, jede Ritze durchstocherte er und ging sogar den Fußspuren nach, die jedoch vom Regen schon arg verwaschen waren.

Nichts. Alles Suchen war vergebens.

Als letztes blieb ihm noch, die Leute im Ort nach einem blonden jungen Mädchen auszu­fragen und die Hotels abzuklappem. Dilsberg war klein, und eine Fremde mußte den Ein­heimischen doch aufgefallen sein, wenn sie hier gewesen war.

Endlich fand sich ein alter Mann, der sich schweigsam Thilos Beschreibung anhörte, langsam die Pfeife aus dem zahnlosen Munde nahm und kopfnickend sagte, daß ein blon­des Fräulein in einem grünen Regenmantel um die Mittagszeit eine Weile vor der Jugend­herberge am Tor gestanden habe und dann wieder fortgegangen sei.

Wohin? fragte Thilo erregt.

Danaus! erwiderte der Alte und wies mit dem Pfeifenstiel auf den Stadtausgang.

Trug die Dame wirklich einen grünen Re­genmantel kein graues Regencape?

Nein, der Herr könne es ihm glauben, es sei ein grüner Mantel gewesen.

Thilo vergaß den quälenden Hunger, und er sah nicht einmal den hochaufragenden Turm der alten Dilsburg, deren Romantik an diesem trübseligen Tag nichts Anziehendes für ihn hatte.

Die Enge der Stadt bedrückte ihn. Ohne Imma erschien sie ihm öde und trostlos.

War sie dagewesen?

Der grüne Regenmantel ließ ihn daran zwei­feln.

Enttäuscht holte er den Wagen aus seinem Versteck und verließ Dilsberg mit einem Ge­fühl ohnmächtiger Wut auf den Silbergrauen, der ihn um das ersehnte Wiedersehen mit Imma betrogen hatte.

Ein Unglück kommt selten allein, und wer in einer Pechsträhne sitzt, sollte sich nicht von Gefühlen der Enttäuschung und Wut leiten lassen. Wäre Thilo seiner Absicht gefolgt, in den Hotels nachzufragen, so hätte sich alles noch zum Guten wenden können. So aber fuhr er ergrimmt davon, und wenige Minuten später trat ein junges Mädchen in grünem Regen­mantel aus der Haustür des HotelsZur schö­nen Aussicht und ging langsam durch die Straße, kam zu dem kleinen Durchlaß in der Mauer und warf, ehe es auf der Nordseite des Berges den Waldweg zum Neckar hinabstieg, einen Blick nach der einsamen, regentropfen­den Linde.

Sie stand noch genau so verlassen da wie am Vormittag.

Thilo war nicht gekommen.

Er hatte sich auch nicht um die Stellung beworben, und die drei Wochen vergeblichen Wartens waren für Imma eine erregende und herzbeklemmende Zeit gewesen.

Der Ritter von Stolzeneck machte seinem Namen Ehre, er strafte das Fräulein von Homeck dafür, daß es ihm heimlich entflohen war, mit Nichtachtung. Es war ihm nicht ein­mal eingefallen, der Treulosen nachzuspüren, und noch viel weniger hatte er von ihrer Für­sprache Gebrauch gemacht.

Mit dieser Fürsprache sah es freilich windig genug aus.

Die Unterredung mit Muschi war nicht so glimpflich verlaufen, wie Imma es erwartet hatte. Mit Großmama hatte sie es leichter ge­habt. Muschi war ganz die strenge, empörte Mutter gewesen und nicht gewillt, den kopf­losen Streich der Tochter mit ein paar Worten zu tadeln oder gar zu verzeihen. Es hatte ganz hübsch gekracht und geblitzt, so daß Imma nicht den Mut aufgebracht hatte, von ihrer Wanderfahrt mit Thilo zu berichten. Zum Glück war Muschi nicht darauf verfallen, sie eingehend auszufragen. Ein dringendes Fern­gespräch hatte sie abgerufen, und später hatte die immer Geschäftige es vergessen, die Aus­

sprache fortzusetzen. Imma war an ihren Ar­beitsplatz am Webstuhl geschickt worden, und am Abend, als sie zu dritt auf der Burg um den Eßtisch saßen, hatte Großmama den Zorn der Tochter mit gütigen Worten zu beschwich­tigen verstanden.

Laß es gut sein, Angelika. Imma ist wie­der da, und der kleine Ausflug hat ihr nicht* geschadet.

Großmama und Enkelin hatten sich ver­ständnisinnig angesehen, und Muschi war gleich darauf wieder von anderen Gedanken in Anspruch genommen worden.

Langsam wanderte Imma über die schmale Eisenbahnbrücke des Stauwerkes, die das Ufer unterhalb Dilsberg mit der kleinen Stadt Neckarsteinach verband. Der Regen hatte nachgelassen, er sprühte nur noch ganz fein gegen Immas Gesicht.

Ja, sie war nun wieder daheim, aber ihr Herz war noch nicht zu Hause, und in diesem Augenblick sehnte es sich sehr nach Thilo.

So voller Erwartung und Freude war sie am Morgen im grauen Regen über diese Brücke gelaufen. Großmama hatte sie gesagt, es könne sein, daß sie ihr heute zum Mittag- 1 essen einen Gast mitbringe. Und dann hatte , sie vom Dilsberg zur Burg hinübertelefonieren müssen, daß sie erst später käme und daß man sich nicht um sie sorgen möge. i

Muschi war nach Heidelberg gefahren, und Imma hatte das bestimmte Gefühl, daß sie dort nicht allein sein werde.

Ach, es war schon ein Kreuz, eine Mutter zu haben, die trotz ihrer Jahre noch so jugendlich und hübsch aussah, daß auch die reizendsten jungen Mädchen neben ihr verblaßten, wenn sie sich in ihrer Gesellschaft zeigte. Muschis sprühendes Temperament und Geist bezauber­ten alle Männer, und seit sich dieser unaus­stehliche Schreyer auf Schritt und Tritt an ' ihre Fersen heftete, war sie sich dieser Macht erst wieder richtig bewußt geworden.

Imma seufzte tief auf. (Fortsetzung folgt) ,