NUMMER 12 0

SAMSTAG, 4. AUGUST 19S1

Spektrum einer Reise nach Berlin

Mit dem bänglichen Gefühl eines Provinz­lers fuhr der Württemberger in der Blütezeit der Weimarer Republik einstens in die Reichs­hauptstadt. Berlin war nicht nach seinem Ge­schmack, die märkischen Kiefern, die feingold- sandenen Moränenhügel samt dem Zauber der zu ausladenden Seen angestauten Spree­gewässer rings um die Stadt dünkten dem an reichere, mildere und fruchtbarere Landstriche gewöhnten Süddeutschen eine etwas armse­lige Gegend, barbarisch in ihrer Verkrüppelt- heit und eiszeitlichen Rauheit. Aber inmitten derStreusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation lag die Unermeß- lichkeit eines steinernen Meeres, aus einem Kern herauswachsend in immer breiteren Strahlen, geschichtet in Bezirke, von denen jeder die Größe einer deutschen Landeshaupt­stadt hatte, nach jüngstem preußischen Stil uniformiert in protzige Fassaden, Vorder- und lichtlosdumpfe Zementhinterhäuser, aber doch schon an den Rändern hochmodern durch Grünanlagen aufgelockert und mit Licht und Luft einsaugenden Zeilensiedlungen versehen. Unsereinen schreckte dieses Berlin in seiner Glanzzeit ein wenig ab. Es hatte keine Tiefe, keine beispielgebende Geschichte, keine Monu­mente der abendländischen Christenheit. Es imponierte aber durch seine Überdimensionali- tät, seinen geistigen Magnetismus, der alles anzog, was im Reiche der deutschen Kaiser aus dem Hause Hohenzollern, und erst recht, was in der Epoche der jungen Republik poli­tisch und kulturell den Sprung in die vor­derste Reihe wagte, den Tanz auf dem glat­ten Asphalt nicht scheute, endgültig dem Pro- vinzlertum entfliehen und weltstädtischer Ber­liner werden wollte. Dieses republikanische Berlin war so etwas wie der Schmelztiegel al­ler deutschen Landsmannschaften, aber zu­gleich auch die Stadt mit dem unausweichli­chen Elan einer wachsten Gegenwärtigkeit, die in ihrem Tun und Produzieren das Opti­mum dem Maximum opferte. Es gab hier den unvorstellbaren Reichtum neben dem stinkig­sten Elend, das Reinhardttheater neben dem dörflichen Rummel, die preußische Rangord­nung neben der slawischen Revolution. Gefahr und Größe, Bedeutung und Kitsch, bürger­lichste Idylle samt Geranien vor dem Ein­heitszementbalkon und internationalstes Intel- lektuellentum, Schwabe und Schlesier wohn­ten hier unmittelbarer nebeneinander als in irgendeiner anderen Weltstadt Europas, und zwar in einer Weise, daß kein Gegensatz über den anderen herrschte, daß alles, was Ber­lin aufnahm, mit einer rätselhaften Logik in den Bann des berlinischen Geistes, dieses vielfältigsten Geistes geriet und darinnen verharrte.

Berlin heute

Der Württemberger, der heute nach Berlin kommt, ist frei vom provinzlerischen Mißbe­hagen. Berlin ist durch die fanatische Unter­gangskonsequenz der Machthaber des Dritten Reiches hinter seine bestimmenden Mächte zurückgesunken. Sein preußischer Kern ist ausgelöscht und vernichtet. Was die Bomben übrigließen, hat der Bolschewismus vollends aufgeräumt, indem er in den Spuren der Hit- lerschen Umwandlung des Berlins der Hohen­zollern und der Republik folgerichtig weiter­wandelte und alle Erinnerungen an den Feu­dalismus austilgte. Der Prozeß hat zunächst das wichtigste Monument, das Schloß der Kur­fürsten, Könige und »Kaiser, den Riesenkom­plex mit seinen 500 Zimmern, das herrlichste Denkmal preußischer Hoheit und Ordnung, den Schlüterschen Ehrenhof in seinen slawi­schen Molochsrachen geschlungen, und hat das einzige geschichtsträchtige Symbol der Stadt mit der kalten Teufelsfratze des Nihilismus zerschlagen. Als einNichts gähnt heute die sandbestreute Leere, wo einstens das Schloß stand, bereit die neue Truppe aus dem Osten, die leninistisch-stalinistisch geschulte Elite­mannschaft hier zu dem entscheidenden Marsch in den Westen antreten zu lassen. Als Hitler zu Ehren des MussolinibesuchesUnter den Linden neu bepflanzen ließ und die West- Ost-Achse mitten durch Berlin in der Form einer Rollbahn legte, hat sein Prophetismus nicht geahnt, daß genau in der Mitte der Achse einmal das asiatische Reich seinen Grenzbal­ken errichten wird. Es ist fast die Stelle, an der die Askanier einst die slawischen Wenden unter ihre Botmäßigkeit brachten und das Dörfchen Berlin mit Neukölln verschmolzen.

Schweigen wir über die kümmerlichen Reste des residenzlichen Teils der Stadt. Schinkel würde seine Ehrenwache kaum mehr erken­nen, sie hat jetzt ein Gebälk und einen Gie­bel aus Zement ohne Verzierungen bekom­men, die Denkmäler Rauchs, die mit einer nur im Preußentum möglichen Wohlproportio- niertheit die Lücken zwischen Lustgarten und dem alten Opernhaus und dem Schinkelschen Museum füllten, hat derselbe Moloch geraubt, ddbsen Wüten wirUnter den Linden an je­dem Gebäude beobachten können, der eben dabei ist, das Zeughaus in ein Museum für Deutsche Geschichte umzubauen, und der in einer seltsamen Anwandlung von Gutmütig­keit das Stilungetüm des kaiserlichen Domes und die beiden Humboldt vor der Universität stehen ließ. Doch was heißt hier nochDeut­sche Geschichte? Sie wird in dem einzigen Neubau von Format, derUnter den Linden errichtet wurde, geschrieben, in der sowjeti­schen Botschaft. In der Tat ein Bau, wie ihn nur diktatorische Regime gutieren können: Es ist da alles dran: der faschistische Rundbogen in der mittleren Etage, das barocke Fenster in den zwei übrigen Stockwerken, geriefelte Pilaster mit korinthischen Kapitellen und der einheitliche Quaderstein, der in uniformierter Ausführung das Prunkhaft-Historische gleich­sam kaserniert.

Der BezirkTiergarten unter westberli­nischer Verwaltung, einst das vornehme Vergnügungsfeld der Stadt, hat heute das Aus­sehen eines frischgerodeten Teiles einer wild­

st)« Dt. Ernst Müller - Tübingen

Westlandschaft, in deren Trümmerurwald ein gütiger Senator Edelbäume stiftete, mit denen kundige Stadtplaner das alte Parkbild wie­derherstellen wollen und die bald die blocki- gen Zementberge gesprengter Bunker über­wachsen haben werden. Neckisch, wie einzelne Figuren der Siegesallee nun weinend von Ge­strüpp umwuchert gleich barocken Allegorien in der Freilandschaft stehen, während die Mo­numentalhelden des Bismarckreiches unver­ändert ihre Siegessäule umkreisen, der aber aus Gründen der Entmilitarisierung ihre Schlachtenreliefs ausgebrochen wurden. In friedlicher Nachbarschaft zu den Siegeszeichen des Kaiserreiches verkündet das Sowjetdenk­mal das Ereignis der Eroberung Berlins mit jenem fast plakathaften Realismus, der Pan­zer in Natura vor eine Kolonnade stellt, die ein lebensgroßer Sowjetsoldat überhöht. Und rings in der Weite stechen dunkelhöhlig und fragmentarisch die altbekannten Stätten in den Himmel: der Wallotbau, der Lehrter Bahn­hof usw.

Ein einziger Schutthaufen vom Potsdamer Platz aus gesehen oder wahrnehmbar in einem Gang durch die Wilhelmstraße kennzeich­net den einstigen politischen Mittelpunkt seit der Reichsgründung. Von hitlerscher Reichs­kanzlei und hindenburgschen Reichspräsiden­tenpalais ist nichts mehr übrig, doch wie ein verstohlener Schimmer von Hoffnung zittert es im Beschauer, wenn er sieht, wie inmitten der Vernichtung noch Wilhelmstraße 9, das schon von Bismarck benützte Außenministerium in seiner bescheidenen altpreußischen Schlichtheit einsam vegetiert.

Nicht ganz so trostlos sieht es im Westen aus. Von dem der Zone zustehenden Schutt von 45 Millionen Tonnen sind 15 Millionen heute be­reits nutzbringend zu sogenanntenTrümmer­bergen gesammelt worden, die als natürliche Fortsetzungen schon vorhandener Parkanlagen errichtet, bepflanzt und mit modernsten Aschenbahnen, Fußballplätzen und Erholungs­wegen versehen worden sind. DerMonte Kla- mott z. B. hat die respektable Höhe von 150 m und ist heute bereits der vielbesuchte Mittel­punkt der besonders im westberlinischen Sinne aktiven Bewohner des Bezirks Wilmersdorf. Doch wie eng schmilzt das einst so flutende großstädtische Leben heute in den zwei einzi­gen wieder aufgebauten Straßen, dem Kurfür­stendamm und der Tauentzienstraße zusam­men, Behelfsbauten und notdürftig ausgebes­serte Altfassaden beherbergen die großen Schaufenster, von denen aus die wirtschaftlich- geistige Überlegenheit des Westens den Ostbe­suchern demonstriert werden soll.Hier spazieren wie einstens zu Heines ZeitenUnter den Lin­den die Berliner, hier sitzen sie bei Kranzier im Prälaten oder imBerliner Kindl, trinken ihreWeiße mit Schuß und vermischen sich mit den Gästen aus dem Westen, denen Mün­chener Exportbiere empfohlen werden, hier sausen die Ford, Mercedes, Opel und Borg­ward, hier schlendern mit ihren Damen Eng­länder, Amerikaner und Franzosen und wenn die Neonröhren flimmern, scheint der Ku­damm der buntgemalten Venus vulgata zu ge­hören. Aber was links und rechts von den beiden Straßen liegt, versinkt im Dunkel und atmet noch die Stille des schwer Angeschlage­nen.

Wie wird Westberlin regiert?

Der Fremde kennt Schöneberg meist bloß von einem bekannten Schlager. Indessen ist sein Stadthaus, ein sehr geräumiges im nicht unschönen Jugendstil erbautes Repräsentativ­gebäude mit weitem Platz, heute der Sitz des regierenden Bürgermeisters und seiner Mini­ster (Senatoren). Der Bürgermeister wird von dem Parlament der Abgeordneten gewählt und ernennt die Senatoren. Diese lenken die Ge­schicke der 12 Westberliner Bezirke auf Lan­desebene und stellen die obersten Verwal­tungskörper des Stadtstaates Westberlin dar, der wiederum in den Verwaltungseinheiten der einzelnen Kommunen seine wichtigsten Gehilfen besitzt. Der Stadtstaat hat 2,3 Mil­lionen Einwohner, also mehr als die beiden Länder Württemberg-Hohenzollern und Süd­baden zusammen.

Die Funktion des Parlamentes, in der die SPD die Führung hat, ist insofern nicht so ausgeprägt wie etwa in Bonn, als das Par­teiensystem bei weitem nicht die Rolle spielt wie in den Parlamenten der Bundesrepublik. Die Schwierigkeit und die Größe der zu lösen­den Aufgaben lassen die Verfassung ziemlich in den Hintergrund treten und verlangen vom Bürgermeister, dem Landesvater, eine Wen­digkeit, Anpassungsfähigkeit an plötzlich auf­tretende Situationen und eine schnelle Ent­schlußkraft, die in einem rein parlamentari­schen System nicht entfaltet werden können.

Westberlin besitzt in Emst Reuter einen Landesvater, der in seiner Art unersetzbar und einzig ist. Er ist Autorität ohne jegliche Doktrin, ohne auch nur den leisesten Anhauch von diktatorischen Allüren, ganz Mann der kommunalen Praxis im Berliner Stil. Laut­heit und Phrase sind ihm fremd. Seine Poli­tik läßt sich in zwei Sätzen sagen: er glaubt, daß dasfreie 1 ' Berlin, dem ostzonalen Ber­lin in allen Teilen der Lebensbekundung, durch Idee und Tat überlegen ist, und er glaubt, daß Westberlin einmal wieder Hauptstadt des ge­einten Reiches sein wird. Als Oberhaupt des Stadtstaates hat er Sitz und Stimme im Bon­ner Bundesrat.

Seit Bonn in Berlin (Bundesallee) ein Mini­sterium für gesamtdeutsche Fragen eingerich­tet hat und in dem Bundesbevollmächtigten Vockel, einem tapferen Westfalen, einen Lan­desvogt neben den Landesvater gesetzt hat, arbeitet Reuter aufs engste mit dem Bund zusammen. Die wichtigste Aufgabe der Berli­ner Regierung besteht augenblicklich darin: den Stadtstaat in ein zwölftes Bundesland mit allen rechtlichen und verwaltungsmäßigen Fol­gen umzuwandeln. Die letzte Entscheidung darüber liegt beim Bonner Parlament.

Was eine solche Eingliederung für den Bund bedeutet, wissen wir alle! Nicht nur vom Not­opfer her, das wir auf jeden Brief und jede Postkarte aufkleben, wir können es uns auch leicht zusammenreimen, daß Berlin aus eige­ner Kraft niemals gehalten werden kann, daß ihm wie bisher ein Mehr an ERP-Krediten, ein Weniger an Steuern und eine Entlastung von gewissen Gesetzen zugebilligt werden

muß. Berlin ist durch die unselige Blockade die sich im übrigen jederzeit, wenn die So­wjets es wollen, wiederholen kann wirt­schaftlich weit hinter Westdeutschland zurück. Es hat heute einen Produktionsindex von 44 Prozent gegenüber 130 Prozent in West­deutschland. Gleichwohl steht heute die Pro­duktion der Stadt, warenmäßig ausgedrückt und in Beziehung gesetzt zu der Lieferung in westdeutsche Länder bereits auf dem Stand der Vorkriegszeit. Im Juni sind, wie der Bun­desbevollmächtigte mitteilte, nach dem Westen Waren im Werte von 170 Millionen Mark, also das Dreifache vom Januar 1950, geliefert wor­den. Dieser wertmäßigen Ausfuhr stehen 265 Millionen Einfuhr entgegen. Der Ausgleich zwischen Einfuhr und Ausfuhr erfolgt durch GARIOA- und ERP-Mittel.

Dennoch kennt heute Berlin zwei Probleme, die unlösbar sind. Die 300 000 Arbeitslosen bleiben deswegen eine konstante Größe, weil trotz allen Fortschritts in der Beschaffung von neuen Arbeitsplätzen jeden Monat 4000 bis 5000 Flüchtlinge aus dem Osten in die Stadt strömen und nach den Gesetzen desfreien Berlin aufgenommen werden müssen. Sie kom­men in Flüchtlingslager, werden dort kontrol­liert und zu unproduktiven Nostandsarbeiten verwendet, soweit solche Arbeiten nicht den normalen Arbeiter schädigen. Es gibt in Ber­lin Nähe des Anhalter Bahnhofs leider noch viele Bunkerlager, in denen junge Leute untätig sitzen und auf ihre Aufenthaltsbe­scheinigung, die die Alliierten ausstellen, war­ten müssen, denn bekantlich steht Berlin noch unter dem Viermächtestatut und hat noch nicht jene Freiheit der Selbstverwaltung wie die Bundesländer.

Das zweite unlösbare Problem wird durch die doppelte Währung offenkundig. Solange die D-Mark noch wesentlich teurer ist als die O-Mark (Kurs zurzeit 4,5), ist die Gefahr nicht zu bannen, daß die Währungen wie Devisen be­handelt werden und daß der Handel mit bil­ligeren Waren in einer der beiden Zonen zu empfindlichen Störungen führt. So haben zum Beispiel die Westberliner Bäcker und Metzger manches Klagelied zu singen, da viele West­berliner das zum Teil bessere Brot in der Ost­zone einkaufen, weil es dort billiger ist. Um­gekehrt sieht man an vielen Westberliner Lä­den Extrapreise für Ostmarkkunden ange­schrieben, da ein großer Teil von Waren überhaupt nur in Westberlin zu bekommen ist und die ostzonalen Schaufenster, was Qualität und Reichhaltigkeit der ausgelegten Waren anlangt, bei weitem nicht mit den West­berliner Geschäften konkurrieren können.

Dabei soll nicht verhehlt werden, daß der westliche Händler sich mit seiner besseren Währung viele Vorteile durch billigen Einkauf im Osten verschaffen kann, die er dann für seine Käufer im anderen Sektor ausnützt. Trotz Zollkontrolle an den wichtigsten Übergangs­straßen blüht der illegale Handel und mit ihm die immer leidige Spionage.

Zwischen West und Ost

Zwei Zonen zwei Welten. Nur eine fast imaginäre Grenze trennt sie voneinander. Wer nichts von Berlin weiß, läuft ungestört über sie hinweg, so als ob es das Selbstverständ­liche wäre statt grüner Polizei nun Blauhem­den zu sehen, statt den Wagen mit der Num­mer KB (Klamotten-Berlin sagt man im We­sten) nun denen mit der Nummer GB (Groß- Berlin sagt man im Osten) zu begegnen, frei­lich Wagen, die im Westen schon längst wegen Alters ausgeschieden sind, statt notdürftig wiederhergestellter wilhelminischer Fassaden und bunten Schaufenstern mit dem gesamten westdeutschen Warenkomfort nun mächtigen Eisenbetonbauten zu begegnen, den sogenann­ten HO (Handelsorganisation), in denen küm­merliche Auslagen verschwinden vor der Far- benprächtigkeit der Plakate und dem Fahnen­gala, mit dem alle HO über und über bedeckt sind.

Nun merkt auch der Analphabet, wo er sich befindet, was los ist. Väterchen Stalin schaut

ihm in allen möglichen rührenden Posen ins Gesicht, der ruhmreiche Freund aller Werktä­tigen, der an den Schläfen leicht ergraute On­kel aus dem guten Moskau hebt leicht be­schwörend den Finger, lächelt etwas ver­schmitzt und mahnt alle, die an ihm vorbei­wallen, den westlichen Kriegshetzern und Atombombenmördern nicht zu ' trauen, der freundlichen Einladung der friedliebenden So­wjets zu folgen und bei den kommenden Welt­jugendfestspielen in Ostberlin sich unter die Verteidiger des Weltfriedens zu mischen und an der Befreiung der Völker vom kapitalisti­schen Sklavenjoche mitzuarbeiten. Am Alex­anderplatz, dem Zentralort des Ostsektors, dreht sich der gesamte Rundverkehr um solche Stalinschilder, die wie Säulen dastehen und etwas verbergen, in das man nicht sieht.

Indessen hat sich der ostzonale Berliner be­reits daran gewöhnt wirtschaftlich auf doppel­tem Fuße zu leben. Mit 250 g Fleischmarken im Monat kauft er sich ein paar Würstchen

LEITSPRUCH

Immer werden wir unseren Blick nach dem Osten Berlins richten, und je besser wir unsere eigenen Dinge da, wo wir können, in Ordnung bringen, um so mehr werden wir den anderen Teil unserer Stadt, der noch unter dem Drude der Sowjets ausharren muß, die Hoffnung ge­ben, daß auch für ihn die Stunde der Befreiung kommt. Dies ist eine nationale Aufgabe im ech­ten, guten Sinn des Wortes .

Regierender Bürgermeister Ernst Reuter

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ganz billig. Reizen ihn aber die HO Gast­stätten seinen Hunger zu befriedigen, dann zahlt er ohne Marken das Dreifache für das­selbe Würstchen. Zur Festigung des Staates müssen Opfer gebracht werden, dafür gibt es für den Ostberliner auch nicht das komplizier­te Steuersystem des Westens. Der Staat holt sich drüben diktatorisch seinen Anteil durch die Freigabe des Lebensmittelmarktes. Alles, was keine Ruine mehr ist, Plakate und Fah­nen heraushängt, gehört dem Staate Wilhelm Piecks und seiner Funktionäre. Aber dies zu sagen, ist schon Hochverrat, es muß heißen, eg gehört der Allgemeinheit, denjenigen Werktä­tigen, die es mit ihrer Hände Arbeit erbaut haben. So ists dann richtig, wenn auch der mit solcher Ideologie beglückte Volksgenosse dabei nicht satt wird. Doch die Ideologie man täusche sich nicht, folgerichtig und unaus­weichlich eingetrommelt, wird zuletzt geglaubt Und offen gesagt, es dürfte kaum einem West­berliner gelingen, die Leute drüben zum Schimpfen zu bringen. Der Einwohner der Stadt, im Westen noch von jener fast sprich­wörtlichen Schnoddrigkeit, humorigen Eile und Geschäftigkeit, hat drüben bereits jene Gleich­gültigkeit und Passivität angenommen, die Kennzeichen des Asiatischen ist.

Man fügt sich in das neue System, man steht nicht einmal mehr mit Neidgefühlen vor den Kurfürstendamm-Leuchtreklamen und den vielen Firmenschildern freier Unternehmen, sondern verständigt sich mit dem Westberliner seinesgleichen, der, wenn er 400 DM verdient, sich vom ausgelegten Reichtum der westlichen Geschäftsstraßen kaum viel mehr kaufen kann als der Ostberliner in seinem HO, der von ihm ohne Bitternis mitLumpen-HO charakteri­siert wird, einfach deshalb, weil die Qualität drüben eben schlechter ist. Die Brennessel- und Holztextilien schmiegen sich nicht so ele­gant an den Leib wie die besser gewobenen Kammgarne, die der freie Westen im freien Spiel des Wettbewerbs auf den Markt bringt, Was bei uns in Westdeutschland Ende 1941 noch gang und gäbe war, ist in Ostberlin, grob ausgedrückt, heute 1951 die Standardware. Und was noch auffällt: die Uniform, in die etwa das Hitlerregime vom Pimpf bis zum gestan­denen Mann jeden halbwegs körpertüchtigen Deutschen gesteckt hat, ist mit oft verblüffen­den kleinen Veränderungen in der Ostzone beibehalten worden. Die Vopos (Volkspolizi­sten) haben die Achselklappen und Achsel­stücke der Nazi Wehrmacht, die FDJ läuft in den früheren Pimpfbekleidungen herum, die Arbeiter tragen Hennicke-Orden, Aktivisten­ehrenpreise am Revers und das Arbeiterhemd spielt etwa die Rolle der früheren SA-Bluse. Also hier sorgt der Staat tüchtig für die auch äußerliche Zurschaustellung der Ideologie eines Werktätigen-Staates.

Und in Zukunft?

Wer etwa mit dem Gedanken liebäugelt, dl« ostzonalen Berliner würden auf die Befreiung vom Westen her warten, dürfte sich, glauben wir, schwer getäuscht haben. Das Wissen, daß Westberlin trotz seiner Überlegenheit und Freiheit doch selbst nur eine Insel ist, gröber ausgedrückt ein Gefängnis und kaum viel bes­ser dran als der Ostsektor, lebt im Bewußt­sein vieler Deutscher in der Ostzone. Niemand weiß Rat, wie man sich etwa vom bolsche­wistischen System befreien könne und an ein Nachgeben der Russen denkt niemand, eher an eine Angleichung Westberlins an den Osten. Dann nämlich, wenn es den Alliierten gefallen sollte, die frühere Reichshauptstadt aufzu­geben.

Reuter und sein Sektor haben die schwie­rigste Zeit im Kampf um das freie Berlin hin­ter sich. Sie buchen die Blockade und das Zu­rückweichen der Russen als einen Sieg erster Ordnung, der sich in der Zukunft wiederholen kann.

Ihr Eifer um die Sache des freien Berlin* paart sich mit einem unerschütterlichen Opti­mismus. Auch sie leben von einer Ideologie, die ihre Nahrung erhält aus der Werbeenergie eines freiheitlich-demokratischen Gemeinwe­sens und aus der Tradition der Stadt, wie sie geworden ist. Doch hinter der östlichen Ideolo­gie steht die böse und heimtückische Macht de« Terrors und des Zwanges, hinter der Reuter* der Mut und das Risiko des freien Menschen und die Hilfe Westdeutschlands, die jedoch be­reits 160 km westlich der Stadt praktisch ihr Ende findet, wenn es darauf ankommen sollte, das deutsche Berlin durch Deutsche zu befreien und zu halten. Bleibt also alles zunächst macht­mäßig von der Verständigung abhängig, die zwischen den westlichen Alliierten und den Russen möglich ist. Verstehen sich die frühe­ren Partner an diesem wichtigsten deutschen Problem nicht mehr, dann hört Berlin auf ein« Zweiweltep- und Zweizonenstadt zu sein, e* fällt als erstes Opfer in einem Entweder-Oder- Konflikt. Denken wir daran, daß ein asiatisch­bolschewistisches Berlin das Vorzeichen wäre für eine endgültige Bolschewisierung der Bun­desrepublik.

Es ist wahrhaftig schwer für einen Süddeut­schen, der Doppelbödigkeit dieser Riesenstadt gerecht zu werden. Die Gemeinsamkeit ihrer Menschen ist vielleicht das Element, das ihre Zukunft trägt. Ist dem so, dann allerdings ver­schwindet mit dem System auch die Ideologie. Berlin wird wieder subtantiell, wie es ihr schwäbischer Denker am Kupfergraben ge­meint hat.