NUMMER 115
FREITAG, 2 7. JULI 1951
Bemerkungen zum Tage Der fetjte deutsche Kronprinz beigeseht
Auf der Stammburg der Hohenzollern / Ein Stück deutsche Geschichte ging zu Ende
Warnung oder Aktion ?
ht. Die massive Ankündigung des DGB, seine Mitarbeit in den Gremien der deutschen Wirtschaft einzustellen, falls die Bundesregierung in ihrer Haltung gegenüber den Gewerkschaften und in der Wirtschaftspolitik nicht einen radikalen Kurswechsel vornehme, hat die Ferienstimmung in Bonn unterbrochen. Die Bundesregierung — soweit sie nicht auf Urlaub ist — hat offensichtlich die vergangenen Kundgebungen des Unwillens der Gewerkschaften unterschätzt und wurde so völlig überrascht. Dem entspricht es auch, wenn die erste Regierungserklärung ein allgemein gehaltener Appell an den DGB zur Zusammenarbeit ist und Staatssekretär Dr. Lenz die „Hoffnung“ betonte, der DGB-Bundesausschuß werde den Beschluß des Vorstandes nicht bestätigen. Diese Hoffnung verkennt die tatsächliche Stimmung bei den Gewerkschaften, in der die Forderungen nach einer klaren Front gegenüber der Bundesregierung nicht so sehr vom Vorsitzenden Christian Fette, sondern von der breiten Führungsschicht und vor allem von den Gewerkschaften des Bergbaus und der Metallindustrievertreten werden. Im Bundesausschuß werden diese mit den bisherigen Kompromissen imzufriedenen Kräfte noch stärker zur Wirkung kommen als im Vorstand. Die Bundesregierung wird also über Appelle hinaus konkreter werden müssen, will sie verhindern, daß im August die Durchführung des Beschlusses des DGB-Vorstandes bestätigt wird und damit die Fronde der Gewerkschaften, _ die Bundeskanzler Adenauer bisher vermeiden konnte, eine Realität wird.
Kommt es jedoch soweit, dann wird die Bundesregierung vor der Notwendigkeit stehen, ihre Wirtschaftspolitik gegen den DGB durchsetzen zu müssen. Die damit verbundenen in- und ausländischen Auswirkungen dürfen nicht unterschätzt werden. Man braucht nur an die Weigerung der Gewerkschaften zu denken, in den Gremien des Schumanplans mitzuarbeiten und die gleichzeitige Drohung, die Ausdehnung des Mitbestimmungsrechts und die Erhöhung der Löhne unter Einsatz „aller gewerkschaftlichen Mittel“ durchsetzen zu wollen. Es gibt recht starke Kräfte im DGB, die meinen, es müßte mit den taktischen Drohungen Schluß gemacht werden und die Gewerkschaften müßten handeln, d. h. streiken. Eine Bagatellisierung der DGB-For- derungen durch Bonn müßte gerade diese Kräfte stärken und zur Bildung von Kampffronten führen, die wir uns bei unserer politischen und wirtschaftlichen Struktur einfach nicht erlauben können.
Entscheidung Mitte August
Sitzung des DGB-Bundesausschusses Drahtbericht unseres Bonner Büros BONN. Wie unsere Bonner Redaktion aus Kreisen des DGB-Vorstandes erfährt, wird der Bundesausschuß des DGB, der über die Empfehlungen des Vorstandes entscheiden soll, voraussichtlich Mitte August zusammentreten. Auf seiten der DGB wird mit Nachdruck bestritten, daß die Ankündigung der Einstellung der Mitarbeit in den Gremien der deutschen Wirtschaft nur ein „taktisches Manöver“ sei. Die Einstimmigkeit bei dem Vorstandsbeschluß zeige, so betonen diese Kreise, daß sich die Führung des DGB völlig einig sei.
„Wir haben uns bis jetzt um eine Zusammenarbeit mit der Bundesregierung und mit allen Seiten der deutschen Wirtschaft bemüht, aber man hat letztlich nichts anderes versucht, als uns zu überfahren und die Berücksichtigung lediglich anzukündigen. So kann es nicht weitergehen. Mitbestimmungsrecht, Neuordnung in der Kohlewirtschaft, Neugliederung der Kerngesellschaften bei Eisen und Stahl und die Steigerung des Reallohnes, das sind Probleme, die der DGB bei tatsächlicher Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf der Gegenseite gemeinsam lösen kann.“ Diese Worte eines Gewerkschaftsfunktionärs werden auch in Kreisen des DGB in Düsseldorf bestätigt.
HECHINGEN. (Eig. Bericht.) Jäger bliesen ein letztes Halali, als „Seine Kaiserliche und Königliche Hoheit, der Kronprinz des Deutschen Reiches und von Preußen“ am Donnerstagmittag auf der Stammburg in der vor wenigen Monaten geschaffenen Hohenzollerngruft gleichzeitig mit seinem vor einem Jahr in Afrika verstorbenen Sohn, Prinz Hubertus, beigesetzt wurde. Zuvor fand im Grafensaal ein schlichter Trauergottesdienst statt. Pfarrer Macholz, Hechingen, hob in seiner Trauerrede hervor, daß mit dem letzten deutschen Kronprinzen ein Stück deutsche Geschichte zu Ende gegangen sei. Unter den Klängen des Hohenfriedberger Marsches brachten hohenzollerische Jäger den Sarg zur letzten Ruhestätte. Am Grabe spielte die Kapelle des Hüttenwerks Laucherthal das Lied vom „Guten Kameraden“.
An den Trauerfeierlichkeiten nahm die Mehrzahl der Mitglieder des Hohenzollemhau- ses teil. Zu ihnen gesellten sich in großer Zahl Angehörige früherer Herrscherhäuser und des Hochadels. In ihrer ganzen 900jährigen Geschichte hat die Burg Hohenzollern niemals eine so große Zahl durch Stand oder Geburt hervorragende Persönlichkeiten gesehen.
Im Grafensaal, im inneren Burghof und auf dem Weg zur Gruft reihten sich die Kränze, die aus allen Teilen Deutschlands und aus dem Ausland eingetroffen waren. Hinter dem Sarg ging die Witwe des Verstorbenen, Kronprinzessin Cecilie, am Arme des ältesten Sohns, Prinz Louis Ferdinand. In dem langen Trauerzug sah man außer den Mitgliedern des Hauses Hohenzollern, Vertreter des hohen und niederen Adels. Aus Madrid war Großfürst Wladimir von Rußland, der Schwager
des Prinzen Louis Ferdinand, gekommen. Auch v. Papen befand sich unter den Trauergästen.
Ausländische Herrscherhäuser waren nicht anwesend, doch lagen von nahezu allen Be- leidstelegramme vor. Aus allen Teilen der Welt gingen über 600 Telegramme ein, unübersehbar die Zahl der Kränze.
Die Bundesregierung war durch Bundesminister Wildermuth, das Land Würt- temberg-Hohenzollern durch Landwirtschaftsminister Dr. Weiß, die Universität Tübingen durch ihren Rektor Prof. Thielicke vertreten.
London ist vorsichtig
TEHERAN. London geht an das neue persische Verhandlungsangebot, mit dem die im Juni abgebrochenen Teheraner Gespräche wieder angeknüpft werden sollen, mit Vorsicht heran. Ein Sprecher der britischen Botschaft in Teheran sagte am Mittwoch, Persien soll« erst einmal seine neue Verhandlungsbereitschaft durch einen Beweis guten Willens erhärten und seine Einmischung in den Ölproduktionsbetrieb bremsen. Zudem sei das persische Angebot sehr kurz und allgemein gehalten. Es heißt in Teheran, daß Präsident Trumans Sonderbotschafter Harriman, dessen zehntägigen Bemühungen die persisch« Verhandlungsbereitschaft zu danken ist, sich zum Abflug nach London bereit hält, um sich notfalls dort einzuschalten.
Umstrittene Schulgeldfreiheit
Scharfer Angriff der CDU auf den Gesetzentwurf im Stuttgarter Landtag
th. STUTTGART. Bei der Beratung des Etats der Kultverwaltung im Landtag von Württemberg-Baden ist es zu einer heftigen Diskussion über die Einführung der Schulgeld- und Lernmittelfreiheit gekommen. Dem Landtag liegt ein entsprechender Gesetzentwurf der Regierung vor.
Die CDU als Oppositionspartei griff durch ihren Sprecher, Abg. Simpf endörf er,die Politik des sozialdemokratischen Kultministers Dr. Schenkel in ungewöhnlich heftiger Form an: Die derzeitige Kulturpolitik des Staates lasse jede große Linie vermissen, sie sei ein „Konglomerat von Gefälligkeiten und und Restbeständen eines antiquierten Parteiprogramms“. Für eine innere Konzeption des unbedingt notwendigen Neuaufbaus des Schulwesens seien keinerlei Anzeichen vorhanden. Aus Mangel an konstruktiven Ideen sei das Gesetz über die Schulgeld- und Lernmittel-
Kleine Weltdironik
MÜNCHEN. Das bayerische Hauptmünzamt fertigt zurzeit im Auftrag des Bundesfinanzministeriums die Urmatrize für das neue Fünf-Mark- Stück nach dem preisgekrönten Entwurf von Prof. Holl, Schwäb. Gmünd. Es steht noch nicht fest, wann die Arbeiten an der Urmatrize beendet sein werden.
BONN. Bundesfinanzminister Schaffer teilte am Mittwoch mit, daß die Regierung vorläufig keine Erhöhung der Kinderzuschläge für Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes gewähren könne.
GÖTTINGEN. Polizeibeamte durchsuchten am Mittwoch in Göttingen mehrere Gastwirtschaften, in denen Korporationsstudenten verkehren und nahmen Hausdurchsuchungen bei Korporationsstudenten vor. Die Durchsuchung wurde vom niedersächsischen Innenminister angeordnet, da der Verdacht besteht, daß einzelne Studenten gegen das Verbot des Zweikampfes mit scharfen Waffen verstoßen haben.
WEIDEN. In der Tschechoslowakei leben nach vorsichtigen Schätzungen noch rund 180 000 Sudetendeutsche. Wie der deutsche Grenzbeauftragte für das Flüchtlingswesen in Fürth i. Wald, Keller, mitteilte, will sich etwa ein Drittel davon in die Bundesrepublik umsiedeln lassen.
BERLIN. Der kommunistische FDGB, dessen gewerkschaftliche Tätigkeit in Westberlin bisher nicht verboten wurde, hat bei den diesjährigen Betriebsrätewahlen eine entscheidende Niederlage erlitten. Im Endergebnis dürfte er in ganz Westberlin nur etwa vierzig Betriebsräte stellen, während es im Vorjahr noch 95 waren.
PARIS. Die Wirtschaftskommission des Europarates hat am Mittwoch nach einer zweitägigen Sitzung in Paris den Plan für die Errichtung eines europäischen Verkehrsamtes gebilligt. Dieses Amt soll die Arbeitsbereiche der in Europa bereits bestehenden Verkehrsorganisationen koordinieren und der Straßburger Versammlung des Europarats Berichte über europäische Verkehrsfragen unterbreiten.
ILE D’YEU. Mehr als 7000 Menschen drängten sich am Mittwoch auf der kleinen Insel d'Yeu, um der Beisetzung Marschall Henri Philippe P6-
tains beizuwohnen, den am Montag im Alter von 95 Jahren der Tod von seiner fast sechsjährigen Festungshaft erlöste. Kriegsteilnehmerorganisationen des ersten Weltkrieges gaben mit ihren Abordnungen den Feierlichkeiten das Gepräge. In Paris versammelten sich zur gleichen Zeit etwa 500 Trauernde am Are de Triumphe und legten am Grabmal des Unbekannten Soldaten Kränze mit der Inschrift: „Pötain, der Retter Frankreichs“ nieder.
STOCKHOLM. Als erste Großstadt der Welt wird'Stockholm im Herbst dieses Jahres mit dem Bau von drei großen atombombensicheren Schutzräumen für die Zivilbevölkerung beginnen. Die Schutzräume, die 25 000 Personen Obdach gewähren, sollen in den Granitboden gesprengt werden und können mit einer Decke von 10 m Dicke auch gegen Atombombenvolltreffer absoluten Schutz bieten.
HELSINKI. Der neue finnische Reichstag wählte am Mittwoch wieder den Sozialdemokraten K. A. Fagerholm zum Präsidenten. Erster Vizepräsident wurde der Bauernparteiler Kalliokoski.
HAIFA. Die israelitische Regierung bereitet zurzeit ein Gesetz vor, daß die von der ehemaligen palästinensischen Mandatsregierung gewährten Konzessionen in den Ölraffinerien von Haifa für ungültig erklären soll. Das Gesetz würde vor allem die Briten und hier wieder die anglo-ira- nische Ölgesellschaft treffen, die Haupteigentümer der Raffinerien ist.
NEU DELHI. Der indische Ministerpräsident Nehru teilte dem pakistanischen Ministerpräsidenten Liaquat Ali Khan mit, daß Indien gegenüber Pakistan keinerlei aggressive Absichten habe. Beide Länder sollten einander Garantieerklärungen abgeben, daß sie nicht zum Kriege schreiten wollen.
WASHINGTON. Der Außenpolitische Ausschuß des USA-Senats wird sich nach Mitteilung seines Vorsitzenden, Senators Tom Connally, in dieser Woche mit Anträgen befassen, in denen Vergeltungsmaßnahmen gegen die Tschechoslowakei wegen der Verurteilung des AP-Korrespondenten William Oatis gefordert werden.
freiheit und über Erziehungsbeihilfen als „parteipolitisches Paradepferd“ zusammengestoppelt worden. Dies sei die offenkundige Bankrotterklärung aller Schulreformversuche. Di« für diesen Zweck im Etat vorgesehenen 20 000 D-Mark könne man nur als „Begräbniskosten“ bezeichnen. Simpfendörfer erklärte, daß zunächst die chaotischen Zustände in der räumlichen Unterbringung der Schulen aufhören müßten, ehe Schulgeld- und Lernmittelfreiheit gewährt werde. Im übrigen werde da» Gesetz ohnehin nur auf dem Papier stehen, da die Gemeinden nicht im Stande seien, dl« ihnen aus der Lernmittelfreiheit erstehenden Lasten zu tragen.
Die SPD und DVP als Regierungsparteien warfen Simpfendörfer vor, daß er sich mit seinen Ausführungen gegen die Verfassung gestellt habe, da in ihr die Schulgeld- und Lernmittelfreiheit ausdrücklich verankert sei Der „Sturm auf die höheren Schulen“, den Simpfendörfer befürchte, sei ein Zeichen dafür, daß diese Schulen bisher den Reichen Vorbehalten gewesen seien. Die CDU wolle die veralteten Standesunterschiede aufrechterhalten.
Kultminister Schenkel bedauerte die Differenzen über die Schulreform. Die volle Schulgeld- und Lernmittelfreiheit lasse sich nach dem vorliegenden Gesetzentwurf innerhalb von fünf Jahren erreichen. Der Gesetzentwurf wurde dem Finanzausschuß überwiesen.
In der Debatte wurde auch das studentisch« Korporationswesen zur Sprache gebracht. Di« CDU sprach sich für die farbentragenden Studentenverbindungen aus; die anderen Fraktionen lehnten das Korporationswesen ab. Der Sprecher der Deutschen Gemeinschaft, BHE, bemerkte, eine zu große Bevormundung der Studenten, die nach neuen Gesellschaftsformen suchten, löse eine negative Reaktion der Studentenschaft aus.
Neue jordanische Regierung
Talal nicht geflohen
DAMASKUS. Der ehemalige jordanische Ministerpräsident Abul Huda hat am Mittwoch ein neues Kabinett gebildet, nachdem am Vormittag das alte Kabinett unter Samir «1 R i f a i zurückgetreten war. Die Berufung Abul Hudas durch den Regenten, Emir N a i f, stellt nach Ansicht politischer Beobachter eine versöhnliche Geste gegenüber den palästinensischen Arabern dar, die über 60 Prozent der Bevölkerung Jordaniens ausmachen.
Pressemeldungen, daß der rechtmäßige jordanische Thronfolger, Emir Talal, aus einem Schweizer Sanatorium entwichen sei, sind gestern vom britischen Generalkonsul in Genf, J. V. Barrett, formell dementiert worden. Auch alle angeblichen Interviews mit dem Emir nach dem Tode seines Vaters Abdullah seien freie Erfindung. Der Emir werde zu gegebener Zeit eine Erklärung abgeben, aber wahrscheinlich über die jordanische Regierung oder die jordanische Gesandtschaft in London.
EITERES J)PIEL
IM NECKARTAL
Ein fr öhlicher Roman von Eise jung
8] Copyright by Verlag Bechthold
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Die Probefahrt fiel zur Zufriedenheit aus. Ein Conti-Atlas war auch erstanden worden, und Thilo saß in einem blütenweißen Hemd auf dem Balkon seines möblierten Zimmers und legte den Reiseweg fest.
Berlin — Dresden — Nürnberg — Stuttgart.
Von dort nach Pforzheim.
In Pforzheim gab es die großen Fabriken der Schmuckindustrie. Man könnte dort einmal Umschau halten und naehfragen, ob man für einen jungen, begabten Künstler Verwendung habe.
Halt!
Bei Dresden lag Meißen mit seiner berühmten Porzellanmanufaktur.
Ein Mann, der eben für den Entwurf des schönsten Teegeschirrs den ersten Preis erhalten hatte, durfte an allem, was mit Porzellan zusammenhing, nicht achtlos vorüberfahren.
In Bamberg waren die .Fränkischen Kunstwerkstätten" von Scheidei & Sohn, die künstlerisches Hausgerät herstellten, und tn Stuttgart befand sich die Firma Robert Schrenck, Weberei und Teppichwirkerei.
Thilo holte eine Mappe mit Zeichnungen aus dem Kleiderschrank. Sie enthielt die fleißige Arbeit vieler freier Abendstunden, sauber ausgeführte Entwürfe aller Art: Tapetenmuster und Schablonen, Jacquardmuster für Decken, Kissen, Wandbehänge und Damaste; Schmuckfassungen für Ringe, Broschen und Anhänger; Porzellan- und Tongeschirrmalereien; Bucheinbände und Buchschmuck, In
tarsien für Möbel, Truhen und Kästchen. Es gab nichts, worin sich Thilos Phantasie und Können nicht versucht hätten, und das Vorhandene war so reichhaltig, daß er die Entwürfe jeder Branche in eine eigene Mappe ordnen konnte, was er für notwendig und ratsam hielt.
Er stürzte auf die Straße hinunter, kaufte im nächsten Papiergeschäft ein halbes Dutzend Aktendeckel, beschriftete sie und tat die Blätter getrennt hinein. Alle zusammen verstaute er in eine große Ledertasche und kam sich vor wie ein Reisender mit einer Musterkollektion.
Es wäre ja gelacht, wenn er mit solcher Auswahl, die von seinem Talent ein so beredtes Zeugnis ablegte, nicht bald zu einer neuen Stellung käme!
Nur von den Tapeten wollte er nichts mehr wissen, und deshalb blieb die Mappe mit den Tapetenmustem zu Hause.
Am 25. Juni brachte der Geldbriefträger die fünfhundert Mark.
Noch ein kurzer Besuch bei Isa, die gerade dabei war, dem Affen Rumba die Zähne zu putzen, und die Fahrt ins Blaue nahm ihren Anfang.
Der Silbergraue startete.
Isa stand im grauen, tonbespritzten Arbeitskittel auf dem Trittbrett und benutzte die letzten Minuten zu ausgiebigen und liebevoll besorgten Ermahnungen, die mehr ihrem Silbergrauen als dem Bruder galten.
„Bring ihn lebend heim, Thilo!“ sagte sie mit Nachdruck und sprang mit einem quieksenden Schrei auf die Bordschwelle zurück, als der Wagen anruckte. Was diesem Schrei an empörten Rufen noch folgte, hörte Thilo nicht mehr. Der Silbergraue brauste über Schöneberg und Tempelhof aus dem Häusergewirr Groß-Berlins in südlicher Richtung hinaus in die Weite.
In Meißen brauchte man keinen Zeichner und Porzellanmaler. Die Leute waren sehr höflich gewesen, aber Thilos Mappe hatte
ihnen scheinbar wenig Eindruck gemacht oder die Versicherung, daß sie zu ihrem Leidwesen keinen freien Platz zu vergeben hätten, beruhte auf Wahrheit
Thilo entschloß sich, das letztere zu glauben. Das war er schon seinem Selbstbewußtsein schuldig, das sich am Beginn seiner Reise noch in einem gewissen Zustand von Unüber- trefflichkeit befand. Es erlitt auch keine Schlappe, als er von Dresden aus einen Abstecher nach Leipzig machte und bei verschiedenen großen Verlagsanstalten seine Entwürfe für künstlerischen Buchschmuck vorlegte.
Auch hier wiederum höfliches Bedauern: Die Aufträge seien bereits in festen Händen. Es könne jedoch sein, daß man sich bei Gelegenheit an Herrn Falck erinnern werde.
Thilo ließ seine Anschrift da, fuhr nach Bamberg und besuchte die „Fränkischen Kunstwerkstätten“.
Herr Scheidei senior war im Urlaub, und Herr Scheidei junior schüttelte nur den Kopf, als er Thilos Zeichnungen sah.
„Haben Sie in der Holzbranche schon einmal praktisch gearbeitet?“ fragte er.
Es war peinlich, antworten zu müssen, daß dazu leider noch wenig Gelegenheit gewesen sei.
„Man sieht es“, sagte Herr Scheidei kurz und schob die ausgebreiteten Blätter zusammen.
Etwas kleiner geworden, schlich Thilo über den Fabrikhof, hörte das metallische Singen von Sägen, schnupperte Holz- und Leimgeruch und tröstete sich damit, daß er diese Geräusche und Gerüche auf die Dauer doch nicht ertragen hätte.
Es mußte an der Jahreszeit liegen, die es einem fristlos entlassenen jungen Manne so schwer machte, eine neue Stellung zu finden. Entweder waren die maßgebenden Herren schon mit Ferien- und Reisegedanken beschäftigt, oder die sommerliche Hitze lähmte ihnen Entschlußkraft und Wagemut. Es fand sich nie
mand, der sich die künstlerischen Fähigkeiten eines Thilo Falck für sein Unternehmen sichern wollte, und von den meisten, die Thilo aufgesucht hatte, nahm er den Eindruck mit, daß sie sein umfassendes Talent kaum zu würdigen verstanden hatten.
Nur Herr Robert Schrenk in Stuttgart, der Leiter der großen Weberei und Teppichfabrik, hatte die Mappe mit den Jacquardmustern sehr eingehend und aufmerksam betrachtet und ein anerkennendes: „Nicht übel!“ gemurmelt.
Thilos gesunkenes Selbstbewußtsein war auf der Leiter der Hoffnungen sogleich wieder ein paar Sprossen höher geklettert, um im nächsten Augenblick zerschmettert auf der untersten Stufe zu landen, als Herr Schrenck die Mappe zuklappte und sagte:
„Sehr schade. Wären Sie zwei Monate früher zu mir gekommen, hätte ich Sie einstellen können. Oder sind Sie Jacquardweber, Herr Falck?“
Thilo schüttelte beklommen den Kopf.
„Nur Zeichner, Herr Schrenck — leider.“
Herr Schrenck meinte zwar, dafür, daß er kein Webfachmann sei, wären seine Entwürfe außerordentlich beachtenswert, aber wenn er Herrn Falck einen guten Rat geben dürfe, dann möchte er ihm empfehlen, bei der Tapetenbranche zu bleiben.
Das hätte nicht kommen sollen!
Schon das Wort „Tapeten“ wirkte wie ein kalter Guß. Thilo erschauerte, klemmte sein« Mappe unter den Arm und verabschiedete sich.
Stuttgart wäre eine schöne Stadt. Im Frühling und im Herbst mochte sie sogar paradiesisch schön sein, aber im Sommer glich sie einem Treibhaus. Thilos Körper dampfte, al* er den Silbergrauen durch die Straßen steuerte, etwas ziellos, wie es den Anschein hatte, denn auch die Gedanken des I^enkers pendelten ziellos hin und her. Sie schwankten zwischen zorniger Auflehnung und peinigenden Minderwertigkeitsgefühlen. (Forts folgt)